Die subjektive Sicht des Autors auf das Thema. Niemand muss diese Meinung übernehmen, aber sie kann zum Nachdenken anregen.
Was Meinungen von Nachrichten unterscheidet.Tagesanbruch Putins nächstes Opfer
Guten Morgen, liebe Leserin, lieber Leser,
am kommenden Sonntag werden Weichen gestellt. In der Republik Moldau wird gewählt und nicht nur über das Amt des Präsidenten entschieden, sondern auch darüber, ob der Beitritt zur EU als Ziel in der Verfassung verankert werden soll. Gewichtige Entscheidungen also, wenn auch in einer scheinbar leichtgewichtigen Nation. Moldau bringt weniger Einwohner als Berlin auf die Waage: Zweieinhalb Millionen sind es nur. Doch in dem Kleinstaat zwischen Rumänien und der Ukraine ist ein Ringen im Gange, bei dessen Beobachtung auch der deutsche Koloss mit seinen 83 Millionen Menschen eine Menge lernen kann.
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Moldau ist ein Mikrokosmos. Das ganze postsowjetische Kuddelmuddel ist dort zu besichtigen: Rumänisch sprechende Moldauer leben dort, ebenso eine Minderheit von Russen – wie so häufig in den ehemaligen Sowjetrepubliken, zu denen auch Moldau zählte. Eine weitere ethnische Kleingruppe, das Volk der Gagausen, gehört auch noch dazu. Die Interessen aller Bürger sind verwoben und streben zugleich in entgegengesetzte Richtungen: Die einen zieht es in die EU, die anderen gen Moskau.
Um das Bild abzurunden, hat Moldau auch noch ein von Separatisten kontrolliertes Territorium, in dem eine kleine Truppe russischer Soldaten herumlungert – weitgehend zahnlos und abgeschnitten von der Außenwelt. Hier drohen zwar keine Schlachten wie im Donbass, aber von der Mischung in Moldau kann einem trotzdem mulmig werden. Der Grund dafür sitzt in Moskau und macht keine Kompromisse: Wie Wladimir Putin auf Ex-Sowjetrepubliken zu sprechen ist, die sich im Westen neue Freunde suchen, ist mittlerweile bekannt. Wenn er kann, schickt er seine Panzer los. Seit in Moldau Präsidentin Maia Sandu die Richtung vorgibt und das Land in die EU führen will, ist der Ärger programmiert. Der Krieg nebenan in der Ukraine hat auch in Moldau das Ringen um die Zukunft des Landes zugespitzt. Deshalb kann man im Mikrokosmos Moldau beispielhaft die Liste der schmutzigen Tricks studieren, die Putin zu manipulativen Zwecken zum Einsatz bringt.
Moskaus Arsenal der Beeinflussung deckt ein beeindruckendes Spektrum ab, aber nicht jedes Werkzeug ist von gleicher Bedeutung. Unterwanderung, gewiss. Spionage, auch das. Aber die Hauptrollen bei Putins Operation in Moldau sind mit Bürgern des eigenen Landes besetzt – speziell mit denen, die ihr Heil im Schulterschluss mit dem korrupten Diktator suchen.
Da gibt es zum Beispiel den örtlichen Oligarchen, der sofort hinter Gittern verschwinden würde, sobald er sich in seinem Heimatland blicken ließe, und der deshalb lieber in Moskau weilt: Ilan Șor heißt der Mann, er ist in Moldau rechtskräftig verurteilt worden, nachdem er Banken geplündert und aus fremden Kassen eine Milliarde Dollar an sich und seine Kumpels verteilt hat. Auf die Sanktionslisten der USA und der EU hat ihn seine schillernde Karriere auch schon gebracht. Der Strippenzieher aus der Halbwelt schleust aus Russland Millionenbeträge ins Land und kauft damit je nach Bedarf Lokalpolitiker, Demonstranten und Stimmen. Seine eigene politische Partei ist wegen krimineller Machenschaften längst verboten, doch gründet er mit seinem Netzwerk neue russlandfreundliche Marionettenparteien schneller, als die Regierung sie wieder dicht machen kann.
In dem autonomen Territorium, wo die ethnische Minderheit der Gagausen ihre eigenen Geschicke bestimmt, hat der wendige Kriminelle eine vorher unbekannte Putin-Verehrerin auf den Chefposten gehievt. Die Dame ist regelmäßig zu Gast in Moskau, um dort medienwirksam "die Unterwanderung Moldaus durch den heimtückischen Westen" anzuprangern. Im Gegenzug ist Putin nicht knausrig und bedenkt seine Dienstleister mit stattlichen Summen – nicht nur für den Eigenbedarf und den Kauf von Wählerstimmen, sondern auch, um Moskaus Rubel zwecks Erhaltung der Beliebtheit unters Volk zu streuen.
Wenn man an dieser Stelle aus Moldau eine Erkenntnis mitnehmen möchte, dann die: Putins gefährlichste Mittelsmänner (und -frauen) sind keine Agenten, die sein Geheimdienst aus der Ferne eingeschleust oder angeworben hat, sondern örtliche Gewächse und auf eigene Rechnung unterwegs. Sie bieten sich Moskau an, weil es sich für sie anbietet. Die Kooperation ist zum beiderseitigen Vorteil: Der Diktator im Kreml darf sich über Hilfskräfte freuen, die seine Positionen in die Innenpolitik anderer Staaten tragen und in seinem Sinne an den Strippen ziehen. Das funktioniert übrigens nicht nur in Moldau. Frau Weidel und Frau Wagenknecht passen da durchaus ins Bild.
Die zweite Säule der russischen Einflussnahme in Moldau, aber eben nicht nur dort, ist ein offenes Ohr. Nämlich bei jenem Teil der Bevölkerung, der im russischen Propaganda-Orbit lebt. Die Lügenmaschinerie des Kreml hetzt nicht nur auf Tiktok, Telegram und den anderen Kanälen im sozialen Sumpf. In Moldau dröhnt sie dem russisch sprechenden Teil der Bevölkerung direkt aus Radio und TV entgegen. Keine Lüge ist zu dreist oder zu dumm, um nicht als Desinformation unter die Leute gebracht zu werden. Die EU-freundliche Präsidentin ist zur Dauerzielscheibe geworden, das anstehende Referendum auch. So weit, so gewöhnlich: Wir kennen vergleichbare Propagandabeschallung aus den sozialen Medien in Deutschland.
Bemerkenswert ist allerdings, dass sich auch über die russlandnahe Zielgruppe hinaus im ganzen Land die Wahrnehmung verändert, bis die Wirklichkeit schließlich Kopf steht. Russlands Handel mit Moldau ist winzig gegenüber den Warenströmen, die von und nach Westen die Grenze passieren. Investitionen aus Moskau sind gegenüber denen aus der EU mit dem bloßen Auge kaum noch wahrnehmbar, bei Finanzhilfen und Krediten sieht es nicht anders aus. Wer also, glauben die Moldauer, gehört zu den wichtigsten wirtschaftlichen Partnern für ihr Land? Wen nennen 53 Prozent der Bevölkerung einer Umfrage zufolge? Ja, genau: "Russland" sagen die Leute. Desinformation führt ins Märchenland.
Man darf also gespannt sein, was bei der wichtigen Wahl am Sonntag herauskommt. Nicht weniger dringend ist die Frage, ob man Putins Propagandamaschinerie viel mehr entgegensetzen müsste. Nicht nur in Moldau, sondern auch in der EU – zum Beispiel im Baltikum – sind große russische Minderheiten der Dauerbeschallung aus Moskau ausgesetzt und verinnerlichen die Weltsicht der Hetzer. Auf den Funkwellen des Fernsehens müsste ihnen die Konkurrenz westlicher Sender auch in russischer Sprache endlich stärker zusetzen als bisher. In den sozialen Medien sieht die Sache zugegebenermaßen schwieriger aus. Denn auf Facebook, Tiktok, Telegram & Co. funktioniert Hass leider besser als Ausgewogenheit. Aber stellen müssen wir uns dieser Aufgabe – und das geht auch.
Ohrenschmaus
Meine liebste Musik aus Moldau? Ist dieser Gassenhauer.
Termine des Tages
Auf dem EU-Gipfel in Brüssel verhandeln die Staats- und Regierungschefs über Abwehr illegaler Migration, die Kriege in Nahost und der Ukraine. Als Gast wird der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj erwartet. Bei seinem "Siegesplan" bleibt leider völlig unklar, wie er Putin an den Verhandlungstisch bringen möchte, kommentiert mein Kollege Patrick Diekmann.
In Berlin entscheidet der Bundestag über die Krankenhausreform. Gesundheitsminister Karl Lauterbach will das System komplett umbauen, Patienten mehr Transparenz verschaffen und Kliniken feste Qualitätsvorgaben machen.
In Potsdam tritt der neue Landtag von Brandenburg zusammen. Die Eröffnungsrede hält erstmals ein Abgeordneter des Bündnisses Sahra Wagenknecht: Der 73-jährige Alterspräsident Reinhard Simon ist Schauspieler und Regisseur und war bis vor wenigen Monaten nicht politisch aktiv. Seine Arbeit für das BSW begründet er mit seiner Kritik an der deutschen Ukraine- und Energiepolitik sowie dem Erstarken der AfD.
Die Europäische Zentralbank gibt ihren weiteren Kurs beim Leitzins bekannt. Der steht aktuell bei 3,5 Prozent. Eigentlich war in diesem Monat wohl keine Veränderung geplant, doch weil die Wirtschaft im Euro-Raum immer noch nicht anspringt, plädieren mehrere Ratsmitglieder für eine weitere Zinssenkung. Eine knifflige Situation für EZB-Chefin Christine Lagarde.
In der Hamburger Kunsthalle wird eine bemerkenswerte Ausstellung eröffnet: "Isa Mona Lisa" zeigt neue Werke von Gegenwartskünstlern wie Isa Genzken, Neo Rauch, Gerhard Richter, Leiko Ikemura und Wolfgang Tillmans.
Lesetipps
Kamala Harris hat ein Problem: Ausgerechnet eine Wählergruppe, die den US-Demokraten lange die Treue hielt, wendet sich ab. Nun schrillen die Alarmglocken, berichtet unser Amerika-Korrespondent Bastian Brauns.
In der Nacht zu Donnerstag hat sich Harris mit einem Interview bei Fox News im Haussender des konservativen Amerikas präsentiert. Ob es der US-Vizepräsidentin dabei gelang, ihren ins Stocken geratenen Wahlkampf noch zu retten, berichtet mein Kollege David Schafbuch aus den USA.
In der Ukraine beginnt die kalte Jahreszeit – und Putins Armee könnt sie nutzen. Mein Kollege Tobias Schibilla erklärt Ihnen, was das für den weiteren Kriegsverlauf bedeutet.
Wie viele SPD-Politiker verweigern dem Kanzler beim "Sicherheitspaket" die Gefolgschaft? Die interne Kritik an den Reformen reißt nicht ab, obwohl der Druck auf die Abgeordneten wächst, berichtet unser Reporter Johannes Bebermeier.
Experten erwarten für das kommende Jahr einen spürbaren Anstieg der Krankenkassenbeiträge. Meine Kollegin Christine Holthoff zeigt Ihnen, was das für Ihren Geldbeutel bedeutet.
Zum Schluss
Endlich greift der Kanzler durch!
Ich wünsche Ihnen einen energiegeladenen Tag.
Herzliche Grüße und bis morgen
Ihr
Florian Harms
Chefredakteur t-online
E-Mail: t-online-newsletter@stroeer.de
Mit Material von dpa.
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