Forderung nach Karenztag Versicherungs-Chef will Lohn für ersten Krankheitstag abschaffen
An immer mehr Tagen im Jahr bleiben deutsche Arbeitnehmer zu Hause und melden sich krank. Deshalb fordert der Allianz-Chef nun strengere Regeln.
Der Chef der Allianz-Versicherung, Oliver Bäte, hat eine kontroverse Reformidee vorgebracht. Er fordert in einem Interview mit dem "Handelsblatt" die Wiedereinführung eines sogenannten Karenztags. "Damit würden Arbeitnehmer die Kosten für den ersten Arbeitstag selber tragen", sagt der Versicherungs-Chef. Die Arbeitgeber würden so entlastet. In der Bundesrepublik gilt – anders als in einigen anderen Ländern – seit Jahrzehnten die Lohnfortzahlung ab dem ersten Krankheitstag.
Bäte begründet seinen Vorstoß mit der hohen Zahl von Krankmeldungen in Deutschland. Im Durchschnitt seien Arbeitnehmer hierzulande 20 Tage pro Jahr krankgemeldet, während der EU-Durchschnitt bei lediglich acht Tagen liege. "Deutschland ist mittlerweile Weltmeister bei den Krankmeldungen. Das erhöht die Kosten im System", erklärte der Versicherungsmanager.
Laut seiner Rechnung zahlen deutsche Arbeitgeber jährlich 77 Milliarden Euro an Lohnfortzahlungen für erkrankte Mitarbeiter. Die Krankenkassen steuerten weitere 19 Milliarden Euro bei, was insgesamt rund sechs Prozent der Sozialausgaben ausmache. Im EU-Schnitt liege dieser Wert bei lediglich 3,5 Prozent.
Ein Mittel gegen Blaumachen?
Bäte geht wohl davon aus, dass ein Karenztag auch Blaumachen reduzieren könnte. Also das Krankmelden, obwohl Betroffene nicht oder kaum krank sind. Die Lohnfortzahlung würde erst dann beginnen, wenn tatsächlich ein Attest vom Arzt vorliegt.
Bäte plädierte im Interview zudem für umfassendere Reformen im Gesundheitssystem. In einer alternden Gesellschaft müssten die finanziellen Prioritäten überprüft werden. Die Ausgaben der gesetzlichen Krankenkassen hätten 2024 bereits 289 Milliarden Euro erreicht, und die Beiträge stiegen weiter. Gleichzeitig seien die Deutschen vergleichsweise häufig in ärztlicher Behandlung. "Deutschland steht bei der Zahl der Arztbesuche auf Platz sieben. Das ist doch irre", sagte Bäte.
Seiner Einschätzung nach könnten durch eine effizientere Organisation bis zu 40 Milliarden Euro eingespart werden. Diese Mittel könnten an anderer Stelle dem Gesundheitssystem zugutekommen.
DGB gegen Ende der Lohnfortzahlung
Karenz ist lateinisch und bedeutet Entbehrung oder Verzicht. Die Forderung nach Karenztagen in Deutschland ist nicht neu, Unternehmerverbände fordern diese schon länger. Frankreich führte 2012 einen Karenztag im öffentlichen Dienst ein, daraufhin sank die Zahl der Krankentage. 2014 schaffte Staatspräsident François Hollande den Karenztag wieder ab.
Der Deutsche Gewerkschaftsbund (DGB) warnte vor einer zunehmenden Tendenz bei Beschäftigten in Deutschland, trotz Krankheit zu arbeiten. ""Präsentismus", also krank bei der Arbeit zu erscheinen, ist branchenübergreifend weit verbreitet", sagte Anja Piel von der DGB-Führung am Montag in Berlin. Bäte empfahl dagegen, die Lohnfortzahlung am ersten Krankheitstag zu streichen.
Kritik von Gewerkschaften
Piel hielt Bäte entgegen, die Entgeltfortzahlung bei Krankheit sei ein hohes Gut angesichts des Umstands, dass immer mehr Menschen trotz Krankheit arbeiteten. Das DGB-Vorstandsmitglied sagte: "Niemand braucht aktuell Vorschläge, die noch mehr Beschäftigte dazu bringen, krank zu arbeiten." Die Gewerkschafterin führte Zahlen der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) an, die keinen dramatischen Anstieg der Fehlzeiten in Deutschland zeigten, weder im Vergleich mit anderen EU-Staaten, noch im Zeitverlauf.
"Schon vor Corona gaben etwa 70 Prozent der Beschäftigten an, mindestens einmal im Jahr krank zur Arbeit erschienen zu sein und im Durchschnitt fast neun Arbeitstage pro Jahr trotz Erkrankung gearbeitet zu haben", sagte Piel unter Berufung auf eine repräsentative Umfrage. Präsentismus schade der eigenen Gesundheit und könne auch zur Ansteckung von Kolleginnen und Kollegen oder Unfällen führen – mit hohen Folgekosten.
Die IG Metall bezeichnete es als unverschämt und fatal, den Beschäftigten Krankmacherei zu unterstellen. "Wer Karenztage aus der Mottenkiste holt, greift die soziale Sicherheit an und fördert verschleppte Krankheiten", sagte Vorstandsmitglied Hans-Jürgen Urban. "Die deutsche Wirtschaft gesundet nicht mit kranken Beschäftigten, sondern im Gegenteil mit besseren Arbeitsbedingungen."
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