Die subjektive Sicht des Autors auf das Thema. Niemand muss diese Meinung übernehmen, aber sie kann zum Nachdenken anregen.
Was Meinungen von Nachrichten unterscheidet.Tagesanbruch Etwa 6.000 Euro pro Einwohner

Guten Morgen, liebe Leserin, lieber Leser,
stellen Sie sich vor, Sie hätten 6.000 Euro zur freien Verfügung, um Deutschland nach vorn zu bringen. Wohin würden Sie das Geld fließen lassen? In 16 Zentimeter neue Bahngleise, damit die Züge wieder pünktlich rollen? In 18 Quadratmeter neues Dach für die Schule Ihrer Kinder oder Enkel, damit es dort auch künftig nicht hineinregnet? Oder gönnen Sie das Geld einer Mutter und spendieren ihr gut einen halben Rentenpunkt zusätzlich für die Kindererziehung?
Etwa 6.000 Euro pro Einwohner – das ist umgerechnet, was 500 Milliarden Euro Sondervermögen für die Modernisierung des Landes bedeuten. Man könnte auch andere Vergleiche anstellen, um die Summe greifbarer zu machen, die gestern vom Bundestag genehmigt wurde: So könnte man mit dem Geld die Deutsche Bahn elfmal komplett sanieren, 80 Berliner Flughäfen errichten oder bis zu 50.000 frische Autobahn-Kilometer bauen. Sie könnten auch versuchen, jede Sekunde 1.000 Euro auszugeben. Allerdings müssten Sie dann mehr als 15 Jahre durchhalten, bis die 500 Milliarden aufgebraucht sind. Das scheint mir dann doch etwas anstrengend.
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Union und SPD haben hoffentlich sinnvollere Ideen für ihren so gut wie neu gewonnenen Reichtum. Vorausgesetzt, der Bundesrat gibt am Freitag ebenfalls sein Einverständnis für das historische Finanzpaket, steht die künftige Regierung nämlich vor derselben Frage wie Sie gerade beim Lesen des ersten Absatzes: Wohin mit dem ganzen Geld?
Sicher, der grobe Plan steht: Die 500 Milliarden Euro sollen die Infrastruktur auf Vordermann bringen und genutzt werden, um Deutschland bis 2045 klimaneutral zu machen. Außerdem gibt es ja noch den anderen Teil des Finanzpakets: faktisch unbegrenzte Ausgabemöglichkeiten für Verteidigung, Zivilschutz, Nachrichtendienste und Cybersicherheit, indem diese Bereiche von der Schuldenbremse ausgenommen sind. Doch was heißt das konkret? Und vor allem: Wird das Geld so eingesetzt, dass es auch nachhaltig etwas bringt, oder verursacht es am Ende nur mehr Kosten als Nutzen?
Zwei Gefahren scheinen zumindest halbwegs gebannt zu sein – dem Verhandlungsgeschick der Grünen sei Dank. Erstens, dass Projekte finanziert werden, die dem Klima schaden, und zweitens: dass Union und SPD die Gelder zweckentfremden und damit Wahlgeschenke wie die Mütterrente finanzieren. Denn erstmals wird nun die Formulierung "Klimaneutralität bis 2045" ins Grundgesetz geschrieben, außerdem das Wort "zusätzlich" vor "Investitionen". Erst wenn im normalen Bundeshaushalt zehn Prozent für Investitionen ausgegeben werden, soll weiteres Geld aus dem Sondervermögen kommen dürfen.
Nicht durchsetzen konnten sich die Grünen allerdings mit der Forderung, Verteidigungsausgaben erst ab einer Größenordnung von 1,5 statt 1,0 Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP) über Schulden zu finanzieren. Das ist bedauerlich. Denn vieles an Verteidigungsausgaben schafft keine Werte, die über lange Zeit genutzt werden können. Geld für Waffen, Munition oder Soldatengehälter gilt daher als sogenannte konsumtive Ausgabe – und nicht als Investition. Sie sollte deshalb auch nicht über Kredite, sondern aus Steuereinnahmen und damit aus dem normalen Bundeshaushalt finanziert werden. Andersherum sollten Investitionen in Infrastruktur sehr wohl über Schulden finanziert werden können, weil sie mehreren Generationen zugutekommen. Doch anders als bei der Verteidigung sind die Ausgaben gedeckelt.
Einige Ökonomen mahnen daher an, die Schuldenbremse grundlegend zu reformieren. So schlagen etwa Forscher am Leibniz-Zentrum für Europäische Wirtschaftsforschung (ZEW) in Mannheim vor, die erlaubte Kreditaufnahme in Höhe von 0,35 Prozent des BIP zu erhalten, Bund und Ländern aber zusätzlichen Spielraum zu geben, wenn sie etwa in Bildung, Forschung sowie Umwelt- und Klimaschutz investieren wollen. "Zukunftsausgaben", nennt das ZEW das.
Allerdings könne der Staat so viel investieren, wie er wolle – wenn man die Standortprobleme nicht löse, sei am Ende nichts gewonnen. Zu diesem Schluss kommt ein Forscherteam vom Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) in Berlin. Fünf wichtige Rahmenbedingungen müssen nach Ansicht der DIW-Ökonomen verbessert werden, damit auch private Investitionen angeregt werden: "analoge sowie digitale Infrastruktur, Bürokratie, Erhöhung des Erwerbspersonenpotenzials und innere Sicherheit".
So reiche es beispielsweise nicht, sich beim Bürokratieabbau darauf zu konzentrieren, Vorschriften und Berichtspflichten abzubauen. Die würden im Zweifel ohnehin eher noch zunehmen. Stattdessen sollte man sich ein Beispiel an den nordischen Ländern nehmen und die Behörden befähigen, effizienter mit den vielen Vorgaben umzugehen – indem man die Verwaltung endlich durchdigitalisiere und manche Arbeit von Künstlicher Intelligenz erledigen lasse.
Nicht zuletzt muss Deutschland die vielen Milliarden überhaupt auf die Straße bringen können. Denn ein volles Portemonnaie nützt nichts, wenn niemand da ist, der die Brücken baut, die Krankenhäuser saniert oder die Wärmenetze verlegt. Nach der emotionalen Debatte über schnellere Abschiebungen sollte die neue Regierung daher am echten Problem ansetzen: der schnelleren Zuwanderung von Fachkräften. "Das fängt bei der digitalisierten Visa-Vergabe an, geht über serviceorientiert geschulte Ausländerbehörden bis hin zur beschleunigten Anerkennung von Abschlüssen", so die DIW-Ökonomen.
In der Theorie scheint es der politischen Führung klar zu sein, worauf es jetzt ankommt. So sagte CDU-Vize Andreas Jung kürzlich im Deutschlandfunk: "Wir haben die verdammte Pflicht, es zusammenzubringen. Klimaneutralität, wirtschaftliche Stärke, soziale Akzeptanz, Nachhaltigkeit in der ganzen Breite. Nur dann erhalten wir die Akzeptanz, nur dann wird es zum Erfolg." Entscheidend sei, dass das, was gemacht wird, sinnvoll ist. Doch Jung ergänzte: "Darüber entscheidet die Koalition. Da gibt es keine Bindung."
Wenn das mal nicht noch zum Problem wird.
Ein Deal mit Ablaufdatum
Binnen 24 Stunden nach Amtsantritt – so schnell werde er den Krieg in der Ukraine beenden, hatte Donald Trump im Wahlkampf noch behauptet. Fast 60 Tage später ist das, wenig überraschend, noch nicht geschehen. Doch immerhin: Man redet. Rund zweieinhalb Stunden haben US-Präsident Trump und Russlands Präsident Wladimir Putin gestern telefoniert, um über ein mögliches Ende des Krieges zu sprechen. Eine generelle Waffenruhe sprang dabei nicht heraus. Putin erklärte sich nach Angaben des Kreml aber bereit, Angriffe auf die ukrainische Energieinfrastruktur für 30 Tage auszusetzen.
Für die Feuerpause stellte er jedoch eine Bedingung: Die westlichen Waffenlieferungen an die Ukraine müssten gestoppt werden. Beide Präsidenten seien außerdem übereingekommen, in Kontakt zu bleiben. Man wolle Arbeitsgruppen bilden, um ein Abkommen auszuarbeiten. Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj begrüßte Putins Bereitschaft, die Angriffe zu pausieren, bat die US-Regierung aber um mehr Details. Die Bedingungen für eine Waffenruhe zielten darauf ab, die Ukraine "so weit wie möglich zu schwächen", sagte Selenskyj. Das zeige einmal mehr, dass Putin nicht bereit sei, den Krieg zu beenden. Warum der in Aussicht gestellte Mini-Waffenstillstand für die Ukraine gefährlicher sein könnte als der Krieg selbst, kommentiert unser USA-Korrespondent Bastian Brauns.
Galaktische Störung im Betriebsablauf
Es ist eine Verspätung, bei der selbst die Deutsche Bahn nicht mithalten kann: Eigentlich hatten Suni Williams und Barry Wilmore nur wenige Tage an Bord der Internationalen Raumstation ISS bleiben sollen, wegen einer technischen Panne wurden daraus mehr als neun Monate. Seit gestern Abend deutscher Zeit sind die US-Astronauten nun endlich wieder zurück auf der Erde: Zusammen mit ihrem US-Kollegen Nick Hague und dem russischen Kosmonauten Alexander Gorbunow landeten Williams und Wilmore in einer "Crew Dragon"-Raumkapsel im Meer vor der Küste des US-Bundesstaats Florida.
Den Rekord für den längsten ISS-Aufenthalt knacken die beiden damit nicht. Der gehört weiterhin ihrem Kollegen Frank Rubio: Insgesamt 371 Tage verbrachte er auf der Raumstation – ebenfalls deutlich länger als gewollt. Ein Leck im Kühlsystem der Rückkehr-Kapsel bescherte ihm bis September 2023 rund sieben Monate zusätzliche Weltallzeit. Für den Körper ist ein so langer Aufenthalt in der Schwerelosigkeit übrigens gar nicht so leicht zu verkraften. Wie schwer die Rückkehr nach Monaten im All fällt, hat meine Kollegin Laura Helbig hier zusammengefasst.
Was steht an?
Nicht nur Deutschland rüstet auf: In Brüssel will die EU-Kommission heute ihre Strategie zur Zukunft der europäischen Verteidigung vorstellen. In dem sogenannten Weißbuch wird es unter anderem um mögliche Gemeinschaftsprojekte und die Finanzierung der geplanten Aufrüstung gehen. Die Kommission hatte bereits angekündigt, bei den EU-Schuldenregeln eine Ausnahme für Verteidigungsausgaben machen zu wollen.
Entscheidung im Fall Lina E.: Der Bundesgerichtshof verkündet, ob die Taten der mutmaßlichen Linksextremistin vom Oberlandesgericht Dresden korrekt bewertet wurden. Es hatte E. im Mai 2023 nach mehreren teils lebensgefährlichen Angriffen auf Rechtsextreme unter anderem wegen der Mitgliedschaft in einer kriminellen Vereinigung und gefährlicher Körperverletzung schuldig gesprochen. Das Urteil: Freiheitsstrafe von fünf Jahren und drei Monaten. Nach dem Dresdner Urteil hatte der BGH allerdings seine Rechtsprechung zur Mitgliedschaft in kriminellen Vereinigungen geändert.
Schwieriger Spagat: Die US-Notenbank Fed entscheidet über ihren weiteren Kurs in der Geldpolitik. Sie steht dabei vor der Herausforderung, einerseits den Konjunkturabschwung im Land aufzufangen, andererseits aber auch die steigende Inflationsgefahr einzudämmen. In der Regel bekämpfen Notenbanken eine Rezession mit sinkenden Zinsen, Inflation hingegen mit steigenden Zinsen. Experten rechnen noch nicht mit einer Änderung der Leitzinsen.
Ohrenschmaus
Deutschland will modernisiert werden. Hier wäre ein passender Soundtrack dazu.
Lesetipps
Die Kanzlerschaft scheint Friedrich Merz nach dem Bundestagsbeschluss zum Finanzpaket sicher zu sein. Doch die Kritik an ihm ist schon jetzt riesig – von allen Seiten, wie meine Kollegen Annika Leister, Florian Schmidt und Johannes Bebermeier berichten.
Nach mehr als 17 Jahren in den USA wird der Deutsche Fabian Schmidt nach einer Rückreise plötzlich festgenommen. Seither sitzt er in Abschiebehaft – und seine Mutter kämpft gegen Trumps Behörden, Hass und die Angst, selbst abgeschoben zu werden. Mein Kollege Bastian Brauns hat in den USA mit ihr gesprochen.
Donald Trump führt einen Handelskrieg gegen Kanada und spricht dem engen Verbündeten die nationale Souveränität ab. In der kanadischen Bevölkerung erregt das viel Ärger, berichtet mein Kollege Patrick Diekmann.
Zum Schluss
Ich wünsche Ihnen einen selbstbestimmten Tag! Morgen schreibt mein Kollege Philipp Michaelis für Sie.
Herzliche Grüße
Christine Holthoff
Finanzredakteurin
E-Mail: t-online-newsletter@stroeer.de
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Mit Material von dpa.