Die subjektive Sicht des Autors auf das Thema. Niemand muss diese Meinung übernehmen, aber sie kann zum Nachdenken anregen.
Was Meinungen von Nachrichten unterscheidet.Umsturz in Syrien Deutschland muss schnell handeln
Der blitzartige Sturz der Assad-Herrschaft eröffnet die Chance auf eine bessere Zukunft im Nahen Osten. Deutschland und die EU sollten dabei helfen, dauerhaften Frieden zu stiften.
Damaskus ist befreit, der Diktator ist geflohen: Die 54-jährige Terrorherrschaft der Familie Assad ist zu Ende. Das ist eine großartige Nachricht für Millionen Menschen in Syrien, in den Flüchtlingslagern Jordaniens, des Libanon, der Türkei, in der europäischen Diaspora. Eine halbe Million Syrer sind in dem seit 2011 wütenden Krieg getötet worden, fünf Millionen sind außer Landes geflohen, mehr als sieben Millionen wurden innerhalb des Landes vertrieben – rund die Hälfte der Bevölkerung.
Die Überlebenden des 13-jährigen Massakers können nun Hoffnung schöpfen: auf die Rückkehr in ihre Heimat, auf ein Leben in Frieden und Würde, ohne ständige Bedrohungen, Entbehrungen, Leid. Die Szenen aus dem befreiten Foltergefängnis Sajdnaja nördlich der Hauptstadt Damaskus rühren zu Recht viele Beobachter zu Tränen. An diesem grausamen Ort folterten Assads Schergen Zigtausende Menschen, quälten Männer und Frauen, schreckten nicht einmal vor Folter an Kindern zurück. Syrer flüsterten sich die Schreckenstaten in Sajdnaja, im Hauptquartier des Luftwaffengeheimdienstes in Damaskus, im Wüstengefängnis Tadmur und in weiteren Kerkern seit Jahrzehnten hinter vorgehaltener Hand zu. Die Erzählungen schürten die Angst, die zur wichtigsten Stütze des Regimes wurde. Der Jubel auf den Straßen in Aleppo, Hama, Homs, Damaskus, Deir az-Zor und Daraa ist ein kollektiver Erleichterungsschrei, ein Triumph über die bleierne Furcht.
Ob die Erleichterung anhält und in eine freiere, stabilere Zukunft mündet, ist freilich noch offen. Die HTS-Rebellen um Abu Mohammed al-Dschulani sind zwar eine militärisch gut organisierte, aber auch eine ethnisch und weltanschaulich bunt zusammengewürfelte Truppe. Ob die Wandlung des Milizenführers vom Fanatiker zum Pragmatiker dauerhaft ist, muss sich erst noch weisen. Immerhin: Dschulanis erste Befehle nach der Eroberung der Hauptstadt rechtfertigen vorsichtigen Optimismus. Er versucht größere Plünderungen und Gewalt gegen Zivilisten zu unterbinden, will die staatlichen Institutionen erhalten, sendet versöhnliche Botschaften.
Ob es den Milizionären gelingt, Syrien nach jahrzehntelangem Krieg zu stabilisieren und das endgültige Auseinanderfallen des Landes zu verhindern, liegt jedoch nicht allein in ihren Händen – sondern auch in denen ausländischer Mächte, die dort seit Jahren ihr zynisches Spiel um Macht, Einfluss und Transportwege spielen.
Putins Kremlregime ist durch den verlustreichen Vernichtungskrieg in der Ukraine so geschwächt, dass es sich aus Syrien zurückziehen muss. Das ist für den gesamten Nahen Osten eine weitere frohe Botschaft. Auch die iranischen Mullahs, ihre Todesschwadronen von den Revolutionsgarden und die verbündete Hisbollah haben durch die israelischen Luftangriffe der vergangenen Wochen an Stärke verloren.
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Bleiben der türkische Autokrat Erdoğan, die Golfaraber und die von den USA unterstützten Kurden. Nicht ausgeschlossen, dass auch noch weitere regionale Mächte im syrischen Machtpoker mitspielen wollen. Zumindest die Israelis werden sehr genau darauf achten, wer an ihrer nordöstlichen Grenze regiert.
Gleichwohl: Der blitzartige Sturz der Assad-Herrschaft eröffnet die Chance auf eine bessere Zukunft in dieser aufgewühlten Weltregion. Europa hat großes Interesse daran, dass sie dauerhaften Frieden bringt. Die Instabilität im östlichen Mittelmeerraum hat schon zu viele Menschen in die Flucht getrieben und zu viele Terroristen hervorgebracht.
Die Diplomaten in Berlin, Paris und London sollten jetzt die Gunst der Stunde nutzen und schnell gedeihliche Kontakte zu den neuen Machthabern in Damaskus knüpfen. Vor 13 Jahren haben sie zu wenig getan und dabei zugesehen, wie Syrien ins Chaos stürzte. Diesen Fehler sollten sie nicht wiederholen.