Die subjektive Sicht des Autors auf das Thema. Niemand muss diese Meinung übernehmen, aber sie kann zum Nachdenken anregen.
Was Meinungen von Nachrichten unterscheidet.Tagesanbruch Jetzt droht der Wohlstandsverlust
Guten Morgen, liebe Leserin, lieber Leser,
brrrrrrr, kalt ist's draußen. Und in den kommenden Tagen wird es wohl noch ungemütlicher. Sie sollten sich warm anziehen. Über weite Teile Deutschlands soll in den nächsten Tagen eine Kaltfront fegen, die Regen und Schnee bringt.
Die deutsche Wirtschaft – erlauben Sie mir das Bild – sollte ebenso einen wärmenden Regenmantel überwerfen. Denn die nächsten Wochen und Monate bleibt es kalt und nass. Und wenn das in Deutschland nicht langsam verstanden wird, könnte das zum Dauerzustand werden. Verstehen müssen es die Wahlkämpfer – aber insbesondere die Wählerinnen und Wähler.
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Die Diagnose für die deutsche Wirtschaft ist dabei schnell gestellt: Aktuell herrscht eine Flaute, das Wachstum liegt mit einem prognostizierten Plus von 0,1 bis 0,5 Prozent im vernachlässigbaren Bereich. Am Mittwoch wird das gewerkschaftsnahe Institut für Makroökonomie und Konjunkturforschung (IMK) einen wirtschaftspolitischen Ausblick aufs Jahr 2025 vorstellen. Es wird wohl zum Schluss kommen: Deutschland stagniert.
Viele Menschen sparen, statt ausgiebig zu konsumieren. Und das, obwohl sich die Inflation zuletzt abgeschwächt hat. Die zeitweise gestiegenen Preise, Kriege und wirtschaftliche Verunsicherung drücken weiterhin auf die Stimmung und Kauflaune. Eine Folge: Die Zahl der Firmenpleiten zieht an. Nach einem Bericht der Wirtschaftsauskunftei Creditreform aus dem Dezember erreichte die Zahl der Unternehmensinsolvenzen in Deutschland im abgelaufenen Jahr den höchsten Stand seit 2015.
Und in diesem Jahr könnte es weitergehen. Zu Zeiten der Finanzkrise 2009 gingen pro Monat rund 1.400 Personen- und Kapitalgesellschaften in die Insolvenz. Aktuell hat Deutschland dem Leibniz-Institut für Wirtschaftsforschung in Halle zufolge dieses Niveau wieder erreicht.
Einer, der sich mit der deutschen Wirtschaft bestens auskennt, ist Timo Wollmershäuser, Leiter der Konjunkturforschung am Münchner Ifo-Institut. Ihn habe ich angerufen, um über die Lage der Wirtschaft zu sprechen. "Wir kommen seit fünf Jahren nicht von der Stelle", sagte er mir. "Nach Corona und der Energiepreiskrise hat sich die Welt um uns herum erholt. Deutschland aber profitiert nicht von der Erholung."
Damit meint er die deutsche Industrie, deren Exporte lahmen. Stattdessen gewinne China immer größere Marktanteile, selbst auf Feldern, in denen die Deutschen eigentlich Vorreiter waren: in der Automobilindustrie oder dem Maschinenbau.
Laut Wollmershäuser steckt die Wirtschaft in einer Strukturkrise, die erst jetzt vollends sichtbar wird. Zwei Punkte hält der Ökonom dabei für entscheidend: Zum einen die Tatsache, dass die deutsche Wirtschaft viel zu lange auf Öl und Gas gesetzt hat – beides kam lange Zeit sehr billig aus Russland. "In Sachen Dekarbonisierung hat Deutschland den Anschluss verpasst."
Zum anderen sind die wirtschaftlichen Rahmenbedingungen laut des Experten schlecht: "Unternehmen überlegen sich oft zweimal, ob sie in Deutschland – oder nicht günstiger im Ausland investieren." Beide Probleme seien in den vergangenen 15 Jahren nicht angepackt worden – auch unter den CDU-SPD-geführten Koalitionen nicht.
Deutschland ist im internationalen Vergleich unter den Spitzenreitern, was die Steuerlast für Unternehmensgewinne angeht. Gleichzeitig legt die Politik den Firmen, aber auch Privatleuten durch die überbordende Bürokratie gigantische Steine in den Weg. Ganz abgesehen von der demografischen Krise, in die Deutschland schlittert: Auf immer mehr Rentner kommen immer weniger Erwerbspersonen. Die Industrie sucht derweil händeringend nach Fachkräften.
Und die Arbeitszeit in Deutschland geht seit Jahren zurück – und mit ihr die Produktivität. Zwar gab es im Jahr 2024 mit rund 46 Millionen eine Rekordzahl an Erwerbstätigen. Zugleich hat sich die Zahl der von ihnen geleisteten Arbeitsstunden seit 1990 quasi nicht erhöht, weil viele in Deutschland nur in Teilzeit arbeiten.
Die aktuelle Wirtschaftskrise scheint bislang nicht im Bewusstsein der Menschen angekommen zu sein. Wenig verwunderlich, dass Ideen wie die des Allianz-Chefs Oliver Bäte zunächst auf breite Ablehnung stoßen. Bäte hatte vorgeschlagen, den sogenannten Karenztag wieder einzuführen. "Damit würden die Arbeitnehmer die Kosten für den ersten Krankheitstag selbst tragen", sagte der Vorstandschef dem "Handelsblatt". Die Arbeitgeber würden so entlastet. In der Bundesrepublik gilt – anders als in einigen anderen Ländern – seit Jahrzehnten die Lohnfortzahlung ab dem ersten Krankheitstag.
Sicherlich: Die Idee könnte dazu führen, Arztpraxen noch mehr zu füllen, weil sich Menschen schon am ersten Tag ein Attest holen. Oder dass sich – insbesondere einkommensschwache – Menschen eher krank zur Arbeit schleppen, als auf einen Tag Lohn zu verzichten. Ganz abgesehen davon, dass dies aus dem Mund von jemandem wie Bäte, der an einem Arbeitstag knapp 29.000 Euro verdient, für viele Arbeitnehmer wie Hohn klingt. Auch meine Kollegen Katharina Grimm und Florian Schmidt diskutieren über seinen Vorschlag.
Die Idee mag nicht ausgereift sein. Doch Oliver Bäte hat damit eine notwendige Debatte angestoßen. Eine, die man sich in diesem Land schon lange wünschte, gerade mit Blick auf die Bundestagswahl. Solche Vorschläge braucht es in der aktuellen Krise, meint auch Experte Wollmershäuser: "Wir müssen sowohl das Investieren als auch das Arbeiten in Deutschland wieder attraktiver machen."
Seine Ideen gehen noch weiter. Wollmershäuser empfiehlt, die Unternehmenssteuern zu senken und beschleunigte Abschreibungsregeln für Firmen auszuweiten. Gleichzeitig schlägt er vor, "die Steuern in den unteren Einkommensklassen zu senken".
Und er plädiert dafür, sämtliche Staatsausgaben auf den Prüfstand zu stellen, etwa Subventionen wie das Dienstwagenprivileg. Aber auch Transferleistungen wie das Bürgergeld müssten womöglich angepasst werden. "Deutschland hat ein Ausgabenproblem", sagte er. "Die Ausgabenliste muss gekürzt werden." Sollte das nicht ausreichen, könnte man auch über eine minimale Erhöhung der Mehrwertsteuer nachdenken, so der Experte. "Ein Prozentpunkt würde hier bereits enorme Einnahmen bringen." Die Schuldenbremse sollte maximal leicht gelockert werden – aber nicht ausgesetzt, auch weil sie die Politik diszipliniere.
Ein ganz entscheidender Punkt sei zudem das Rentenalter, an das eine neue Regierung unbedingt ran müsste. "Ein späterer Renteneinstieg ist essenziell, um die Steuerzuschüsse in die Rente nicht noch weiter steigen zu lassen." Das müsste freiwillig geschehen, ein späterer Renteneintritt also finanziell belohnt werden, sagte Wollmershäuser. "Anders wird es wohl kaum umsetzbar sein." Zudem müsste es mehr Anreize geben, die Teilzeitquote zu senken. In Teilzeit arbeiten übrigens oftmals Frauen, weshalb eine bessere Vereinbarkeit von Familie und Beruf zwingend notwendig ist.
Sie sehen: Vorschläge und Ideen gegen den Abschwung gibt es genug. Der Regenmantel gegen das schlechte Wirtschaftswetter – um im Bilde vom Anfang zu bleiben – muss nur endlich zum Einsatz kommen. Hier sind nun die Wähler gefragt. Und da beginnt das Problem: Denn wer wählt schon eine Partei, die Zumutungen im Wahlprogramm hat?
Deutschland stand zuletzt Anfang des Jahrtausends an einem solchen Wendepunkt. Damals waren die Arbeitslosenzahlen zweistellig. Der Kanzler hieß Gerhard Schröder – mittlerweile als Putin-Freund völlig zu Recht diskreditiert. Schröder setzte schmerzhafte Arbeitsmarktreformen um – die ihn am Ende gar die Kanzlerschaft kosteten.
Heute dürften viele Menschen von den notwendigen Maßnahmen gegen die Wirtschaftskrise ebenfalls wenig begeistert sein. Vermutlich auch, weil sie noch einen Job haben, sich den nächsten Urlaub leisten können. "Aktuell ist der Druck im Kessel womöglich noch nicht groß genug", sagt auch Wollmershäuser. Doch sollte nichts passieren, befürchtet der Experte einen "Wohlstandsverlust auf breiter Front". Die Deutschen würden dauerhaft weniger im Geldbeutel haben.
Spätestens dann wäre es mit der Gemütlichkeit vorbei.
Was steht heute an?
Alter Bekannter: Die Winterklausur der CSU im oberbayerischen Kloster Seeon endet – am letzten Tag ist Unionskanzlerkandidat Friedrich Merz Hauptgast. Meine Kollegin Sara Sievert ist auch vor Ort.
Neue Firmen: Der Startup-Verband legt Zahlen zu Neugründungen im vergangenen Jahr vor. Auch sie sind ein Gradmesser für den Zustand der Wirtschaft.
Ewiger "King of Rock 'n' Roll": Elvis Presley wäre heute 90 Jahre alt geworden. Doch das Musikgenie starb bereits 1977 im Alter von 42 Jahren. Mir kommt stets eine Szene aus dem liebenswerten Film "Forrest Gump" in den Kopf, wenn ich an Elvis denke.
Historisches Bild
Fotos werden heute in gigantischen Mengen geknipst, früher war das ungleich schwerer. Mehr lesen Sie hier.
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Mark Zuckerberg hat angekündigt, die bisherigen Maßnahmen zur Bekämpfung von Fehlinformationen auf Facebook und Instagram faktisch einzustellen. Damit vollzieht er einen Kniefall vor Donald Trump, kommentiert mein Kollege Philipp Heinemann.
Der Todestag des "Kaisers" Franz Beckenbauer hat sich gestern zum ersten Mal gejährt. Meinem Kollegen Julian Buhl erklärt Fußballlegende Matthias Sammer, warum Deutschland für ihn im Umgang mit Beckenbauer versagt hat.
Zum Schluss
Ich wünsche Ihnen einen Mittwoch, an dem Sie stets Ihre Winterjacke zur Hand haben. Morgen schreibt mein Kollege Florian Harms wieder den Tagesanbruch.
Ihr Mauritius Kloft
Ressortleiter Politik & Wirtschaft
X: @Inselkloft
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Mit Material von dpa.
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