Die subjektive Sicht des Autors auf das Thema. Niemand muss diese Meinung übernehmen, aber sie kann zum Nachdenken anregen.
Was Meinungen von Nachrichten unterscheidet.Umsturz in Syrien Der Aufstieg eines neuen Diktators?
Wahrscheinlich sind die Rebellen über ihren Triumph am meisten überrascht. Aber welcher dieser vielen Gruppen fällt jetzt die Macht zu und wie viel Einfluss übt die Türkei in Syrien aus?
Der Bundeskanzler hat den Sturz Baschar al-Assads als gute Nachricht bezeichnet. Ja, Demokraten dürfen sich freuen, wenn ein Diktator fällt, der 13 Jahre lang Krieg gegen seine eigenen Bürger führte und nur dank der Hilfe von Ländern wie Russland und dem Iran an der Macht blieb. Allerdings lehrt die Erfahrung im Nahen Osten zur Vorsicht in der Beurteilung von Erdbeben, wie sie gerade Syrien erlebt.
Wenn in dieser Region ein Machthaber fällt, der sein Land mit Angst und Schrecken regierte, dann stellt sich immer die Frage: Wer oder was kommt jetzt? Als Hosni Mubarak im Jahr 2011 zurücktreten musste, weil ihm Amerika im Arabischen Frühling seinen Schutz entzog, kamen die Moslembrüder in Ägypten an die Macht. Ihnen schwebte ein theokratischer Staat vor. Dafür ließen sie sich auf eine Machtprobe mit dem Militär ein, die sie verloren. Seither herrscht ein Feldmarschall in Ägypten, Abdel Fatah El-Sisi.
Der Arabische Frühling verblühte rasch. Der am längsten regierende Herrscher Libyens, Muammar al-Gaddafi, starb am 20. Oktober 2011. Seither ringen unterschiedliche Fraktionen ausdauernd um die Vorherrschaft in dem nordafrikanischen Land. Fremde Nationen wie Russland oder auch die Türkei mischen aus Eigeninteresse mit.
Zur Person
Gerhard Spörl interessiert sich seit jeher für weltpolitische Ereignisse und Veränderungen, die natürlich auch Deutschlands Rolle im internationalen Gefüge berühren. Er arbeitete in leitenden Positionen in der "Zeit" und im "Spiegel", war zwischendurch Korrespondent in den USA und schreibt heute Bücher, am liebsten über historische Themen.
Eine Begegnung mit Assad
In Syrien herrschte die Familie Assad mehr als 50 Jahre. Der zweitälteste Sohn Baschar musste die Nachfolge übernehmen, nachdem sein eigentlich gesalbter Bruder Basil 1994 bei einem Autounfall gestorben war. Baschar war ursprünglich auf einer ganz anderen Umlaufbahn. Er studierte in London, entdeckte seine Begabung für Computer und Medizin, arbeitete als Augenarzt. Im Sommer 2000 starb sein Vater, und Baschar übernahm die Nachfolge. Er galt als moderner Mensch, als Reformer, eigentlich als unpolitisch. Da war er 34 Jahre alt.
Im September 2006 habe ich Assad interviewt. Wie ein Autokrat oder Diktator kam er mir nicht vor. Er schien mit seiner Rolle zu fremdeln, nahm sich viel Zeit, wollte hören, wie ich die Lage im Nahen Osten und den Einfluss Amerikas einschätzte. Nie hätte ich gedacht, dass aus diesem kultivierten Mann der Schlächter seines Volkes werden würde.
Der neue starke Mann in Damaskus heißt seit gestern Abu Mohammed al-Dschulani. Er sei groß geworden unter Bombenlegern und Kopfabschneidern von al-Qaida im Irak, schreibt die "Süddeutsche Zeitung". Heute trägt seine Miliz den Namen Hajat Tahrir al-Scham (HTS), was auf Deutsch Organisation zur Befreiung Großsyriens heißt.
Seit einiger Zeit schien der Bürgerkrieg in Syrien eingefroren zu sein. Der Iran, die Hisbollah und Russland hatten Baschar al-Assad gerettet. Die iranischen Revolutionsgarden und die Hisbollah bauten ihren Einfluss systematisch aus. Die Rebellen waren auf ihre Hochburg Idlib im Norden begrenzt. Sie bekamen Hilfe aus den USA, der Türkei und Saudi-Arabien.
Der Zeitpunkt zur Wiederaufnahme der Revolution war jetzt günstig. Der Iran hatte schon am vorigen Freitag seine militärischen Kommandeure und militärisches Personal ausgeflogen. Der Iran unternahm keinen Versuch, Assad zu verteidigen. Die Hisbollah kämpft ums Überleben im Libanon und fiel deshalb auch aus. Russland führt Krieg in der Ukraine. Die Schutzherren boten keinen Schutz mehr. So blieb Assad und seiner Familie nur die Flucht per Flugzeug nach Russland.
Wahrscheinlich haben sich nicht einmal die Rebellen ihren Vorstoß so leicht, so schnell, so glatt vorgestellt. Zuerst Aleppo, dann Hama und Homs, und schon standen sie in Damaskus. Dschulani verhängte eine Ausgangssperre, sagte Christen und Aleviten Protektion zu. Er ist bemüht um ein freundliches Gesicht.
Der Umsturz in Syrien ist eine weitere schlechte Nachricht für das Mullah-Regime in Teheran. Der Einfluss, den es sich im Libanon und Syrien systematisch aufbaute, ist rasant im Schwinden. Nicht zufällig ließ sich die Hisbollah ohne Zögern auf den Waffenstillstand mit Israel ein. Der Iran und seine Schützlinge schließen die Reihen und bedenken ihre Strategie.
Die Stärke Israels
Der 7. Oktober 2023 hat eine Dynamik ausgelöst, die den ganzen Nahen Osten erfasst. Israel, an jenem Tag maximal gedemütigt, ist mehr denn je zur militärischen Vormacht in der Region aufgestiegen. Das Chaos in Syrien gibt nun die Gelegenheit, in die entmilitarisierte Zone auf den Golanhöhen vorzurücken, die an Israel grenzt.
In eine zentrale Rolle in Syrien rückt nun die Türkei. Sie kontrolliert Gebiete im Norden und unterstützt Gruppen wie die Syrische Nationalarmee, die aus der Opposition hervorgingen. In Idlib gab es türkische Banken, türkische Läden und türkische Postämter. Als Währung diente die türkische Lira. Angeblich erteilte die Türkei auch ihr stillschweigendes Einverständnis für den Großangriff auf Assad.
Recep Tayyip Erdoğan ist der Schutzherr der Rebellen. Ob sie in nächster Zeit die Macht teilen oder, was eher anzunehmen ist, darum kämpfen, wird sich bald schon zeigen. Schwer einzuschätzen, ob Syrien den libyschen oder ägyptischen Weg gehen wird.
Die Hälfte der 22 Millionen Syrer ist aus ihren Wohnungen und Städten geflohen – innerhalb ihres Landes oder außerhalb in den Libanon, die Türkei oder nach Europa. Viele von ihnen werden nach Hause gehen wollen, um dabei zu helfen, das zerstörte Land wieder aufzubauen.
In Deutschland leben knapp eine Million Syrer. Vermutlich verbindet Olaf Scholz, der Wahlkämpfer, mit der guten Nachricht die Hoffnung, dass ein Großteil das eigene Land dem Leben in der Fremde vorzieht.
- Eigene Beobachtungen