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Was Meinungen von Nachrichten unterscheidet.Tagesanbruch Die Achse zerbricht
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In diesen stürmischen Tagen fallen die Verbrecher wie Dominosteine. Fehlen nur noch Putin, Kim und Chamenei, aber was noch nicht ist, kann ja noch werden. Zumindest für einen von ihnen könnte die Zeit womöglich bald abgelaufen sein. Der Grund liegt im rasanten Umsturz einer ganzen Region. Der Reihe nach.
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Der Nahe Osten gilt als gefährlichster Brennpunkt der Welt: Hier entflammte Konflikte können den halben Globus erschüttern. Kriege und Aufstände, Intrigen und Machtpoker, Erdölgeschäfte und Flüchtlingswellen: Die Folgen der Eruptionen haben in den vergangenen Jahrzehnten nicht nur Millionen Menschen vor Ort getroffen, sondern auch viele Europäer beschäftigt. In den jahrelangen Kämpfen in Syrien, im Irak, in Kurdistan, im Libanon und im Gazastreifen sind Millionen getötet, verletzt oder traumatisiert und noch mehr vertrieben worden. Auch die Kosten sind exorbitant: Fast 30 Milliarden Euro verschlingt die Versorgung von Flüchtlingen in Deutschland pro Jahr; die meisten unter ihnen kommen aus Syrien, viele weitere aus dem Irak und dem Iran. Der Raum zwischen dem östlichen Mittelmeer und dem Arabischen Meer ist ein Schauplatz unsäglichen Leids, dessen Ursprung oft in den Regierungszentralen fremder Staaten liegt.
Nun jedoch verändert sich etwas. Nach jahrelangem Krisensturm, nach Bürgerkriegen, Terror, Unterdrückung und Versklavung besteht zum ersten Mal seit vielen Jahren die vage Hoffnung, dass sich die Dinge zum Besseren wenden könnten. Nicht weil die bärtigen Milizionäre, die nun Damaskus erobert haben, vorbildliche Demokraten wären. Sondern weil der Pate des Terrors in Teheran rapide an Einfluss verliert: Irans "Achse des Widerstands" zerbricht. Die Helfershelfer der Mullahs fallen wie Dominosteine:
1. Die schiitische Hisbollah im Libanon ist massiv geschwächt, ihr charismatischer Anführer Hassan Nasrallah ist tot.
2. Die sunnitische, ebenfalls mit dem Iran verbündete Hamas im Gazastreifen ist zusammengeschossen worden, ihr Auslandschef Ismail Hanija und ihre Militärstrategen Mohammed Deif, Rafa Salama und Jahja Sinwar sind auch tot.
3. Der syrische Diktator Baschar al-Assad aus der schiitischen Sekte der Alawiten ist gestürzt und geflohen; die Transportwege zwischen dem Iran und dem Libanon sind unterbrochen.
4. Die schiitischen Huthis im Jemen sind durch amerikanische und saudische Luftangriffe geschwächt.
Binnen weniger Monate ist der Einfluss der Mullahs im Nahen Osten stark geschrumpft. Die Gründe sind militärischer Natur: Seit dem Massaker vom 7. Oktober 2023 schlägt die israelische Armee hart gegen ihre Feinde zu und nimmt keinerlei Rücksicht mehr. Russland wiederum verkämpft sich auf den ukrainischen Schlachtfeldern, hat nicht mehr genug Kraft für Angriffe in der Levante und zieht sich zurück.
Was geschieht als Nächstes, könnte nach den Hilfstruppen auch das Teheraner Terrorregime selbst stürzen? Am Persischen Golf sind bemerkenswerte Entwicklungen zu beobachten.
- Der ideologische Überbau bröckelt: Die antiisraelische Propaganda des Iran und die ritualisierten Siegesbeschwörungen, lange ein Stützpfeiler der Mullah-Herrschaft, sind für jeden erkennbar nur noch hohle Phrasen. Israel hat sich durchgesetzt, sein Militär ist dank der verbündeten USA übermächtig.
- Es fehlt an Geld: Abermilliarden Petrodollar, die Teheran in die Hisbollah, die Hamas und das Assad-Regime gesteckt hat, sind vergeudet. Viele Iraner fragen sich nun: Warum müssen wir darben, während enorme Summen für erfolglose Auslandsabenteuer verschleudert wurden?
- Die Loyalität der Günstlinge schwindet: Selbst Hofschranzen beginnen zu zweifeln. Stellvertretend für viele zitiert die "New York Times" einen Fürsprecher der Revolutionsgarden, die Assads Kleptokratie bisher am Leben hielten: Der Umsturz in Syrien sei vergleichbar mit dem Fall der Berliner Mauer.
- Die Wirtschaftslage verdüstert sich: Die Sanktionen treffen den Iran hart, Misswirtschaft und Korruption verschlimmern die Lage. Hinzu kommt der akut schwächelnde Ölpreis. Das Wirtschaftswachstum ist eingebrochen, und dürfte sich so schnell nicht erholen. Der Internationale Währungsfonds und die Weltbank erwarten in den kommenden Monaten ein deutlich niedrigeres Bruttoinlandsprodukt.
- Die Machtfrage ist offen: Die Nachfolge für den greisen Diktator Ali Chamenei, der sich als "Oberster Führer" huldigen lässt, ist ungeklärt. Präsident Ebrahim Raisi kam mitsamt seinem Außenminister bei einem Hubschrauberabsturz im Mai ums Leben, nun bleibt eigentlich nur Chameneis Sohn Modschtaba übrig, um den kranken Alten zu beerben – doch er gilt als blass und unbeliebt. Ein Führungsvakuum jedoch kann sich die schiitische Aristokratie, die ihre Legitimation aus göttlicher Führung ableitet, keinesfalls leisten.
- Die Unzufriedenheit in der Bevölkerung ist riesig: Seit dem Tod der 22-jährigen Jina Mahsa Amini in Polizeigewahrsam vor zwei Jahren weigern sich viele Menschen, die staatlichen Schikanen wie das Verschleierungsgebot für Frauen und die Geschlechtertrennung in der Öffentlichkeit weiter zu akzeptieren. Eine Regierungsumfrage im Herbst endete mit einem ernüchternden Ergebnis: 92 Prozent der Iraner sind mit dem derzeitigen Zustand ihres Landes unzufrieden – und nur ein Drittel glaubt, dass die Lage durch Reformen zu verbessern sei.
Die Zeichen stehen auf Sturm. Was geschieht, wenn ein Regime sogar in den eigenen Reihen die Legitimation verliert, haben wir soeben in Syrien gesehen. Könnte die iranische Mullah-Despotie ähnlich enden? Noch ist es zu früh für ein Urteil. Aber Indizien, die gibt es.
Wie geht es weiter in Syrien?
Nach Assads Blitzsturz ist er der Mann der Stunde in Damaskus: Bislang gibt sich Abu Mohammed al-Dschulani, früher Al-Qaida-Kämpfer, heute Chef der islamistischen Rebellengruppe Hajat Tahrir al-Scham, betont moderat. So belässt er den bisherigen Ministerpräsidenten Mohammed al-Dschalali im Amt, um die staatlichen Institutionen "bis zu einer Machtübergabe zu beaufsichtigen", und hat angeordnet, dass sich militärische Kräfte öffentlichen Einrichtungen nicht nähern dürfen. Auch verkündete er, dass es keine Rache-Angriffe gegen die alawitische Minderheit geben werde, der die Familie Assads entstammt. Statt des Dschihadisten-Turbans trägt er nun dezente Militärkleidung, Erklärungen unterschreibt er mit seinem bürgerlichen Namen Ahmed al-Scharaa, im CNN-Interview gibt er sich staatsmännisch.
Bleibt abzuwarten, ob die Wandlung vom Fanatiker zum Pragmatiker Bestand hat – und ob er sich gegen die anderen Milizen durchsetzen kann. Da sind schließlich noch die kurdisch geprägten Syrian Democratic Forces, die ihrerseits von der Syrischen Nationalen Armee und der Türkei bedroht werden. Und auch die Terrorgruppe "Islamischer Staat" hat noch zahlreiche Kämpfer im Land. Fürs Erste bleibt die Lage leider unsicher.
Merz in Polen
Friedrich Merz ist im Ausland auf Wahlkampftour: Gestern absolvierte er einen Solidaritätsbesuch in Kiew und forderte beim Treffen mit Präsident Selenskyj die Einrichtung einer europäischen Kontaktgruppe, die eine Ukraine-Strategie für die Zeit mit dem nächsten US-Präsidenten Donald Trump abstimmen soll.
Heute besucht der Kanzlerkandidat von CDU und CSU mit Polen ein Land, das einer solchen Kontaktgruppe sicher angehören müsste. Im Gespräch mit Ministerpräsident Donald Tusk wird die weitere Unterstützung der Ukraine eine zentrale Rolle spielen. Außerdem hat der CDU-Chef angekündigt, im Fall einer Regierungsübernahme die gemeinsame Arbeit mit Polen und Frankreich im Weimarer Dreieck neu beleben zu wollen. Dass Noch-Kanzler Olaf Scholz da Defizite vorgeworfen werden, kommt dem Wahlkämpfer Merz gelegen.
Lesetipps
Kaum schleifen die Syrer die Assad-Statuen und feiern ihren Sieg, fordern manche in Deutschland einen Aufnahmestopp und Abschiebungen. Das ist unverantwortlich und töricht, kommentiert mein Kollege Christoph Schwennicke.
Russland ist aggressiv und gilt als undurchschaubar – aber ist es tatsächlich nicht zu entschlüsseln? Doch, sehr wohl, sagt der Historiker Jörg Baberowski im Gespräch mit meinem Kollegen Marc von Lüpke: Wer Russland verstehen will, müsse in die Vergangenheit blicken.
Alle schauen auf Syrien und die Ukraine – dabei ereignet sich die größte Flüchtlingskrise der Welt woanders. Mein Kollege Felix Leitmeyer zeigt Ihnen, wo.
Steuerzahler gucken in die Röhre: Weil sich SPD, Grüne, FDP, CDU und CSU nicht einigen können, verlieren Millionen Bürger Geld. Das ist armselig und birgt eine große Gefahr, kommentiert mein Kollege Florian Schmidt.
Ohrenschmaus
Neue Zahlen zeigen: Die Zahl der Großspenden an Parteien nimmt seit dem Ampel-Aus stark zu. Der passende Song dazu kommt aus Schweden.
Zum Schluss
Herr Assad trifft in Moskau auf Gleichgesinnte.
Ich wünsche Ihnen einen herrlich freien Tag.
Herzliche Grüße und bis morgen
Ihr
Florian Harms
Chefredakteur t-online
E-Mail: t-online-newsletter@stroeer.de
Mit Material von dpa.
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