Die subjektive Sicht des Autors auf das Thema. Niemand muss diese Meinung übernehmen, aber sie kann zum Nachdenken anregen.
Was Meinungen von Nachrichten unterscheidet.Tagesanbruch Es muss jetzt schnell gehen

Guten Morgen, liebe Leserin, lieber Leser,
heute möchte ich mal kurz mit Ihnen innehalten. Denn in diesen schnelllebigen Tagen droht man ja, den Überblick zu verlieren. Drei Wochen ist es her, dass Deutschland gewählt hat. Drei Wochen, in denen Union und SPD im Schweinsgalopp erst sondiert, dann Koalitionsgespräche aufgenommen haben – in einer Woche sollen sie schon zu Ergebnissen führen. In dieser Zeit wurde um drei Grundgesetzänderungen gerungen, um Milliardenschulden für Verteidigung und die Modernisierung des Staates. Am Dienstag wird der bisherige Bundestag darüber abstimmen, am Freitag der Bundesrat. Auf den letzten Drücker ist es gelungen, die für eine Zweidrittelmehrheit notwendigen Stimmen der Grünen dafür zu gewinnen.
Warum dieses Tempo? Weil Donald Trumps Wahlsieg in den USA die Weltlage dramatisch verändert hat. Aber nicht nur deshalb. Denn was in den USA passiert – die Spaltung der Gesellschaft, die Frustration über einen Staat, in dem sich zu viele nicht mehr von den etablierten Parteien repräsentiert fühlen, das schwindende Vertrauen in die Reformfähigkeit der Verantwortlichen –, all das erleben wir auch in Deutschland.
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Deswegen muss es jetzt schnell gehen. Denn die notwendigen Reformen werden nicht allein aus dem Haushalt zu stemmen sein. Gleichzeitig gibt es wie in den USA auch hier eine Kraft, die auf demokratischem Weg die Demokratie von innen heraus zerstören will. Doch obwohl das offensichtlich ist und so viele Mitglieder dieser Partei das auch offen zugeben, wählt jeder Fünfte in Gesamtdeutschland, mehr als jeder Dritte in Ostdeutschland, die AfD.
Warum? Meine Kollegen Carsten Janz und John Hufnagel sind auf der Suche nach Antworten ins Altenburger Land in Thüringen gefahren. 43,4 Prozent stimmten dort für die AfD. Drei Tage lang haben sie in der Kreisstadt Altenburg und Umgebung mit Menschen gesprochen, die die Partei gewählt haben, aber auch mit jenen, die sich deshalb sorgen. Herausgekommen ist ein spannender und erhellender Video-Bericht. Sie sollten sich unbedingt Zeit nehmen, ihn anzuschauen. Sie finden ihn hier.
Drei unbequeme Wahrheiten lassen sich daraus ableiten:
1. Der Frustration liegt ein wahrer Kern zugrunde.
Die drei Ampeljahre waren ein Konjunkturprogramm für die AfD. Unabhängig davon, wen sie gewählt haben, sind die meisten Menschen in Altenburg von der abgewählten Regierung enttäuscht. Der Dauerstreit überstrahlte Erfolge und legte die Regierung zunehmend lahm. Bei den Menschen kam an: Wir streiten lieber, als dass wir notwendige Reformen in der Wirtschafts- oder Migrationspolitik anpacken. Dadurch ist das Vertrauen geschwunden, dass die etablierten Parteien die Probleme des Landes lösen können. Das Scheitern der Ampel steht sinnbildlich dafür.
Darum ist es jetzt so wichtig, dass es schnell geht. Die wahrscheinliche schwarz-rote Koalition muss beweisen, dass sie geschlossen handeln kann, notwendige Reformen wirklich angeht und Probleme löst.
Doch das muss sie ehrlicher tun. Wenn Friedrich Merz sich im Wahlkampf hinstellt und leugnet, dass für Verteidigung und Infrastruktur neue Schulden notwendig seien, er aber schon wenige Tage nach der Wahl das Gegenteil behauptet, kostet das Glaubwürdigkeit. Macht der Kanzler in spe so weiter, wird auch er zum Wahlhelfer der AfD.
2. Gefühle dominieren.
Eine Passantin sagte unseren Reportern: "Wir werden immer die Unterschicht sein", ein anderer meinte: "Für Ostdeutschland ist kein Geld da." Und: "Es passiert hier nichts." Bei vielen herrscht offenbar eine Art Minderwertigkeitsgefühl vor, der Eindruck, abgehängt und "Opfer" zu sein, dominiert, wie Hendrik Läbe, der Bürgermeister von Altenburgs Nachbarort Nobitz, sagt. Beides sind offensichtlich auch unaufgearbeitete Folgen der Wiedervereinigung, bei der wahrlich nicht alles gut verlief.
Dass dies aber mehr gefühlte Wahrheiten denn objektive sind, belegen nicht nur die Millionensummen, die auch ins Altenburger Land geflossen sind. Auch wirtschaftlich, im Arbeitsmarkt und bei der Lebensqualität hat das Altenburger Land in einem bundesweiten Dynamikvergleich des Instituts der deutschen Wirtschaft Consult den größten Sprung nach vorn gemacht: Von 400 Regionen landete es bundesweit auf Platz 116, bei der Lebensqualität sogar auf Platz 40. Eine Altenburger Rentnerin formulierte es so: "Es geht ja niemandem, wenn man ehrlich ist, so schlecht."
Wobei das nicht heißen soll, dass es keine Probleme gibt. Viele Junge ziehen weg, die Bevölkerung überaltert, es fehlen Fachkräfte, das Leben ist zunehmend teuer geworden. Nur rechtfertigt das nicht den Eindruck, die "Unterschicht der Republik" zu sein. Offenbar gibt es gerade im Osten starke Ängste vor Verlust. Auch das ist verständlich vor dem Hintergrund des Systemsturzes vor 36 Jahren. Niemand bedient diese Ängste so gut wie die AfD. Auch die Angst vor Migranten. Dabei leben im Altenburger Land gerade einmal 374 Geflüchtete auf fast 90.000 Einwohner.
Den gefühlten Wahrheiten muss deshalb viel konsequenter begegnet werden, auch von uns Medien: mit Zahlen und Beispielen, die zeigen, was gut läuft. Und mit einer Politik, die Ängste ernst nimmt und tatsächliche Probleme nicht ignoriert, sondern löst. Gefragt ist da jeder – nicht nur die Politik.
3. Die AfD wird unterschätzt.
Viele Menschen in Altenburg sagten unseren Reportern: "Lasst die AfD doch einfach mal machen und zeigen, ob sie es kann." Die Brandmauer müsse weg, der demokratische Wille werde ignoriert, wenn die Schwarzen mit den Blauen nicht wenigstens sprächen. Doch ist das so?
Tatsächlich hat die Union vor der Wahl stets klargemacht: Mit der AfD werde es keine Zusammenarbeit geben. Viele Wähler vertrauten darauf, auch deshalb ist sie stärkste Kraft geworden. Würde Friedrich Merz nun mit der AfD sprechen, wäre das ein weiterer Wortbruch, das müssten auch AfD-Wähler anerkennen, wenn sie ehrlich wären.
Ich frage mich zudem: Sind sich diejenigen, die die AfD aus Frust über die Altparteien gewählt haben, wirklich im Klaren darüber, welche Politik die Partei für Deutschland will? Und was das für sie persönlich bedeuten würde? Von ihren Steuerprogrammen würden vor allem Besserverdiener profitieren, die deutsche Wirtschaft dagegen bekäme auf ihrem größten Absatzmarkt, der Europäischen Union, massive Probleme, denn aus der EU will die AfD austreten, den Euro zudem abschaffen.
Was AfD-Wähler aber tatsächlich verkennen, ist die Gefahr, die von der Partei für die Demokratie ausgeht. Denn auch wenn sie demokratisch gewählt ist, heißt das noch lange nicht, dass sie auch demokratische Werte vertritt. Dass eine undemokratische Kraft auf demokratischem Wege an die Macht kommen kann, das beweist gerade Donald Trump. Systematisch schleift er die Kontrollinstanzen der US-Demokratie, beschneidet nicht nur die Pressefreiheit und diskreditiert Gerichte, sondern auch die Zuständigkeiten des Parlaments. Er regiert mit Angst und Hass.
AfD-Wähler müssen sich daher klar sein: Sie spielen mit dem Feuer. Ich weiß, diese Warnung schreckt sie nicht ab. Viele wollen nicht sehen, was die Partei wirklich plant, halten Berichte wie die meiner Kollegin Annika Leister, die die AfD so gut kennt wie nur wenige andere Journalisten im Land, für überzogen. Umso wichtiger ist jetzt: Dass die neue Regierung beweist, dass sie das Land fit für die Zukunft machen kann.
Aber wirksame Politik allein wird nicht reichen. Es braucht auch mündige Bürgerinnen und Bürger, die sich nicht von Lügen und falschen Versprechungen verführen lassen, sondern mit offenen Augen die Erfolge genauso wie die Fehler der Politik sehen. Demokratie ist keine Einbahnstraße.
Ohrenschmaus
Es gibt keinen besseren Song fürs gemeinsame Anpacken als diesen hier von Geier Sturzflug.
Showdown in Bayern?
Im Bundestag scheint die Zweidrittelmehrheit für das schwarz-rote Finanzpaket gesichert, nachdem die Grünen noch einiges hineinverhandeln konnten. Es sei denn, die Fraktionen der Unionsparteien, von SPD und Grünen bekommen ihre Reihen nicht geschlossen. Heikel könnte es zudem am Freitag noch im Bundesrat werden, der ebenfalls mit Zweidrittelmehrheit zustimmen muss.
Ausgerechnet Bayern ist dabei ein unsicherer Kandidat. Denn die Freien Wähler wollen dem Schuldenpaket bislang nicht zustimmen. In einer Sondersitzung des Koalitionsausschusses von CSU und Freien Wählern muss CSU-Chef Markus Söder nun seinen Koalitionspartner Hubert Aiwanger überzeugen. Ein Druckmittel hat er: Ist Aiwanger nicht willig, könnte er die Koalition aufkündigen. Die bayerische SPD hat sich bereits als Ersatz angeboten.
Was steht sonst noch an?
Quertreiber Ungarn: Kurz vor dem EU-Außenministertreffen hat die Regierung von Viktor Orbán mal wieder für Streit gesorgt. Sie erzwang die Aufhebung von Sanktionen gegen mehrere russische Oligarchen. Daraufhin forderte Estland, ein Verfahren nach Artikel 7 des EU-Vertrags gegen Ungarn einzuleiten, um dem Land das Stimmrecht zu entziehen. In Brüssel soll es zudem um weitere Militärhilfen für die Ukraine, die Beziehungen der EU zu den USA, die Iran-Politik und die Lage im Nahen Osten gehen. Im Anschluss beginnt am Nachmittag eine Syrien-Konferenz, bei der weitere Unterstützung für die Menschen im Land sowie für syrische Geflüchtete im Ausland mobilisiert werden soll.
Einigung in Sicht: Bei den Tarifgesprächen für den öffentlichen Dienst hat sich am Sonntagabend in Potsdam Bewegung abgezeichnet. Die Arbeitnehmerseite habe neue Vorschläge gemacht, die in die richtige Richtung gingen, hieß es aus Kreisen der Arbeitgeber von Bund und Kommunen. Diese reichten allerdings nicht aus. Aus Gewerkschaftskreisen wurde bestätigt, dass es neue Vorschläge gebe. Diese würden nun beraten. Heute könnte es eine Einigung für die 2,5 Millionen Beschäftigten geben.
Wie entwickelt sich die deutsche Wirtschaft? In ihrer Prognose wirft die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) ab 11 Uhr auch einen Blick auf die deutsche Wirtschaft. Erst im Dezember hatte die OECD ihre Wachstumsprognose für das Jahr 2025 auf nur noch 0,7 nach unten korrigiert. Deutschland rangierte damit auf dem letzten Platz aller Industrienationen.
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Zum Schluss
Manchem mangelt es nicht nur an Umgangsformen ...
Ich wünsche Ihnen einen wunderbaren Start in die Woche. Morgen schreibt Ihnen mein Kollege Johannes Bebermeier.
Herzliche Grüße
Ihre Heike Vowinkel
Textchefin t-online
X: @HVowinkel
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Mit Material von dpa.