Die subjektive Sicht des Autors auf das Thema. Niemand muss diese Meinung übernehmen, aber sie kann zum Nachdenken anregen.
Was Meinungen von Nachrichten unterscheidet.Tagesanbruch Das darf nicht der Preis für Assads Sturz sein
Guten Morgen, liebe Leserin, lieber Leser
an diesem Morgen würde ich mich so gern uneingeschränkt mit den Syrern freuen. Viele von ihnen jubeln, tanzen und singen seit gestern in den Straßen von Damaskus und anderen syrischen Städten, aber auch in Deutschland und Europa feiern sie. Denn der Mann, der sie seit 24 Jahren mit grausamer Gewalt regierte, der fast fünf Millionen Menschen ins Ausland trieb, muss nun selbst um Asyl bitten – in Russland, wohin der Schlächter Baschar al-Assad am Sonntag geflohen ist. Seine Frau und seine drei Kinder sollen dort bereits seit vergangener Woche sein.
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Damit findet das Regime der Assads nach 54 Jahren ein historisches Ende. Baschar al-Assad hatte es von seinem nicht minder brutalen Vater Hafis übernommen. Zehntausende ließen sie töten, Unzählige in Foltergefängnissen verschwinden. Die Assads und ihre Handlanger bereicherten sich skrupellos. Als sich 2011 die Menschen im Arabischen Frühling gegen dieses Regime erhoben, ließ Baschar al-Assad die Proteste mit brutaler Härte niederschlagen. Nicht einmal vor dem Einsatz von Giftgas schreckte er zurück. Es folgte ein jahrelanger Bürgerkrieg, der Hunderttausende Menschenleben kostete.
Doch ungetrübt ist meine Freude über den Sturz dieses Schlächters nicht. Denn noch sind die Folgen unabsehbar. Es droht Chaos, wie mein Kollege Patrick Diekmann hier erklärt. Die Gefahr, dass dieses Chaos nun in neuer Gewalt mündet, ist groß. Denn das Einzige, was die verschiedenen syrischen Milizen bislang einte, war das Ziel, Assad zu stürzen. Eine demokratische Zukunft in Freiheit, auf die jetzt so viele Syrer hoffen, ist eher unwahrscheinlich, so sehr es schmerzt, das zu schreiben. Im Gegenteil. Eine neue Fluchtbewegung könnte drohen, wenn auf einen zentralen Akteur jetzt kein Druck ausgeübt wird: die Türkei.
Bislang ist sie neben den USA das einzige Nato-Land, das Einfluss in Syrien hat. Gut 900 Kilometer lang ist die Grenze zwischen der Türkei und Syrien. Schon wegen dieser Nähe hat Recep Tayyip Erdoğan ein großes Interesse daran, diesen Einfluss in Zukunft auszuweiten. Zwei weitere Gründe treiben den türkischen Präsidenten an:
- zum einen die Kurden im Nordosten Syriens. Dort haben sie ein quasi autonomes Gebiet. Ihre Streitkräfte, die sogenannten Volksverteidigungseinheiten (YPG), sind der syrische Arm der in der Türkei verbotenen Arbeiterpartei Kurdistans (PKK). Zugleich sind die Kurden strategische Partner der USA, die noch 800 Soldaten im Land stationiert haben. Für den Nato-Partner USA ist das ein Dilemma. Drei Bodenoffensiven hat die türkische Armee seit 2016 in dieser Region durchgeführt – völkerrechtswidrig, wie viele Beobachter sagen. Laut protestiert hat dagegen keines der Nato-Länder.
- Zum anderen leben drei Millionen syrische Flüchtlinge in der Türkei. Innenpolitisch werden sie für Erdoğan wegen der schwierigen wirtschaftlichen Lage im Land zunehmend zu einem Problem. Er möchte sie gern loswerden und nach Nordsyrien umsiedeln.
Auch deshalb hatte er zuletzt versucht, mit Assad Frieden zu schließen. Er wollte im Norden Syriens eine Pufferzone für die Geflüchteten einrichten. Doch Assad ließ ihn abblitzen, forderte, die Offensiven im Norden müssten enden, die türkischen Truppen abziehen. Vieles spricht daher dafür, dass Erdoğan den aktuellen Vorstoß der islamistischen Gruppe Hajat Tahrir al-Scham (HTS) unterstützte, um Druck auf Assad auszuüben. Auch wenn Erdoğan das Gegenteil behauptet. Er erkannte, wie geschwächt die Stützen des Regimes aktuell sind: Russland durch den Krieg in der Ukraine, der Iran und die Hisbollah durch die israelischen Angriffe.
Dass sie Assad aber ganz fallen ließen und er so schnell stürzen würde, damit dürfte auch Erdoğan nicht gerechnet haben. Jetzt aber bietet sich ihm eine große Chance, die zugleich mit einem Risiko verbunden ist. Erdoğan wird nun alles versuchen, um seine beiden Ziele umzusetzen: die kurdische Autonomie im Norden zu zerstören und die Flüchtlinge im eigenen Land in ihre Heimat zurückzubringen.
Dafür muss er seinen Einfluss auf die HTS und andere islamistische Milizen ausbauen, bevor es andere Kräfte der Region tun. Darin liegt auch für den Westen eine Chance. Denn Erdoğan muss daran interessiert sein, dass Rebellenführer Abu Mohammed al-Dschulani seine Versprechen einhält, mit den staatlichen Behörden zusammenzuarbeiten und Minderheitenrechte zu achten. Wohlgemerkt, er ist ein Mann, der bei den islamistischen Terroristen von al-Qaida groß geworden ist. Ob er nur ein Wolf im Schafspelz ist, muss er erst noch beweisen. Genauso wie sich zeigen muss, ob er und die HTS am Ende die entscheidende Kraft sein werden.
Nur wenn das Land dauerhaft befriedet wird, werden die Flüchtlinge zurückkehren und nicht noch weitere Menschen fliehen. Geschieht dies nicht, wird es eine neue Flüchtlingsbewegung geben – in die angrenzenden Länder, also auch die Türkei, aber auch nach Europa. Umso mehr sollten die EU und Deutschland Erdoğan darin bestärken und unterstützen, seinen Einfluss auszuüben. Ebenso wie die USA.
Gleichwohl darf der Preis dafür nicht sein, dass sie die Kurden verraten – wie schon so oft. Die Nato-Partner sollten daher auch Druck auf die Türkei ausüben – zur Not, indem sie drohen, keine Waffen mehr an sie zu liefern. Das würde die Türkei empfindlich treffen.
Noch ist Donald Trump nicht an der Macht. Doch er hat bereits angekündigt, sich aus dem Konflikt heraushalten zu wollen, vermutlich zieht er sogar die restlichen US-Soldaten aus Syrien ab. Dann würden die USA auch den letzten Hebel verlieren, um in Syrien Einfluss zu nehmen. Joe Biden zumindest scheint gewillt, weiter einzugreifen. Gestern Abend ließ er 75 Ziele der dschihadistischen Miliz "Islamischer Staat" (IS) im Zentrum des Landes bombardieren. Das US-Zentralkommando teilte anschließend mit, damit sollte verhindert werden, dass der IS den Vorteil der aktuellen Umsturz-Situation in Syrien ausnutze. Doch die Zeit läuft Biden und den westlichen Partnern gerade davon. Sie müssen sie so gut wie möglich nutzen.
Ohrenschmaus
Zu dem, wonach viele Menschen in Syrien sich vor allem sehnen, passt dieser Song von Pharell Williams.
Was steht an?
Die einen wollen Arbeitsplätze erhalten, die anderen sie abbauen: Der Streit zwischen Europas größtem Autobauer VW und der IG Metall spitzt sich weiter zu. Die Gewerkschaft ruft zum zweiten, flächendeckenden Warnstreik auf. In neun deutschen VW-Werken wird die Schichtarbeit für vier Stunden ausgesetzt. In Wolfsburg gehen unterdessen am Montag die Gespräche der Tarifparteien weiter. Es ist bereits die vierte Runde. Die IG Metall verlangt den Erhalt aller Standorte und eine Beschäftigungsgarantie für die rund 130.000 Mitarbeiter. VW fordert dagegen zehn Prozent Lohnkürzung. Auch Werksschließungen und betriebsbedingte Kündigungen stehen im Raum.
Nicht nur die Automobil-, auch die Stahlbranche steckt in der Krise: Deswegen veranstaltet Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) mal wieder einen Gipfel im Kanzleramt, diesmal mit Spitzenvertretern der Branche. Auch Betriebsräte und Gewerkschafter sind geladen. Es soll um konkrete Maßnahmen gehen, um die Stahlherstellung in Deutschland zu sichern, schrieb Scholz zuvor auf dem Kurznachrichtendienst X. Wie er die dann allerdings ohne Mehrheit im Bundestag umsetzen will, schrieb er nicht.
Wie zufrieden sind Kinder und Jugendliche in Deutschland mit ihrem Leben? Das hat das Deutsche Jugendinstitut in einer Studie untersucht. Bundesfamilienministerin Lisa Paus stellt sie vor.
Glückwünsche gehen heute an gleich zwei Entertainer: Der Komiker Hape Kerkeling und der Fernsehmoderator Johannes B. Kerner feiern beide ihren 60. Geburtstag.
Das historische Bild
Lenin wollte nach der Machtübernahme in Russland 1917 den Kommunismus verwirklichen, erst aber musste er den Deutschen Zugeständnisse machen. Mehr erfahren Sie hier.
Lesetipps
Der blitzartige Sturz der Assad-Herrschaft eröffnet die Chance auf eine bessere Zukunft im Nahen Osten. Deutschland und die EU sollten nun dabei helfen, dauerhaften Frieden zu stiften, kommentiert mein Kollege Florian Harms.
Über eine Begegnung mit Baschar Assad und wie das Massaker der Hamas am 7. Oktober 2023 die Geopolitik des Nahen Ostens verschoben hat, schreibt unser Kolumnist Gerhard Spörl.
Russland soll nach dem Willen seines Machthabers groß und mächtig sein. Doch im Fußball hat Wladimir Putin sein Land verzwergt, meint unser Kolumnist Wladimir Kaminer.
Einstimmig haben die AfD-Spitzen Alice Weidel als Kanzlerkandidatin nominiert. Laut klatschen sie ihr zu. Doch die stärkste Frau der AfD bietet viel Angriffsfläche, schreibt Reporterin Annika Leister.
Zum Schluss
Ich wünsche Ihnen einen wunderbaren Start in die Woche mit hoffentlich vielen guten Nachrichten. Morgen schreibt Florian Harms wieder für Sie.
Herzliche Grüße
Ihre Heike Vowinkel
Textchefin t-online
X: @HVowinkel
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Mit Material von dpa.
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