Die subjektive Sicht des Autors auf das Thema. Niemand muss diese Meinung übernehmen, aber sie kann zum Nachdenken anregen.
Was Meinungen von Nachrichten unterscheidet.Tagesanbruch Fifa plant absurden neuen Wettbewerb
Guten Morgen, liebe Leserin, lieber Leser,
wie man in Krisenzeiten das murrende Volk bei Laune hält, wussten schon die alten Römer. Die Kaiserzeit war durchzogen von intriganten Herrschern wie Nero, Caligula und Caracalla. Weil sie enorme Summen benötigten, um ihre jeweilige Klientel zu alimentieren, ehrgeizige Kriegszüge zu finanzieren und sich selbst ein Leben in Saus und Braus zu gönnen, blieben oft zu wenig Sesterzen für die Masse der Plebejer übrig: Die da oben prassten, eroberten und schlemmten; die unten schmachteten, dienten und starben. Wenig verwunderlich, dass Proteste, Aufstände und Hungerrevolten regelmäßig das Reich erschütterten.
Embed
Also ersonnen die Mächtigen ein raffiniertes Instrument, um das aufgewühlte Volk zu beschwichtigen: In riesigen Arenen veranstalteten sie aufwendige Kampfspektakel, manche sadistisch-brachial, andere soldatisch-ehrenhaft, aber stets packend und raffiniert für ein Massenpublikum inszeniert: von der Raubtierhatz über Massenmorde an Kriegsgefangenen bis zu Gladiatorenduellen, bei denen sich hochgezüchtete Athleten im Nahkampf maßen. Die politischen und gesellschaftlichen Hintergründe dieser blutigen Großveranstaltungen sind weitaus komplexer, als es gängige Historienschinken und Asterix-Heftchen nahelegen.
Doch ein wesentlicher Grund für das öffentliche Schlagen, Beißen und Sterben war eben zweifellos die Ablenkung des Pöbels von anderen Problemen. "Das Volk ist zufrieden. So mag ich's", soll schon Cäsar (der Julius) notiert haben. Kein Wunder also, dass Cäsaren (auch andere) im 3. Jahrhundert nach Christus, als die römische Weltherrschaft erste Risse bekam, immer mehr und immer längere Gladiatorenkämpfe veranstalteten und selbst horrende Summen nicht scheuten. "Lasst die Spiele beginnen!": Wenn dieser Ruf durch die Arenen hallte, gab es kein Halten. In der recht gelungenen Fortsetzung des Hollywood-Leinwandepos "Gladiator" sind die antiken Dramen gegenwärtig in deutschen Kinos zu bestaunen. Ja, die Römer wussten, wie Herrschaft durch Zerstreuung funktioniert.
Das Erstaunliche ist: Zweitausend Jahre später funktioniert derselbe Trick immer noch. Nein, Geschichte wiederholt sich nicht. Und ja, blutige Schaukämpfe haben in der bundesrepublikanischen Öffentlichkeit gottlob nichts verloren. Trotzdem: Drückt man ein Auge zu und sucht mit dem anderen nach historischen Mustern, erspäht man verblüffende Parallelen.
Auch heute herrscht wieder die Krise. Viele Menschen sind frustriert, verärgert oder verängstigt. Untergangspropheten und Rattenfänger indoktrinieren einfältige Gemüter; vor den Grenzen der Union tobt ein bedrohlicher Krieg. Eine brenzlige Gemengelage, in der schon ein plötzlicher Funke das gesellschaftliche Protestpulverfass explodieren lassen kann. Junge Männer bergen dabei naturgemäß ein größeres Risiko als das schönere Geschlecht. Womit also lassen sich testosterongesteuerte, leicht reizbare Y-Chromosomenträger ablenken? Klarer Fall: mit Fußball! Folglich kann es davon in unsicheren Zeiten wie jetzt gar nicht genug geben.
Das ist die einzig schlüssige Rechtfertigung für den neuen Ballsportwettbewerb, den die raffgierigen Fußballmanager von Fifa und Vereinen ersonnen haben: Weil im Sommer des kommenden Jahres weder eine Welt- noch eine Europameisterschaft ansteht, haben sie kurzerhand ein neues Turnier aus dem Hut gezaubert: die "Klub-WM". 32 Mannschaften aus aller Welt kicken im Land der unbegrenzten Möglichkeiten um einen überflüssigen Titel und eine Menge Geld. Jedes Teilnehmer-Team erhält garantiert 50 Millionen Euro, der Sieger kassiert das Doppelte. Zwölf Mannschaften kommen aus Europa, aus Deutschland sind der FC Bayern und Borussia Dortmund dabei.
Nicht weniger als 63 Partien sind geplant, alle werden live übertragen, teuer vermarktet und von den Medien gewiss mit großer Aufmerksamkeit bedacht. Der Streaming-Dienst DAZN soll für die Turnier-Rechte angeblich eine Milliarde US-Dollar berappen – so viel, wie sonst die Übertragung einer kompletten Saison der 1. und 2. Bundesliga samt Relegationsspielen kostet.
Wer kann sich so was leisten, woher kommt das Geld? Das wollen weder die klandestinen Fifa-Onkel noch die DAZN-Leute so genau sagen. Medienberichte, denen zufolge DAZN eine dicke Finanzspritze von Saudi-Arabiens Staatsfonds erhält, wurden eilig dementiert. Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang jedoch eine weitere Meldung: In der kommenden Woche wird die Fifa die Ausrichtung der Weltmeisterschaft 2034 vergeben – und für die gibt es seltsamerweise nur ein Bewerberland, nämlich, Sie ahnen es: Saudi-Arabien. Wer genug Moos hat, kann sich eben alles kaufen, auf welchem Weg auch immer. Das ist heute nicht anders als vor zweitausend Jahren.
Der Profifußball ist längst mehr Geschäft als Sport: Das wussten wir bereits, und viele Fans ärgern sich zu Recht darüber. Was sie dabei übersehen: Die Aufblähung des Spielkalenders, die Erfindung neuer Turniere und die tägliche Ausstrahlung angeblicher "Spitzenspiele" im Fernsehen sind geniale Schachzüge zur Befriedung einer maximal gereizten Gesellschaft. Sind Männer erst mal abgelenkt, kommen sie seltener auf dumme Gedanken.
Ohrenschmaus
Heute passt nur eine Musik. Sie ahnen es wohl schon.
Abkommen vor dem Abschluss
Die Verhandlungen laufen schon sage und schreibe 25 Jahre: 1999 beschloss die EU, mit den Mercosur-Ländern Brasilien, Argentinien, Paraguay und Uruguay eine engere wirtschaftliche Partnerschaft einzugehen. Seither ringen beide Seiten um ein Abkommen, das den Handel mit bestimmten Produkten erleichtern und Zölle senken oder abschaffen soll. 2019 erzielten sie einen Grundsatzbeschluss.
Heute könnte der entscheidende Schritt folgen: Am Rande eines Mercosur-Gipfels in Uruguays Hauptstadt Montevideo dürfte die Einigung verkündet werden. Auf dem Weg dorthin schwärmte EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen jedenfalls von einem Markt mit 700 Millionen Menschen und der "größten Handels- und Investitionspartnerschaft, die die Welt je gesehen hat". Mit dem Deal will die EU auch Boden gegenüber dem Systemrivalen China gutmachen und den Zoll-Fetischisten Donald Trump beeindrucken.
Allerdings sind nicht alle so begeistert wie die Brüsseler Kommissionschefin: Umweltorganisationen prognostizieren, das Abkommen werde zu einem Anstieg von Treibhausgasemissionen führen und die Waldzerstörung in Südamerika vorantreiben. Und während Deutschland auf den Abschluss drängt, sind Frankreich und andere EU-Länder dagegen, weil sie negative Folgen für ihre Bauern fürchten, vor allem durch billigere Rindfleisch- und Geflügelimporte aus Südamerika. Zuletzt wurde deshalb spekuliert, ob das Abkommen in einen Handelsteil und einen politischen Teil gesplittet wird. Handelsabkommen nämlich lassen sich gemäß den EU-Verträgen per Mehrheitsvotum beschließen und müssen nicht von allen Mitgliedstaaten national ratifiziert werden.
Scholz wird gegrillt
Auf diese Art von Heimatbesuch hätte der Kanzler wohl gern verzichtet: Schon zum dritten Mal muss Olaf Scholz heute in Hamburg als Zeuge vor dem Parlamentarischen Untersuchungsausschuss zum Cum-Ex-Skandal aussagen. Diesmal soll es nicht um die Privatbank MM Warburg, sondern um die Machenschaften der ehemals staatlichen HSH Nordbank gehen, die sich zwischen 2008 und 2011 in 29 Fällen Kapitalertragssteuern erstatten ließ, die zuvor gar nicht gezahlt worden waren.
Viel mehr als ein lästiger Pflichttermin dürfte es für den ehemaligen Ersten Bürgermeister der Hansestadt allerdings nicht werden. Zum einen kann er seine zweifelhafte Doppelstrategie – Erinnerungslücken reklamieren, Einflussnahme trotzdem ausschließen – fortsetzen. Zum anderen gilt der Ende 2020 eingesetzte Ausschuss als heillos zerstritten und hat nur noch wenig Zeit: Im März wird in Hamburg gewählt, bis dahin muss der Abschlussbericht vorliegen. Verlorenes Vertrauen in die Glaubwürdigkeit von Politik gewinnt man so allerdings nicht zurück.
Wörter des Jahres
"Aura": Das Jugendwort des Jahres kennen wir schon. Fehlen noch die Wörter des Jahres der Gesellschaft für deutsche Sprache. Heute gibt die Vereinigung zur Pflege und Erforschung der deutschen Sprache in Wiesbaden bekannt, welche Begriffe und Wendungen ihrer Meinung nach in den vergangenen zwölf Monaten das politische, wirtschaftliche und gesellschaftliche Leben besonders bestimmt haben. Schade nur, dass das Siegerwort von 2023 noch keinen Deut von seiner Aktualität verloren hat.
Bild des Tages
Mutmaßliche russische Sabotageaktionen an europäischen Unterseekabeln haben die Nato alarmiert. Die Allianz will deshalb eine Flotte von Drohnenbooten aufs Wasser schicken: Die unbemannten Schiffe sollen in der Ostsee und im Mittelmeer patrouillieren und das Geschehen auf hoher See überwachen. Schon in Kürze geht es los.
Lesetipps
Warum klingt der ansonsten eloquente Friedrich Merz plötzlich so gehemmt? Unsere Reporterin Sara Sievert weiß Bescheid.
Das BSW ist keine Partei, sondern ein Personenkultverein: Mehrere Mitglieder rebellieren gegen Sahra Wagenknechts Machtfülle, wie unser Rechercheur Carsten Janz berichtet.
AfD-Abgeordnete reisten auf politischer Mission nach Russland: Der Exklusivbericht meiner Kollegen Jonas Mueller-Töwe und Annika Leister hat Wellen geschlagen. Nun gibt es Neuigkeiten.
Gesund futtern: Eine neue Studie zeigt, wie man mit bestimmten Lebensmitteln Depressionen vorbeugen kann. Meine Kollegin Melanie Rannow hat die Liste.
Zum Schluss
Die Regierung löst endlich das Wohnraumproblem.
Ich wünsche Ihnen einen kreativen Tag und einen vollen Stiefel.
Herzliche Grüße und bis morgen
Ihr
Florian Harms
Chefredakteur t-online
E-Mail: t-online-newsletter@stroeer.de
Mit Material von dpa.
Den täglichen Tagesanbruch-Newsletter können Sie hier kostenlos abonnieren.
Alle Tagesanbruch-Ausgaben finden Sie hier.
Alle Nachrichten lesen Sie hier.