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Kanzler Scholz stellt Vertrauensfrage – die Bilanz ist miserabel


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MeinungVon Florian Harms

Aktualisiert am 11.12.2024 - 11:49 UhrLesedauer: 7 Min.
Kanzler Olaf Scholz will seine Koalition beenden.Vergrößern des Bildes
Kanzler Olaf Scholz will seine Koalition beenden. (Quelle: Sebastian Willnow/AP/dpa)
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Guten Morgen, liebe Leserin, lieber Leser,

am 8. Dezember 2021 wurde Olaf Scholz vom Bundestag zum Kanzler gewählt. Drei Jahre und drei Tage später macht er heute den entscheidenden Schritt, um das Amt ganz (wahrscheinlich) oder zumindest zeitweise (weniger wahrscheinlich) abzugeben: Nach dem vorzeitigen Bruch seiner Ampelkoalition beantragt er beim Parlament, die Vertrauensfrage zu stellen. Die Abstimmung ist dann am kommenden Montag geplant; Scholz will sie verlieren, damit der Bundespräsident den Bundestag auflösen und Neuwahlen ansetzen kann. Als Wahltermin ist der 23. Februar vereinbart worden.

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In der 75-jährigen Geschichte der Bundesrepublik ist es erst das sechste Mal, dass ein Kanzler die Vertrauensfrage stellt. Als Lehre aus der deutschen Geschichte setzt das Grundgesetz hohe Hürden für die Auflösung des Parlaments. Trotzdem wird das heikle Verfassungsinstrument machttaktisch eingesetzt.

  • Willy Brandt war im September 1972 der Erste: Seine Ostpolitik mit der Anerkennung der Oder-Neiße-Grenze hatte in der sozialliberalen Koalition zu großen Verwerfungen geführt. Der Kanzler hoffte, das parlamentarische Patt durch eine Neuwahl aufzulösen – und triumphierte: Die SPD holte mit 45,8 Prozent ihr bis heute bestes Ergebnis.
  • Im Februar 1982 stellte Helmut Schmidt die Vertrauensfrage wegen des heftigen Streits über die Wirtschaftspolitik und des Widerstands vieler Sozialdemokraten gegen die Nato-Nachrüstung. Anders als Brandt wünschte er sich die Unterstützung aller Abgeordneten von SPD und FDP – und bekam sie. Trotzdem zerbrach die Koalition sieben Monate später, die Liberalen verließen die Regierung (was sie gerne tun, wie wir mittlerweile wissen).
  • Neuer Kanzler wurde Helmut Kohl, der im Dezember 1982 die Vertrauensfrage stellte: Er erhoffte sich von Neuwahlen ein besseres Ergebnis und eine breitere Mehrheit im Bundestag. Kritik an dem Manöver wies er zurück: Um das Land aus der "schwersten Wirtschaftskrise seit Bestehen der Bundesrepublik" herauszuführen, brauche er einen "entschiedenen Wählerauftrag". Er kam damit durch und die Union siegte klar.
  • Gerhard Schröder stellte gleich zweimal die Vertrauensfrage: einmal im November 2001 nach den Anschlägen vom 11. September. So sicherte er sich die Zustimmung seines rot-grünen Bündnisses zum Anti-Terror-Krieg in Afghanistan, der damals noch nicht "Krieg" heißen durfte. Und ein weiteres Mal im Juli 2005, nachdem seine SPD die Landtagswahlen in Schleswig-Holstein und Nordrhein-Westfalen krachend verloren hatte: Für seine Sozialreform Agenda 2010 brauche er eine "stetige Mehrheit" im Bundestag, verkündete er. Diesmal ging der Plan nicht auf: Trotz einer Aufholjagd verlor die SPD die Neuwahlen knapp gegen die Union, Merkel zog ins Kanzlerbüro und Schröder setzte sich auf Putins Schoß.

Die Zeiten sind heute andere, aber die strittigen Themen ähneln sich: Auch in der Ampelkoalition drehte sich der Streit um die Wirtschaftspolitik, und die Diskussion um Waffenkäufe für die Bundeswehr und die Ukraine spaltet die SPD. Die Genossen sind auch in diesem Jahr bei mehreren Landtagswahlen baden gegangen, und wieder spekuliert der Kanzler auf eine stabilere Regierung durch Neuwahlen. Ach ja, und die FDP verdient nun endgültig das Etikett "schwankendes Rohr im Wind". Mit Christian Lindners Intrigantenstadl wird so schnell kein verantwortungsbewusster Politiker mehr koalieren wollen.

Den Liberalen werden zu Recht der nervtötende Dauerstreit und der absichtliche Bruch der Ampel angekreidet. Aber auch die Grünen und der Kanzlerwahlverein SPD tragen ein gerüttelt Maß Schuld. Olaf Scholz ist ein schlechter Kommunikator, er verprellt Menschen, statt um sie zu werben, er wirkt schnell überheblich, sogar in seinem engsten Umfeld reißt man Witze über seine Arroganz. Er hat zwar manches klug entschieden und im Ringen mit der Multikrise keine Mühen gescheut, aber eine gute Führungskraft ist er nicht. Das unterscheidet ihn von Brandt, Schmidt und Kohl, die zwar alle auch mit ihren eigenen Leuten zu kämpfen hatten, aber jahrelang ihren Laden zusammenzuhalten vermochten.

Scholz hat das nicht geschafft – und damit die Hoffnungen vieler Bürger enttäuscht, die sich nach Merkels bleiernem Regierungsfinale einen Aufbruch erhofften. "Wir übernehmen Verantwortung", hieß es im Vertrag der selbst ernannten "Fortschrittskoalition" aus SPD, Grünen und FDP. Und weiter: "Damit wollen wir eine neue Dynamik auslösen, die in die gesamte Gesellschaft hineinwirkt. Wir wollen staatliches Handeln schneller und effektiver machen und besser auf künftige Krisen vorbereiten." Dieses Versprechen haben der Kanzler, seine Minister und die Abgeordneten der Regierungsfraktionen gebrochen. Sie haben sich permanent gezankt, vergleichsweise wenige Gesetze verabschiedet und falsche Prioritäten gesetzt: Cannabis-Kiffen statt Wirtschaftshilfe, Heizungswirrwarr statt Steuerreform, Bürgergeld statt Wohnungsbau. Auch die versprochene Aufrüstung der Bundeswehr stockt.

Die Bilanz dieser Regierung ist miserabel. Das gilt selbst dann, wenn man die erschwerten Umstände durch Krieg und Krisen in Rechnung stellt. Aber eine demokratische Regierung ist immer auch ein Abbild der Gesellschaft, der sie entstammt. Große Teile dieser deutschen Gesellschaft wollten viel zu lange nicht realisieren, dass sich die Welt durch Putins imperialistischen Angriff radikal verändert hat und die Wohlfühlzeiten vorbei sind. Viele Leute wollen es bis heute nicht wahrhaben und laufen Heilspredigern hinterher, die das Blaue vom Himmel versprechen, schnellen Frieden mit Putin, ein besseres Land ganz ohne Migranten und ähnlichen Unsinn.

Die Bundestagswahl am 23. Februar wird deshalb nicht nur spannend, sondern auch heikel. Gut möglich, dass sie wieder ein wackliges Dreierbündnis hervorbringt. Oder eine "Große Koalition", die wie in den Merkel-Jahren den Stillstand verwaltet. Aber wir wollen die Zukunft nicht schwarzmalen. Nun steht bald Weihnachten ins Haus, da sind versöhnliche Töne gefragt. Vielleicht klappt es ja diesmal wirklich mit einer Fortschrittskoalition, die neue Dynamik auslöst, staatliches Handeln schneller und effektiver macht, das Land besser auf künftige Krisen vorbereitet und … na ja, den Rest kennen Sie schon.


Deutsche Folter in Syrien

Die Bilder sind kaum zu ertragen: Nach Baschar al-Assads Sturz fluten Fotos und Videos aus den Foltergefängnissen des syrischen Diktators die sozialen Medien. Winzige Zellen sind zu sehen, in denen verwahrloste Männer hocken, die den Verstand verloren haben. Orientierungslose Frauen und Kinder. Stapelweise Leichensäcke. Und Folterinstrumente. Die Bilder offenbaren das abgrundtiefe Grauen dieses bestialischen Regimes – und können als Mahnung dienen: Derlei ist unmenschlich, grauenhaft, darf nicht geschehen!

Was die meisten Betrachter der Bilder nicht wissen: Es war ein Mann aus Mitteleuropa, der die syrischen Folterknechte die grausamsten Methoden lehrte, um Menschen zu brechen. Der österreichische SS-Hauptsturmführer Alois Brunner zählte zu Adolf Eichmanns wichtigsten Helfern bei der "Endlösung der Judenfrage", war mitverantwortlich für die Deportation von fast 130.000 Juden. Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs tauchte er in Essen unter und floh 1954 mit Hilfe des bundesdeutschen Geheimdienstchefs Reinhard Gehlen und einem Leibwächter Konrad Adenauers nach Syrien. Dort gab er sich den Namen "Dr. Georg Fischer", arbeitete für den Bundesnachrichtendienst, pflegte seinen Judenhass – und schulte den syrischen Geheimdienst Muchabarat. Eine besonders grausame Foltermethode trägt in Syrien bis heute den Namen "deutscher Stuhl".

Irgendwann kam der israelische Geheimdienst Brunner auf die Schliche und schickte ihm eine Briefbombe – er verlor mehrere Finger. Auch Journalisten der Zeitschrift "Bunte" stöberten ihn auf, das war 1985. In dem Interview bekundete Brunner seinen Stolz, so viele Juden – "dieses Dreckszeug" – deportiert, nein: "weggeschafft" zu haben. Er sei mit sich im Reinen und würde alles noch mal genauso machen. Nur eines ärgere ihn: dass es in Europa immer noch Juden gebe. So lebte er noch jahrzehntelang unter der schützenden Hand von Hafis al-Assad, Baschars Vater. Europäische Strafermittlungen versandeten im Geheimdienstdickicht.

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Als ich 1995 als junger Hüpfer das erste Mal nach Syrien reiste, sprach ich zur Vorbereitung mit dem berühmten Kriegskorrespondenten Christoph Maria Fröhder. Er gab mir Tipps für die Reise und sagte irgendwann: "Wenn du Hinweise auf Alois Brunner findest, das wäre eine Knaller-Story!" Also packte ich meinen Rucksack und überlegte mir, wen ich vor Ort in Syrien wohl nach diesem Österreicher fragen könnte. Doch dann rief Christoph noch mal an: "Vergiss alles, was ich dir gesagt habe, vergiss Brunner, erwähne ihn mit keinem Wort, du begibst dich in Gefahr!" Ich schluckte und gehorchte. Dann stieg ich ins Flugzeug nach Damaskus.

Christoph ist vor zweieinhalb Monaten gestorben, aber ich werde ihm mein Leben lang dankbar sein. Nicht für seinen ersten Anruf, sondern für den zweiten. Ich weiß nicht, was mir zugestoßen wäre, hätte ich als naiver Tourist tatsächlich in Assads Syrien nach Alois Brunner herumgefragt. Andere sind dort aus nichtigeren "Gründen" für immer weggesperrt worden. Oder Schlimmeres. Auch daran muss ich in diesen Tagen denken, in denen so viele Syrer um ihre gemarterten und getöteten Angehörigen trauern. Alois Brunner, der einst für die deutschen "Herrenmenschen" Juden getötet hatte, der sich dank Adenauers Schlapphüten seiner Strafe entziehen und stattdessen helfen konnte, in Syrien eines der schlimmsten Foltersysteme der Welt aufzubauen, starb vermutlich als Greis im Jahr 2001 im Keller seines Hauses im Diplomatenviertel von Damaskus.


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77 Nobelpreisträger haben sich in einem offenen Brief gegen Donald Trumps Kandidaten für das Gesundheitsministerium ausgesprochen. Im Gespräch mit meiner Kollegin Lynn Zimmermann erklärt der Epidemiologe Hajo Zeeb den Grund.


Das Land Berlin muss hart sparen – auch bei der Kultur. Warum das gar nicht so schlimm ist, weiß unser Kolumnist Uwe Vorkötter.


Matthias Moosdorf ist außenpolitischer Sprecher der AfD-Fraktion im Bundestag – und ein angesehener Cellist. Unser Rechercheur Jonas Mueller-Töwe hat Bemerkenswertes über ihn herausgefunden.


Ohrenschmaus

Er brachte die hessische Äppelwoi-Kultur ins Fernsehen und erreichte in den Siebzigerjahren 20 Millionen Zuschauer: Heute wäre der 2014 gestorbene Entertainer Heinz Schenk 100 Jahre alt geworden. Das schönste Denkmal haben ihm schon vor Jahren die Rodgau Monotones gesetzt.


Zum Schluss

Was geschieht, wenn all die syrischen Flüchtlinge in ihre Heimat zurückkehren?

Ich wünsche Ihnen einen stillen Tag.

Herzliche Grüße

Ihr

Florian Harms
Chefredakteur t-online
E-Mail: t-online-newsletter@stroeer.de

Mit Material von dpa.

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