Die subjektive Sicht des Autors auf das Thema. Niemand muss diese Meinung übernehmen, aber sie kann zum Nachdenken anregen.
Was Meinungen von Nachrichten unterscheidet.Tagesanbruch Sie haben den Schuss noch nicht gehört
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Guten Morgen, liebe Leserin, lieber Leser,
wenn etwas richtig weh tut, reagiert der Mensch normalerweise so: Er wiederholt das Verhalten, das zum Schmerz geführt hat, nicht mehr. Das verdankt der Mensch seiner Großhirnrinde. Dort, in der äußeren Schicht des Großhirns, kommt das Schmerzsignal nämlich an, wird beurteilt und löst eine Reaktion aus. Deshalb pusten Sie jetzt auch in Ihre Tasse, sollten Sie sich gerade am zu heißen Kaffee verbrannt haben.
Das Ergebnis der Bundestagswahl hat der SPD richtig weh getan. Sie kassierte das schlechteste Ergebnis seit 1887, hat das Vertrauen vieler Menschen verloren. Selbst in einer Stadt wie Gelsenkirchen, einst eine sozialdemokratische Hochburg, wurde die AfD stärkste Kraft und verdrängte die SPD auf Platz zwei. Furchtbar schmerzhaft das alles. Oder, um es mit Philipp Türmer, dem Juso-Chef, zu sagen: "Kein Warnschuss mehr, sondern ein Wirkungstreffer."
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Aber hat die Partei den Schuss wirklich gehört? Wirkt er auch? Noch sieht es nicht danach aus.
Heute wählt die SPD-Fraktion einen neuen Vorsitzenden. Amtsinhaber Rolf Mützenich tritt nicht mehr an. Der Mann ist 65, man kann es verstehen. Jüngere müssten nun den Karren weiterziehen, hatte er in einem Brief an die Fraktion geschrieben. Der jüngere Karrenzieher heißt Lars Klingbeil. Er ist 47 und seit vier Jahren Parteivorsitzender. Das Wahlergebnis der SPD nannte er "eine Zäsur", die personelle Konsequenzen haben müsse. Aber Klingbeil will nicht nur den Fraktionsvorsitz übernehmen, sondern auch den Parteivorsitz behalten. Auch seine Co-Parteichefin Saskia Esken, 63, will weitermachen. Ebenso wie Generalsekretär Matthias Miersch.
Die alte Parteispitze wäre dann die neue, und die Antwort der SPD auf die Zäsur: Wir machen weiter wie bisher. Das kritisieren auch frühere Parteistrategen wie Matthias Machnig. In der Großhirnrinde der Parteispitze ist der Schmerz offenbar noch nicht angekommen.
Ganz fair ist der Vorwurf nicht. Denn die SPD steckt in einem doppelten Dilemma: Sie ist zum Mitregieren verdammt. Und ihr fehlt Zeit.
Die Sozialdemokraten sind die einzigen, mit denen die Union koalieren kann, nur mit ihnen hätte sie – abgesehen von der AfD – eine Mehrheit. Die AfD aber ist eine in weiten Teilen antidemokratische Partei und kommt daher nicht infrage. Wollte sich die SPD jedoch wirklich neu aufstellen, müsste sie in die Opposition gehen. Denn der Preis des Regierens sind Kompromisse. Kompromisse aber verwischen das Profil. Das hat die SPD in 18 Jahren GroKo und Ampel zur Genüge gelernt.
Andererseits wusste schon SPD-Urgestein Franz Müntefering: "Opposition ist Mist." Mitgestalten lässt sich da wenig. Auch Lars Klingbeil weiß das, weshalb er gerade schon den Preis, den Merz für eine Koalition mit der SPD zahlen soll, hochzuschrauben versucht. Die arbeitende Mitte brauche bessere Löhne und mehr Geld im Portemonnaie, zudem müssten die Renten stabilisiert und milliardenschwere Investitionen angeschoben werden, forderte er gestern im ZDF. Und er betonte, es sei noch überhaupt nicht ausgemacht, ob es eine Regierung mit den Sozialdemokraten geben werde. Wenn ihr den Preis nicht zahlen wollt, wir müssen uns nicht verkaufen, sollte das heißen.
Allerdings weiß auch Klingbeil: Die Wähler erwarten eine stabile Regierung. Bitte kein Gewürge mehr wie bei der Ampel. Und: Sie erwarten einen Richtungswechsel. Mehr noch als in der Wirtschafts- als in der Migrationspolitik. Kommt keine Wirtschaftswende, wird das Vertrauen in die Lösungsfähigkeit der Politik weiter schwinden und damit das Vertrauen in die Demokratie. Abgesehen davon wäre es das erste Mal, dass sich die SPD der staatspolitischen Verantwortung entzöge. Bislang hat sie diese immer übernommen, wenn es darauf ankam. Auch dann, wenn klar war, dass sie nichts zu gewinnen hatte.
Das zweite Dilemma der SPD: Friedrich Merz macht Tempo, muss das angesichts der weltpolitischen Lage auch. Bis Ostern soll eine Regierung stehen. Nur heißt das für die Sozialdemokraten: Es bleibt keine Zeit, um sich neu zu sortieren, keine Zeit für langwierige Personaldebatten. Schon in der nächsten Woche will die Union Sondierungsgespräche führen. Da braucht die SPD ein starkes Verhandlungsteam. Lars Klingbeil ist daher in jedem Fall gesetzt. Nur: Warum gleich in doppelter Funktion als Fraktions- und Parteivorsitzender? Wo sind die, die tatsächlich ein neues, frischeres Gesicht der SPD prägen könnten?
Zur Wahrheit gehört auch, so viele gibt es da nicht, erst recht nicht, seit Kevin Kühnert, 35, Generalsekretär bis vergangenen Oktober, aufgegeben hat, aufgerieben von der Brutalität des Politikbetriebs. Nur, warum soll eigentlich ein Boris Pistorius, der in der Bevölkerung beliebt ist, in der Partei keine wichtigere Rolle spielen? Oder jemand wie Saarlands Ministerpräsidentin Anke Rehlinger, die regierungserprobt und pragmatisch ist?
In der Partei jedenfalls brodelt es, schreibt unser Reporter Daniel Mützel. Für die alte, neue Parteispitze bedeutet das nichts Gutes. Was sich Deutschland jetzt nicht leisten kann, ist eine SPD, die sagt: erst die Partei, dann das Land. Was die Wähler mit einer solchen Partei machen, hat die FDP gerade zu Recht erfahren. Dann könnte aus dem Wirkungstreffer ein Todesschuss für die Sozialdemokratie werden – mit fatalen Folgen für Deutschland.
Foto des Tages: Alle Macht den Männern
Das Gefühl nach der Rolle rückwärts im Schulsport – daran musste ich denken, als ich dieses Foto sah: Leicht schwindelig, erst einmal sortieren. Wo bin ich hier eigentlich? Wo ist vorn, wo hinten? Und sehe ich wirklich scharf oder hat sich da nicht doch noch, ganz verschwommen im Hintergrund jemand versteckt? Eine klitzekleine, unscheinbare Frau vielleicht? Ach, nein. Leider nicht.
Die Unionsspitzen haben gestern im Konrad-Adenauer-Haus getagt. Nichts Geringeres als die künftige Regierung, die Zukunft Deutschlands war zu besprechen. Das machen natürlich nur die ganz Wichtigen: CSU-Topleute wie Martin Huber, Markus Söder und Alexander Dobrindt (links) und die der CDU wie Thorsten Frei, Friedrich Merz, Carsten Linnemann (rechts). Gepostet hat dieses Foto Markus Söder, auf Instagram. Er schrieb dazu: "Sind bereit für einen Politikwechsel." Hoffentlich kein Politikwechsel, der eine Rolle rückwärts für Frauen bedeutet. Da waren wir schon mal weiter.
Ohrenschmaus
Bei dem Foto musste ich natürlich auch gleich noch an diesen Song von James Brown denken.
Einfluss retten
Seit die USA einen Ukraine-Deal mit Russland anbahnen, steht es nicht gut um das transatlantische Verhältnis. Deshalb ist die EU-Außenbeauftragte Kaja Kallas nun in Washington. Sie hofft auf ein Treffen mit US-Außenminister Marco Rubio. Bis zuletzt gab es dafür noch keine Bestätigung. Die Europäer tun gerade alles, um noch Einfluss auf den Deal zu nehmen.
Am Montag traf bereits der französische Präsident Emmanuel Macron den US-Präsidenten im Weißen Haus. Er will heute in einer Videokonferenz die Staats- und Regierungschefs über seine Gespräche mit Donald Trump informieren. Am Donnerstag wird dann der britische Premierminister Keir Starmer in Washington erwartet. Russlands Diktator Wladimir Putin freut sich derweil über den Riss, der durch das westliche Lager geht, und spielt auf Zeit, wie mein Kollege Patrick Diekmann analysiert.
Ein anderer Deal scheint kurz vor dem Abschluss zu stehen: Gestern Abend berichtete die britische "Financial Times", die Ukraine hätte einem Rohstoff-Deal mit den USA zugestimmt.
Was steht noch an?
Minister plus Musk: US-Präsident Donald Trump kommt das erste Mal mit seinem gesamten Kabinett zusammen. Obwohl kein offizielles Regierungsmitglied, ist auch Tech-Milliardär Elon Musk zu dem Treffen eingeladen. Musk leitet das sogenannte Doge-Gremium (Department of Government Efficiency), das Bürokratie abbauen soll. So skrupellos und radikal, wie er dabei vorgeht, führt das nun aber selbst bei einigen der Doge-Mitarbeiter zu Protesten.
Wirtschaftsplan für Europa: Die EU-Kommission will Europas Wirtschaft ankurbeln, unter anderem mit einem sogenannten Clean Industrial Deal. Der soll die Industrie beim Übergang zum klimafreundlichen Wirtschaften unterstützen. Details dazu werden heute in Brüssel bekannt gegeben.
Saisonhöhepunkt: Im norwegischen Trondheim beginnen die Nordischen Ski-Weltmeisterschaften. Am ersten Tag der Titelkämpfe, die bis zum 9. März dauern, stehen Qualifikationen im Langlauf auf dem Programm. Am Abend startet die offizielle Eröffnungsfeier. Die ersten Medaillen werden dann am Donnerstag vergeben. Alle wichtigen Infos dazu finden Sie in unserem Newsblog.
Das historische Bild
1999 machte die Stadt Bethel in den USA von sich reden, dort entstand der größte Schneemann der Welt. Mehr lesen Sie hier.
Lesetipps
Oder besser eine Minderheitsregierung? Zu groß sind die Gräben zwischen Union und SPD, um gemeinsam die großen innen- und außenpolitischen Probleme zu lösen. Dieser Überzeugung ist der Historiker Michael Wolffsohn, weshalb er im Interview mit meinem Kollegen Marc von Lüpke etwas für Deutschland Ungewöhnliches fordert.
Mission Kanzleramt: Drei Jahre lang hat Carsten Linnemann die CDU unter Friedrich Merz restauriert. Jetzt ist der Generalsekretär kurz vor dem Ziel. Dennoch könnte das Wahlergebnis ihn vor Schwierigkeiten stellen, schreibt Chefreporterin Sara Sievert.
Jetzt also doch: Ein neuer Bundestag ist gewählt, doch womöglich könnte der alte noch eine wichtige Entscheidung treffen. Eine, gegen die die Union sich bislang gewehrt hatte. Es geht um Milliardenbeträge für die Bundeswehr – und um ein brisantes Vorgehen. Das beschreiben meine Kollegen aus dem Hauptstadtbüro.
Zum Schluss
Da hilft der SPD auch keine Autosuggestion mehr ...
Ich wünsche Ihnen einen wunderbaren Mittwoch. Morgen schreibt Florian Harms wieder für Sie.
Herzliche Grüße
Ihre Heike Vowinkel
Textchefin t-online
X: @HVowinkel
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Mit Material von dpa.