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Zum journalistischen Leitbild von t-online.SPD-Urgestein warnt Parteispitze "Das ist eine Art Selbstermächtigung"
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Die SPD erlebte bei der Wahl eine historische Klatsche, doch für eine Aufarbeitung scheint kaum Zeit. Der frühere Wahlkampfmanager der SPD, Matthias Machnig, hält das für fatal – und wirft der Parteispitze "Bonapartismus" vor.
16,4 Prozent, das schlechteste Ergebnis seit 140 Jahren: Die Bundestagswahl hat die älteste Partei Deutschlands in eine tiefe Krise gestürzt. Doch in der SPD scheint bisher kaum jemand Verantwortung für die Wahlschlappe übernehmen zu wollen. Einer ausgedehnten parteiinternen Nabelschau stehen auch die bald beginnenden Koalitionsgespräche mit der Union entgegen: Die SPD will bei den Verhandlungen nicht geschwächt auftreten, vermeidet daher kräftezehrende Personaldebatten.
Der ehemalige Wirtschaftsminister von Thüringen und Ex-Staatssekretär im Bundeswirtschaftsministerium, Matthias Machnig, warnt seine Partei davor, einfach zur Tagesordnung überzugehen. Sollte die SPD jetzt keinen umfassenden Erneuerungsprozess einläuten, drohe sie zur "reinen Funktionspartei" zu werden, so das SPD-Urgestein im Interview mit t-online. Der Parteispitze wirft er zudem vor, sich nicht kritisch selbst zu überprüfen – und stattdessen an die eigene Karriere zu denken.
t-online: Herr Machnig, wie würden Sie die Lage der SPD nach der Wahlniederlage beschreiben?
Matthias Machnig: Adi Preißler, einer der Kult-Trainer von Borussia Dortmund, hat einen wichtigen Satz geprägt: "Entscheidend is‘ auf‘m Platz". Die Realität der SPD heißt: Es ist das schlechteste Ergebnis seit 1887, eine verheerende Niederlage. Es geht jetzt auch um die Substanz der SPD. Die SPD verliert in alle politische Richtungen. Sie droht zur Allerweltspartei und zur Funktionspartei zu werden.
Wer trägt Verantwortung für die Wahlniederlage?
Es geht nicht um einzelne Personen. Aber es ist doch befremdlich, dass es nach solch einem Ergebnis keinen Moment des Innehaltens gibt, keine kritische Selbstüberprüfung oder Selbstreflektion. Robert Habeck hat Verantwortung übernommen, Christian Lindner auch. Nur in der SPD gibt es ein Weiter-So. Es geht den Verantwortlichen erkennbar eher darum, ihre Position abzusichern und die eigenen Karrierepfade weiterzuentwickeln.
Am Sonntagabend verkündete Parteichef Lars Klingbeil einen "Generationswechsel" und personelle Konsequenzen. Noch in der Nacht griff er nach dem Fraktionsvorsitz, baute seine Machtstellung in der Partei also weiter aus. Wie bewerten Sie das?
Ich hätte erwartet, dass der Parteivorsitzende beziehungsweise die Parteivorsitzenden selbst zu dem Ergebnis gekommen wären, dass Nachdenken und Selbstreflektion vor Aktionismus stehen. Stattdessen hat Klingbeil das politische Vakuum in der Nacht zu seinen Gunsten genutzt. Das ist eine Art Selbstermächtigung oder gar Bonapartismus. Ob das der SPD langfristig nutzt oder schadet, ist eine mehr als offene Frage.
Was hätte die SPD-Spitze Ihrer Meinung stattdessen machen sollen – zurücktreten?
Zunächst: Im Parlament gibt es eine rechnerische Mehrheit von konservativen und völkisch-nationalen Kräften. Das wird die politische Statik und Kultur in Deutschland grundlegend verändern. Aktionismus und Flucht nach vorne sind darauf keine Antwort.
Auch Klingbeils Co-Chefin Saskia Esken will im Amt bleiben. Welches Signal sendet das?
Das widerspricht sogar den Selbstankündigungen von Lars Klingbeil, einen personellen Wechsel einzuleiten. Viele in der SPD nehmen das mit Kopfschütteln zur Kenntnis. Angesichts von 16 Prozent und einer Koalition mit der Union, die der SPD schmerzhafte Kompromisse abfordern wird, haben viele SPD-Mitglieder Angst um die Zukunft der Sozialdemokratie. Aber der Eindruck, der sich festgesetzt hat, ist: Die SPD geht zur Tagesordnung über, sie will sich mit den Ursachen und den Konsequenzen des Wahlergebnisses nicht beschäftigen.
Bisher trauen sich nur wenige Sozialdemokraten, das öffentlich zu kritisieren. Ist die SPD zu brav geworden?
Die SPD hatte in den letzten Jahren kein System von "Checks und Balances". Die SPD muss immer mehr sein als ein Kanzlerverein oder ein Koalitionsverein. Darauf darf sie sich nicht reduzieren lassen, sonst wird sie unvermeidlich zur reinen Funktionspartei. Eine sozialdemokratische Partei braucht die Debatte, das Ringen um die besten Antworten und ein diskursives offenes Klima. Geschlossenheit darf nie zu einem führen: dass eine Partei monolithisch wird.
Bis zuletzt hoffte man im Willy-Brandt-Haus auf die Wahlwende. Warum zündete die SPD-Kampagne Ihrer Ansicht nach nicht?
Neulich habe ich in einer SPD-Chatgruppe gefragt, wofür und für was die SPD eigentlich Wahlkampf macht. Außer einem Hinweis auf das Wahlprogramm habe ich keine Antwort bekommen. Das war symptomatisch für das Gefühl vieler in der SPD. Sie fragten sich: Was sind die Themen, die die SPD im Wahlkampf priorisiert und offensiv vertritt?
Die SPD hat sich für stabile Renten, gerechte Löhne, sichere Industriearbeitsplätze stark gemacht. Zählt das nicht?
Die SPD muss in der Lage sein, eigenständig Themen zu setzen und damit Debatten auszulösen. In allen Themen war die SPD reaktiv. Auch die Ästhetik der Kampagne war von vorvorgestern. Die Plakatmotive mit den Deutschlandflaggen erinnerten an die Kampagne von Helmut Kohl. Damit erreicht man heute niemanden.
Ist die SPD noch eine Volkspartei?
In manchen Bundesländern haben wir gerade noch zehn Prozent plus erreicht. Selbst im Ruhrgebiet wird die AfD immer stärker. Eine Volkspartei muss nicht nur die gesamte Bandbreite an Themen abdecken, sie muss auch eine soziale und regionale Verankerung haben. Das erodiert gerade mit enormer Geschwindigkeit. Die SPD-Fraktion im Bundestag hat 100 Abgeordnete weniger, das sind 100 weniger Personen, die in der Fläche vorhanden sind. Mit 16 Prozent Stimmanteil erhält die SPD auch weniger Mittel aus der Parteienfinanzierung, was bedeutet, dass wir Parteiarbeit an vielen Orten einstellen müssen.
Hat Lars Klingbeil das Zeug dazu, die SPD aus der Krise führen?
Die SPD braucht ein politisches und organisatorisches Godesberg. Das ist nicht allein die Aufgabe einer einzelnen Person. Sondern von allen Führungsgremien, Gliederungen und Ebenen der Partei. Handlungsfähigkeit darf Zukunftsfähigkeit nicht ersetzen.
Wie genau soll das gehen?
Es muss ein Erneuerungsprozess eingeläutet werden, bei dem wir uns inhaltlich, programmatisch und organisatorisch neu erfinden. Wir müssen uns fragen, wie wir neue Mitglieder gewinnen und wie wir wieder eine Partei werden, die intellektuell und kulturell spannend ist, und die Debatten anstößt.
Sollte Boris Pistorius mehr Führung in der SPD übernehmen?
Pistorius sollte auch weiterhin eine wichtige Rolle spielen, in einer möglichen Regierung und in der Partei. Er ist ein hervorragender Verteidigungsminister und ein Sympathieträger. Er spricht die Sprache vieler Menschen und ist glaubwürdig.
Ist eine Koalition mit der Union ein Risiko oder auch eine Chance?
Die SPD ist auf dem Weg in eine Zwangskoalition, weil es dazu keine Alternativen gibt. Die große Gefahr besteht darin, dass ein Koalitionsvertrag geschlossen wird, der der Binnenlogik der Parteien entspricht, aber die Probleme im Land nicht adressiert und nicht löst. Der propagierte Richtungswahlkampf hat keine Richtungsentscheidung gebracht. Die Aufgabe einer neuen Regierung ist, ökonomisches und soziales Vertrauen und ein Vertrauen in die Handlungsfähigkeit des Staates und seiner demokratisches Institutionen wiederherzustellen. Scheinkompromisse und Scheinlösungen helfen dabei nicht.
Herr Machnig, vielen Dank für das Gespräch.
- Gespräch mit Matthias Machnig