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Friedrich Merz und die Reform der Schuldenbremse: Jeder zählt Tag


Tagesanbruch
Die plötzliche Wandlung des Friedrich Merz

MeinungVon Florian Harms

Aktualisiert am 25.02.2025 - 07:05 UhrLesedauer: 6 Min.
Friedrich Merz braucht schnell viel Geld.Vergrößern des Bildes
Friedrich Merz braucht schnell viel Geld. (Quelle: Michael Kappeler/dpa)
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Es ist nicht bekannt, wie viel Kreide ein Mensch fressen kann, aber Friedrich Merz scheint den Rekord einstellen zu wollen. Im Wahlkampf schimpfte, wetterte und lederte er gegen SPD, Grüne und Linke, was das Zeug hielt, beschimpfte sie als "linke Spinner". Nun, nach seinem Wahlsieg, flötet er den politischen Gegnern, die plötzlich Verbündete werden könnten, Friedensbotschaften zu. Er wünsche sich eine starke SPD, die von links kommend in die Mitte der Gesellschaft integriere, säuselte der CDU-Chef gestern. Es sei jetzt womöglich die letzte Chance der demokratischen Parteien, die Probleme des Landes zu lösen.

Die plötzliche Wesensverwandlung des Kanzlerkandidaten hat taktische Gründe. Im Wahlkampf schloss er eine Zusammenarbeit mit SPD und Grünen bei finanziellen Großprojekten zunächst rundweg aus, äußerte sich später zweideutig, kniff auf Druck seiner Parteifreunde aber schließlich wieder und behauptete, mit ein paar Korrekturen am Bürgergeld könne man schnell genug Geld locker machen, um die dringendsten Investitionen zu stemmen. Dass das Kokolores war, wusste jeder, der bis drei zählen kann. Aber erst jetzt, nach der Bundestagswahl, beginnt Merz Klartext zu reden – und sucht unter Hochdruck Verbündete für einen großen Plan.

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Denn jetzt zählt jeder Tag. Weil auf die USA unter Donald Trump kein Verlass mehr ist, Kremlchef Putin erstarkt und die EU-Länder mit weiteren russischen Angriffen rechnen müssen, braucht die Bundeswehr schnell mehr Geld. Sehr viel mehr. Das Sondervermögen in Höhe von 100 Milliarden Euro ist bald aufgebraucht, spätestens ab 2028 braucht die Truppe mindestens 85 Milliarden Euro pro Jahr, 30 Milliarden mehr als heute: So lautete die Rechnung vor Trumps Wahlsieg.

Nun ist alles noch prekärer: Im Verteidigungsministerium geht man davon aus, dass mindestens drei Prozent des Bruttoinlandsprodukts nötig sind, um die Truppe auf Vordermann zu bringen – und zwar subito. "Da reden wir von etwas über 120 Milliarden Euro", rechnete Minister Boris Pistorius (SPD) kürzlich vor. Gestern Abend erneuerte er seine Forderung. Von solchen Summen ist die Bundeswehr meilenweit entfernt.

Die Lage verschärft sich Tag für Tag. Gestern kündigte Trump baldige Gespräche mit Putin über eine "umfassende wirtschaftliche Kooperation" an: Der mächtigste Regierungschef des Westens verbündet sich mit dem gefährlichsten Aggressor in Europa. Dass Putins Interessensbekundungen an einem dauerhaften Friedensschluss aufrichtig sind, muss bezweifelt werden. Er hat schon so oft sein Wort gebrochen, sich so oft taktisch verhalten, dass auch seine gestrige Beteuerung gegenüber Frankreichs Präsident Macron, europäische Friedenstruppen in der Ukraine zu akzeptieren, erst einmal nicht mehr ist als eine Behauptung.

Unterdessen laufen Moskaus Waffenschmieden Tag und Nacht und produzieren mehr Material als alle europäischen Staaten zusammen. In der Ukraine rücken die Kreml-Truppen langsam, aber stetig vor und überziehen Zivilisten mit permanenten Luftangriffen. Deutsche und britische Geheimdienste warnen: Ein Angriff Russlands auf EU-Staaten könnte nur noch eine Frage der Zeit sein. Und niemand weiß, ob Trump dann den Nato-Beistandspakt einhalten und zur Verteidigung der Europäer eilen würde.

Im Wahlkampf spielte diese Gefahr keine Rolle, was man fahrlässig nennen kann. Nun ändert sich das und Kanzler in spe Friedrich Merz versucht Fakten zu schaffen, bevor es zu spät ist: Noch im alten Bundestag will er Gespräche über die Finanzierung von Verteidigungsausgaben abseits der Schuldenbremse führen. Sogar das Angebot der Grünen, auch die Schuldenbremse zu reformieren, weist er nicht mehr zurück. Ein Sondervermögen für die Ukraine erscheint ebenfalls denkbar. Merz will darüber mit dem neuen SPD-Oberboss Lars Klingbeil und der Grünen-Chefstrategin Annalena Baerbock reden.

Der neue Realismus ist dem Zeitdruck und einer gesetzlichen Bredouille geschuldet: Für eine Reform der im Grundgesetz verankerten Schuldenbremse bräuchte es eine Zweidrittelmehrheit – sowohl im Bundestag als auch im Bundesrat. Im neuen Bundestag kommen AfD und Linke jedoch zusammen auf mehr als ein Drittel der Sitze, sie haben also eine Sperrminorität. Stellen sie sich quer – und beide Parteien werden einen Teufel tun, die Aufrüstungspläne oder gar die Ukraine zu unterstützen – wird's nichts mit der Zweidrittelmehrheit.

Gemäß Artikel 39 des Grundgesetzes muss der neue Bundestag spätestens am 30. Tag nach der Wahl zusammentreten. Das wäre der 25. März. Eine Reform der Schuldenbremse durch den alten Bundestag müsste also noch schnell in einer Sondersitzung durchgezogen werden. Union, SPD und Grüne kämen dann zusammen gerade noch auf die erforderliche Mehrheit – auch im Bundesrat könnte es mit etwas Glück klappen.

Deutschland hat enormen Investitionsbedarf, überall braucht es Geld: für die Polizei und den Grenzschutz, für Schulen und Universitäten, für Kinder und Rentner, für Sozialwohnungen und Digitalisierung, für den Ausbau von Energienetzen, Windkraft und Solartechnik, für die Bahn und für vieles andere mehr. Aber all das ist nichts wert, sollte sich Deutschland bald in einem heißen Krieg wiederfinden, weil Putin Estland, Schweden, Dänemark oder einen anderen Nato- und EU-Partner attackiert. Dann müssten deutsche Soldaten in den Kampf ziehen – Stand jetzt, mit zu wenig und überdies veraltetem Gerät. Eine Gurkentruppe würde den Kreml sicher nicht abschrecken und von weiteren Attacken abhalten.

Die Bundeswehr stehe "mehr oder weniger blank da" und könne im Verteidigungsfall kaum etwas ausrichten, gestand Heeresinspekteur Alfons Mais nach Beginn des russischen Angriffskriegs. Drei Jahre später hat sich daran kaum etwas geändert. Viel Material wurde bestellt, aber viel wurde auch in die Ukraine geschickt und noch mehr noch gar nicht geliefert. Es braucht sehr viel größere Anstrengungen, um das Leben der 83 Millionen Bundesbürger zu schützen: mehr Geld, mehr Tempo, mehr politische Ehrlichkeit. Das scheint nun auch der Wahlsieger einzusehen. Es ist höchste Zeit.


Zahlen des Tages

Eine exklusive Befragung des Meinungsforschungsinstituts Insa für unsere Redaktion ergibt brisante Werte: Demnach wollen 46 Prozent der Deutschen, dass die nächste Bundesregierung die Ukraine weder mit Waffen noch mit Geld unterstützt, darunter vor allem jüngere Menschen unter 29 Jahren. Nur noch 28 Prozent wollen, dass die nächste Regierung dem von Russland angegriffenen Land sowohl Waffen als auch Geld schickt, darunter viele ältere Bürger ab 70 Jahren aufwärts.

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Ein bemerkenswerter Stimmungsumschwung nach den jahrelangen Solidaritätsbekundungen. Verantwortungsbewusste Politiker machen sich aber nicht von kurzfristigen Stimmungen abhängig. Sie entscheiden strategisch.


Schwarz-Rot bis Ostern?

Langwierige Verhandlungen mit ungewissem Ausgang sind das Letzte, was Friedrich Merz gebrauchen kann: Der CDU-Chef hat eine Regierungsbildung bis Ostern als Ziel ausgerufen. Für die personell ausgezehrte und von der Wählerschaft gedemütigte SPD bietet das die Chance, den Preis für ein Bündnis hochzutreiben. Ganz verweigern wird sie sich kaum können, das verbietet die staatspolitische Verantwortung. Die Reporter unseres Hauptstadtbüros halten Sie auf t-online über alle Entwicklungen auf dem Laufenden; unser Politikchef Christoph Schwennicke diskutiert heute Abend in der Talkshow von Sandra Maischberger.


Grüner Umbruch

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Die erst seit November amtierenden Parteichefs Franziska Brantner und Felix Banaszak wollen weitermachen. Die scheidende Außenministerin Annalena Baerbock wird als künftige Fraktionsvorsitzende neben Katharina Dröge gehandelt. Britta Haßelmann, die zweite bisherige Fraktionschefin, könnte mit dem Posten der Bundestagsvizepräsidentin getröstet werden, den für die Grünen jedoch gerade Katrin Göring-Eckardt bekleidet. Aufschluss über die Rochaden wird spätestens der Mittwoch bringen, wenn die Partei den geschäftsführenden Vorstand der Bundestagsfraktion bestimmt. Niederlagen machen Nöte.


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Am härtesten hat der Wahlausgang die FDP getroffen: Nach dem Ausscheiden aus dem Bundestag müssen sich die Liberalen in der außerparlamentarischen Opposition neu erfinden. Wegen des Rückzugs von Parteichef Christian Lindner und Generalsekretär Marco Buschmann brauchen sie überdies eine neue Führungsspitze. Interessant wird sein, ob die Freidemokraten dafür auf ihre gegensätzlichen Altstars Marie-Agnes Strack-Zimmermann (66) und Wolfgang Kubicki (72) zurückgreifen – oder doch einen radikalen Schnitt wagen. Die Entscheidung fällt auf einem Parteitag im Mai, wie unser Reporter Florian Schmidt berichtet.


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Donald Trumps UN-Resolution zum Jahrestag der Invasion in der Ukraine nannte Russland nicht einmal mehr als Aggressor: ein geopolitischer Dammbruch mit fatalen Folgen, schreibt unser USA-Korrespondent Bastian Brauns.



Zum Schluss

Man wächst mit seinen Aufgaben.

Ich wünsche Ihnen einen kraftvollen Tag. Morgen kommt der Tagesanbruch von Heike Vowinkel, von mir lesen Sie am Donnerstag wieder.

Herzliche Grüße

Ihr

Florian Harms
Chefredakteur t-online
E-Mail: t-online-newsletter@stroeer.de

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Mit Material von dpa.

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