Die subjektive Sicht des Autors auf das Thema. Niemand muss diese Meinung übernehmen, aber sie kann zum Nachdenken anregen.
Was Meinungen von Nachrichten unterscheidet.Tagesanbruch Zack, schon verboten
Guten Morgen, liebe Leserin, lieber Leser,
Verbote haben kein gutes Image. Spätestens seit Robert Habecks Heizungsgesetz stöhnt das halbe Land auf, wenn Politiker davon reden, dass sie etwas untersagen wollen. "Verbotspartei" hat sich landauf, landab als Schimpfwort eingebürgert; besonders gern schmettern es CSU-Lautsprecher in bayerischen Bierzelten gegen die Grünen. Das ist insofern bemerkenswert, als andere westliche Länder in vielerlei Hinsicht viel strengere Verbote erlassen als das brave Deutschland. Die französische Metropole Paris verbannt Autos aus dem Stadtzentrum, in Teilen Englands ist es tatsächlich verboten, einen Wurm als Angelköder auszugraben, und wer schon mal mit einer Flasche Bier in der Hand durch eine amerikanische City geschlendert ist, dürfte höchstwahrscheinlich unliebsame Bekanntschaft mit einem Cop gemacht haben.
Insofern klingt es logisch, dass der jüngste Vorstoß für ein neues Verbot nicht aus Berlin, sondern aus Brüssel kommt: Die EU-Gesundheitsminister wollen allen Mitgliedstaaten der Union empfehlen, endlich den "wirksamen Schutz vor der Belastung durch Tabakrauch" zu gewährleisten – vor allem an Orten, wo sich häufig Kinder und Jugendliche aufhalten, wie Haltestellen, Bahnhöfen, Spielplätzen, Freizeitparks, Freibädern, Stränden, Zoos und so weiter. Weil das Europaparlament sich vergangene Woche nicht auf eine ähnliche Richtlinie einigen konnte, wollen es nun die Minister selbst richten. Zwar können sie so ein umfassendes Rauchverbot nicht rechtsverbindlich durchsetzen, weil die EU in der Gesundheitspolitik nicht zuständig ist. Wirksam wäre ein kollektiver Beschluss gleichwohl: Er würde den Druck auf die nationalen Regierungen und Parlamente erhöhen, die bestehenden Rauchverbote – etwa in Gaststätten – deutlich auszuweiten.
Embed
Verständigen sich die Minister heute darauf, wovon auszugehen ist, dürfte hierzulande wieder die typisch deutsche Verbotsdebatte ausbrechen. Den Spott von CSU-Politikern und das Gezeter von AfD-Heinis hat man schon im Ohr, und im Fadenkreuz dürfte Noch-Gesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) stehen, der seit Corona als personifiziertes rotes Tuch für alle herhalten muss, die mit der staatlichen Gesundheitspolitik, den Regeln der Rücksichtnahme oder ganz allgemein mit ihrem Leben unzufrieden sind.
Dieser Furor ist ziemlich deutsch und ziemlich dämlich. Mehr als 120.000 Menschen sterben hierzulande jährlich an den Folgen des Rauchens, noch viel mehr erkranken – und mitnichten nur der gewohnheitsmäßige Zug an Glimmstängel oder E-Zigarette ist verhängnisvoll. Auch Passivrauchen schadet nachweislich der Gesundheit. Zwar weniger im Freien als in geschlossenen Räumen, doch die Giftstoffe finden auch an der frischen Luft ihren Weg in unschuldige Münder und Nasen. Dagegen könnte ein Verbot helfen, indem es das Recht aller Nichtraucher auf Unversehrtheit schützt.
Auch die soziale Vorbildfunktion ist zu bedenken. Eine Beschränkung des Qualmens an öffentlichen Orten, wie sie nun von den EU-Ministern angestrebt wird, hätte nach Einschätzung des Deutschen Krebsforschungszentrums positive Auswirkungen: Sind seltener Leute mit Zigarette zu sehen, wird Rauchen nicht mehr als normales Verhalten wahrgenommen – das merken sich Kinder und Jugendliche. Zum Beleg für ihre These führen die Wissenschaftler die segensreiche Wirkung des Rauchverbots in Gaststätten an: "Auf einmal war es nicht mehr normal, dass man überall raucht und dass Restaurants verqualmt sind. Stattdessen war es normal, dass man zum Rauchen nach draußen geht", lässt sich die Sprecherin einer Krebspräventionsstelle in der "Pharmazeutischen Zeitung" zitieren. Folglich könnten auch Rauchverbote im Freien dazu beitragen, dass weniger Jugendliche mit dem Rauchen beginnen, "einfach deswegen, weil das Rauchen als gesellschaftlich weniger akzeptiert und erstrebenswert wahrgenommen wird". Tatsächlich ist die Zahl der Raucher nach Einführung des Gaststättenqualmverbots im Jahr 2008 spürbar gesunken.
Kein Wunder, dass andere Länder noch weiter gehen: Staaten wie Neuseeland oder Großbritannien wollen das Rauchen sogar vollständig verbannen und bald die erste "rauchfreie Generation" heranziehen. Im Vergleich dazu stecken wir Deutsche noch in den regulatorischen Kinderschuhen. Üben könnte also helfen – und der anstehende Bundestagswahlkampf bietet diesbezüglich praktische Gelegenheiten für Politiker, sich mit publicityträchtigen Vorschlägen hervorzutun. Und weil dieser Newsletter auch von vielen Politikern gelesen wird, hier einige spontane Ideen:
Verbot des Rasens: Ein Tempolimit von 130 km/h auf Autobahnen hätte erwiesenermaßen weniger Unfälle, weniger Verkehrsopfer und weniger Treibhausgas zur Folge. Was spricht ernsthaft dagegen?
Verbot von Kurzstreckenflügen: Nicht trivial in wirtschaftlich angespannten Zeiten, aber weniger Fluglärm in Städten und weniger CO2 in der Atmosphäre wären doch erstrebenswert, oder?
Verbot von TikTok: Mehr als 20 Millionen Menschen in Deutschland starren in die Video-App. Die digitale Zeitvernichtungsmaschine als chinesische Geheimwaffe zur Verblödung westlicher Bevölkerungen zu bezeichnen, ist keine Übertreibung. Weg damit!
Verbot von Bonuszahlungen für Bahnmanager: Solange gefühlt jeder dritte Zug unpünktlich rollt, sollten die Chefs der Deutschen Bahn kein Extrageld bekommen. Erst liefern, dann nehmen!
Verbot der AfD: Politisch umstritten und juristisch heikel, ja, das wissen wir. Aber ernsthaft prüfen sollte man es. Die Gesellschaft verträgt nicht noch mehr Hass und noch mehr Putin-Agenten.
Verbot von Volksmusik: Ich weiß ja nicht, wie es Ihnen geht, aber mir läuft es kalt den Rücken runter, wenn ich die Glotze anknipse und Herr Silbereisen oder die Wildecker Herzbuben die Münder öffnen. Braucht kein Mensch.
Verbot von … oh, oder geht das jetzt zu weit? Wirklich misslich, dass wir Bundesbürger so wenig Erfahrung mit Verboten haben. Da neigt man schnell zur Übertreibung. Vielleicht fangen wir lieber erst mal mit dem Wichtigsten an.
Ohrenschmaus
Ich musste nicht lang grübeln, welcher Song zum heutigen Thema passt. Sie werden's verstehen, wenn Sie genau hinhören.
Diktator unter Druck
Lange war der seit 2011 tobende syrische Bürgerkrieg aus den Schlagzeilen verschwunden, nun ist er mit Macht zurück: Seit am Wochenende eine Rebellenallianz unter Führung der islamistischen Gruppe Haiat Tahrir al-Scham (HTS) die Millionenstadt Aleppo eingenommen hat, steht das Regime von Diktator Baschar al-Assad wieder akut unter Druck. Begünstigt wurde die Blitzoffensive durch die gegenwärtige Schwäche der Assad-Unterstützer: Der Iran ist durch den Konflikt der Hisbollah mit Israel abgelenkt, der Kremlherrscher Putin braucht seine Truppen in der Ukraine. In dieses Vakuum stießen die Aufständischen vor – offenbar mit freundlicher Billigung des türkischen Staatschefs Erdoğan.
Wie es nun weitergeht, hängt davon ab, ob Assad seine Helfer doch noch mobilisieren kann: Während die Rebellen in Richtung der Hauptstadt Damaskus vorrücken, wirft die russische Luftwaffe erstmals seit 2016 wieder Bomben über Aleppo und anderen Zielen in Nordwestsyrien ab. Auch Teherans Terrormilizen haben ihre Unterstützung zugesichert. Dennoch ist mein Kollege Simon Cleven sicher: "Assad kämpft ums Überleben."
Augen geradeaus
Der Blitzbesuch in Peking war kein Erfolg: Mit ihren Appellen, China möge seine Unterstützung für die russische Angriffsarmee in der Ukraine einstellen, ist Annalena Baerbock abgeblitzt, wie mein Kollege Patrick Diekmann schreibt. Direkt aus der Volksrepublik fliegt die Außenministerin heute nach Brüssel, um mit ihren Nato-Amtskollegen ebenfalls über den Ukraine-Krieg zu beraten. Bei dem Treffen wird auch der neue ukrainische Chefdiplomat Andrij Sybiha erwartet, der über die kritische Lage an der Front und den aktuellen Hilfsbedarf seines Landes informieren soll. Für morgen sind Gespräche über den Ausbau der Abschreckungs- und Verteidigungsfähigkeiten des Bündnisses geplant. Dabei geht es vor allem um hybride Angriffe aus Russland und China – zum Beispiel Cyberattacken und Sabotageakte.
Aufstand in Georgien
Seit Tagen halten in der georgischen Hauptstadt Tiflis die Proteste gegen eine Abkehr von Europa an. Die Polizei geht brutal gegen Demonstranten vor, es gibt zahlreiche Verletzte. Hintergrund sind die von Fälschungsvorwürfen überschattete Parlamentswahl Ende Oktober und die Ankündigung der Regierungspartei "Georgischer Traum", den Beitrittsprozess zur EU gegen den Willen der Bevölkerung für vier Jahre auszusetzen. Im Hintergrund zieht Putins Regime die Strippen. Bleibt als Hoffnungsträgerin die wackere proeuropäische Präsidentin Salome Surabischwili, die trotz ihrer bald endenden Amtszeit auf dem Posten bleiben will.
Noch mehr Pathos
Falls Sie immer noch nicht genug haben von den Merkel-Festspielen: Heute präsentiert die Hobby-Historikerin gemeinsam mit Ex-US-Präsident Barack Obama in Washington ihre Memoiren den Amerikanern. Ob der Wälzer dort mehr Leute interessiert als hierzulande? Hören Sie mal hier hinein.
Lesetipps
Die Ampelkoalition ist gescheitert – mindestens ein Minister verdient jedoch eine gute Note: Unser Kolumnist Uwe Vorkötter erklärt Ihnen, warum Karl Lauterbachs Arbeit besser ist als sein Ruf.
Ein neuer Wintereinbruch steht Deutschland bevor. Unsere Meteorologin Michaela Koschak erklärt, welche Regionen sich jetzt auf viel Schnee und klirrende Kälte einstellen müssen.
Die FDP kämpft nach dem D-Day-Debakel um ihre Existenz. Parteichef Christian Lindner setzt deshalb auf ein Weihnachtswunder, wie unser Reporter Florian Schmidt zu berichten weiß.
Zum Schluss
Wie lang sich der Mann wohl noch halten kann?
Ich wünsche Ihnen einen friedlichen Tag.
Herzliche Grüße und bis morgen
Ihr
Florian Harms
Chefredakteur t-online
E-Mail: t-online-newsletter@stroeer.de
Mit Material von dpa.
Den täglichen Tagesanbruch-Newsletter können Sie hier kostenlos abonnieren.
Alle Tagesanbruch-Ausgaben finden Sie hier.
Alle Nachrichten lesen Sie hier.