Die subjektive Sicht des Autors auf das Thema. Niemand muss diese Meinung übernehmen, aber sie kann zum Nachdenken anregen.
Was Meinungen von Nachrichten unterscheidet.Tagesanbruch Jetzt beginnt die heiße Phase
Guten Morgen, liebe Leserin, lieber Leser,
die Parteien bringen sich für den vorgezogenen Wahlkampf in Stellung. Am Wochenende zementierte die SPD den Führungsanspruch ihres zeitweise wankenden Kanzlerkandidaten Olaf Scholz auf einer Veranstaltung mit dem hochtrabenden Namen "Wahlsieg-Konferenz". An diesem Samstag wird sich als letzte Partei dann auch die AfD auf Alice Weidel als Frontfrau durch das Votum der höchsten Funktionäre offiziell festlegen und ihren Slogan für den Wahlkampf vorstellen.
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Dann beginnt final die Phase, in der die Parteien um die Gunst der Wähler werben. Wahlgeschenke wird es regnen, angefangen bei Kugelschreibern auf Wahlkampfveranstaltungen bis zu Versprechen von Verbesserungen und Vergünstigungen in Gesetzesform, wenn man es denn in die nächste Regierung schaffen sollte.
Immer schwerer aber scheint es Menschen zu fallen, sich für eine Partei zu entscheiden. Schon 2021 gaben wenige Tage vor der letzten Bundestagswahl zwar 40 Prozent der Befragten in einer repräsentativen Umfrage an, wählen gehen zu wollen – aber noch nicht zu wissen, wen. Ein Rekordhoch der Unentschlossenen.
Und die Lage dürfte sich nicht verbessert haben. "Keine Ahnung, wen ich wählen soll" oder gleich ein genervtes "Die gehen doch alle gar nicht" – Sätze wie diese höre ich gerade sowohl in meinem privaten Umfeld als auch bei Recherchen für die Arbeit so oft wie noch nie. Das Ampel-Debakel, bei dem sich die drei Koalitionäre am Ende selbst nicht mehr ertragen konnten, hat die Verzweiflung verschärft.
Nicht nur für diese Menschen ist auf den letzten Metern vor der Wahlkabine der Griff zum Wahl-O-Mat das Mittel der Wahl. Die Webseite bietet eine Art politisches Speeddating: Welche Punkte sind mir wichtig, welche Partei betont sie in ihrer Wahlagenda? Am Ende spuckt ein Algorithmus ein Ranking der passendsten Parteien aus.
Das Tool aber taugt vor allem dazu, die aktuellen Forderungen der Parteien kennenzulernen. Wahlversprechen also, von denen – siehe die über Monate völlig festgefahrene Ampelkoalition – nicht allzu viele in Erfüllung gehen müssen.
Deswegen ein Tipp für die kommenden Wochen, damit Wahlkampf tatsächlich Sinn ergibt und Spaß macht: Schaffen Sie sich doch Ihre eigenen Kriterien, nach denen Sie die Parteien durchleuchten. Private Prüfsteine, die für Sie aussagekräftiger sind für das Wesen und die Ziele einer Partei als wohlklingende Versprechen.
Das können Bereiche sein, die für Ihr Leben besondere Tragweite haben. Es können aber auch Kriterien sein, an denen sich jede Partei messen lassen sollte. Zwei Beispiele:
1. Aufrichtigkeit
Wie ehrlich sind die Funktionäre einer Partei, wie halten sie es mit der Wahrheit? Was vielleicht selbstverständlich sein sollte, ist ein zunehmend wichtiges Kriterium. Immer wieder nämlich wurden in den vergangenen Jahren Politiker beim Lügen erwischt – oder stehen zumindest unter Verdacht, bewusst die Unwahrheit zu sagen. Schwer höhlt das nach und nach das Vertrauen in die Repräsentanten des demokratischen Systems aus.
Da ist Olaf Scholz, Kanzler und Kanzlerkandidat der SPD in Personalunion, der sich im Riesenbetrugsfall Cum-Ex an für ihn belastende Treffen einfach nicht erinnern mag. Im politischen Kabarett sind seine Erinnerungslücken schon lange ein Running Gag. Eigentlich aber sind sie ein anhaltender Skandal.
Da ist jüngst die FDP, die wiederholt mit Verve beteuerte, die Ampel nicht platzen lassen zu wollen – in deren Reihen aber Papiere kursierten, mit denen sie das Ampel-Aus strategisch forcieren wollte, betitelt mit dem martialischen Titel "D-Day", endend in Stufe 4: der "offenen Feldschlacht". Ihren Generalsekretär hat die FDP geopfert, als sie ertappt wurde. Parteichef Christian Lindner aber windet sich, Scholz nicht unähnlich, weiter in semantischen Kunstfiguren, statt Verantwortung zu übernehmen.
2. Unabhängigkeit
Gewählte Abgeordnete haben enorme Macht. Im Bundestag erhalten sie und ihre Mitarbeiter Zugriff auf Wissen, das Normalbürgern verwehrt bleibt. Ihr Mandat verleiht ihnen Popularität, mit der sie Narrative setzen und Debatten verändern können – im Bundestag, in den Medien wie den sozialen Netzwerken. Und durch ihr Votum im Parlament schließlich schaffen sie Gesetze, die tief in das Leben aller Deutschen eingreifen.
Schwer wiegt da der Verdacht, dass Abgeordnete nicht ihrer Kernaufgabe nachkommen und nach bestem Wissen und Gewissen ganz im Sinne des deutschen Volkes entscheiden. Doch dieser bittere Verdacht ist immer wieder angebracht – denn nicht nur unzählige Lobbyisten versuchen inner- wie außerhalb der Parlamente, Abgeordnete zu beeinflussen.
Das zeigen gerade wieder drei Fälle in den Reihen der AfD: Ihre Abgeordneten Maximilian Krah (EU-Parlament), Rainer Rothfuß (Bundestag) und Ulrich Singer (Bayerischer Landtag) reisten Mitte November ins russische Sotschi, wie t-online exklusiv berichtete. Krah aß mit einem Paar zu Abend, das für Putin europaweit Propagandanetzwerke spinnt, über die auch Schmiergelder an Politiker geflossen sein sollen. Rothfuß und Singer traten mit feinster Putin-Propaganda in russischen Medien auf und trafen sich in kleiner Runde mit einem der aggressivsten Lautsprecher des Kremls, Dmitri Medwedew, der Deutschland regelmäßig mit Angriffen droht. Erst vor Kurzem sorgte außerdem der AfD-Bundestagsabgeordnete Matthias Moosdorf für einen Eklat, als er neben seinem mit mehr als 11.000 Euro monatlich bezahlten Mandat eine Honorarprofessur in Moskau antrat.
Na und? fragen manche bei solchen Meldungen. Mit Politikern aus den USA oder der Ukraine träfen sich andere Parteien doch auch. Nur führt Putin eben nicht nur Krieg gegen die Ukraine, sondern will ganz Europa erschüttern. Eine Armee von Trollen an Tastaturen versucht, Debatten im Netz zu lenken und Panik zu schüren. Spione und Lobbyisten bearbeiten Politiker und Beamte, um sie für ihre Dienste zu gewinnen. Dazu gehen zahlreiche Sabotageakte und Fälle von hybrider Kriegsführung hierzulande mutmaßlich auf Russlands Konto.
Deutschland als größte Wirtschaftsmacht der EU spielt aber nicht nur für Putin eine zentrale Rolle. "Ausländische staatliche Akteure versuchen auf unterschiedlichen Ebenen, Einfluss zu nehmen und Informationen abzugreifen", sagte Generalbundesanwalt Jens Rommel gerade im Interview mit dem "Spiegel". "Was wir mit strafrechtlichen Mitteln nachweisen können, ist vermutlich nur ein Bruchteil dessen, was stattfindet." Aufmerksamkeit und ein gesundes Maß an Misstrauen sind also angebracht.
Für die Wahlentscheidung, die vielen dieses Mal so schwerfällt, gilt schon jetzt: Kein Wahl-O-Mat, kein Wahlprogramm wird den Grad von Aufrichtigkeit und Unabhängigkeit in den Parteien aufschlüsseln. Die Medien werden versuchen, aufzuklären, werden recherchieren und berichten – und die Wähler müssen für sich abwägen und entscheiden.
Es ist Arbeit, sich einzulesen, die Fälle zu verstehen, sich seine Meinung zu bilden. "Demokratie braucht Demokraten", so formulierte es der erste Reichspräsident der Weimarer Republik, Friedrich Ebert. Aber es ist Arbeit, die notwendig ist für ein Votum, das nicht auf schönem Schein gründet. Und die kann, eben weil sie erkenntnisreich ist, auch viel Freude bereiten.
Was steht an?
Marco Buschmann erhält ein neues Amt: Der ehemalige Justizminister wird zum neuen Generalsekretär der FDP ernannt. Um 13 Uhr tritt er mit Parteichef Christian Lindner vor die Kameras.
Annalena Baerbock in China: Die Außenministerin (Grüne) trifft ihren chinesischen Kollegen Wang Yi in Peking. Vorab kritisierte sie bereits Chinas "Wirtschafts- und Waffenhilfe für Russland".
Boris Pistorius in Norwegen: Der Verteidigungsminister (SPD) nimmt an einer Grundsteinlegung für ein deutsch-norwegisches Zentrum teil, das U-Boote instand setzen soll.
Robert Habeck in Afrika: Der Wirtschaftsminister (Grüne) besucht den Deutsch-Afrikanischen Wirtschaftsgipfel in Kenia.
Neuer Bericht zu globalen Rüstungsverkäufen: Welche Auswirkungen haben die Kriege weltweit auf die Verkaufszahlen der 100 größten Rüstungskonzerne der Erde? Das Stockholm International Peace Research Institute (Sipri) hat das untersucht.
Warnstreiks bei Volkswagen: Die Beschäftigten des Autobauers, der mehrere Werke in Deutschland schließen will, gehen auf die Straße.
Urteil im Prozess wegen Impfschäden: Eine Ärztin hatte gegen den Impfstoffhersteller Biontech geklagt und 150.000 Euro Schmerzensgeld verlangt.
Was lesen?
1.200 Kilometer lang ist die Front in der Ukraine, an manchen Punkten rückt Russland unerbittlich vor. Sergey Panashchuk und Niklas Golitschek berichten für t-online von Orten, wo Verletzte unter der Erde notversorgt werden oder den Soldaten die Granaten ausgehen.
2015 erlitt sie einen Herzinfarkt, heute lebt sie bereits seit sieben Jahren mit einem Kunstherz: Das Schicksal von Christine Herkner zeigt, wie medizinischer Fortschritt Leben rettet. Den Text meiner Kollegin Melanie Rannow lesen Sie hier.
Wie breit gefächert ist Ihr Wissen? Testen Sie hier Ihr Können im t-online-Quiz – in Rubriken von Lebensmitteln bis Literatur.
Ohrenschmaus
Draußen wird es immer kälter und dunkler, die Hermanos Gutiérrez sorgen rein instrumental für Wärme.
Zum Schluss
Ich wünsche Ihnen einen pannenfreien Tag. Morgen schreibt Florian Harms wieder für Sie.
Herzlich
Ihre Annika Leister
Politische Reporterin im Hauptstadtbüro von t-online
X: @AnnLei1
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Mit Material von dpa.
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