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Was Meinungen von Nachrichten unterscheidet.Tagesanbruch Ein neuer Albtraum beginnt
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Angesichts der immer gleichen Nachrichten vom Krieg in der Ukraine ist ein Missverständnis entstanden: Viele Menschen haben den Eindruck, es bewege sich dort nichts mehr. Töten und Sterben in Endlosschleife, sinnlos, perspektivlos, stagnierend – so stelle sich das Elend in den Schützengräben dar. Dieser Eindruck vom Stillstand könnte nicht falscher sein.
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Das Schlachtfeld dieses Winters hat mit dem von früher wenig gemein, wobei früher die Zeit vor sechs Monaten meint. Der Krieg hat dystopische Züge angenommen, denn seit dem Herbst verbreitet sich eine neue Waffe: Der Himmel hängt nun voll mit Drohnen, die aus der Ich-Perspektive gesteuert werden. Ihre Lenker am Boden sehen auf den Monitoren ihrer Fernsteuerungen den Gegner vor sich wie in einem Videospiel. Sie lassen ihre Geschosse im Kamikazeangriff auf Panzer und Soldaten stürzen, dringen durch Fenster in Gebäude ein und töten ihre Opfer im Schlaf.
Die fliegenden Bomben, kombiniert mit Schwärmen von Beobachtungsdrohnen, erzeugen gläserne Schlachtfelder – insbesondere am Tag und erst recht jetzt im Winter, in dem keine Blätter an den Bäumen Schutz vor Entdeckung bieten. Anders als die grobschlächtige Artillerie können Drohnenpiloten zentimetergenau zuschlagen.
Während die Technologie enorme Sprünge macht, ähnelt das Schicksal der Getroffenen dem Elend vergangener Jahrhunderte. An manchen Frontabschnitten ist das Verlassen der eigenen Stellung nur noch im Schutz der Dunkelheit möglich. Die Konsequenzen sind schlimm: Wer morgens schwer verwundet wird, muss bleiben, wo er ist, und stirbt qualvoll. Wen es abends erwischt, der kann unentdeckt ins Lazarett gekarrt werden. Ob Verwundeten geholfen wird, ist zu einer Frage der Uhrzeit geworden. "Das ist die Hölle", berichtet der Militärexperte Markus Reisner. "Wir erleben eine Menschenjagd auf einzelne Personen."
Die lautlosen Waffen erscheinen in vielerlei Gestalt. Auf Panzern entdeckt man Kästen mit Antennen. Weiter entfernt von der Front erheben sich hohe Masten. Von Lkw recken sich ausfahrbare Kräne mit Gerätschaften in den Himmel, um deren Reichweite zu erhöhen. An Kampfjets hängen stromlinienförmige Boxen, die geräuschlose Salven abfeuern.
So wandelbar wie die äußere Erscheinung der Waffen ist auch das, was die Elektronik im Inneren tut. Manche Geräte sollen die Fernsteuerung der feindlichen Drohnen unterbrechen, andere sollen derlei Störmanöver unterbinden. Gleitbomben oder Präzisionsraketen, die mit GPS ihren Weg ins Ziel finden, werden von Störsendern aus der Bahn gebracht. Elektromagnetische Impulse verwirren das gegnerische Flugabwehrradar und täuschen einen Drohnenstart oder einen Raketenabschuss vor. Die Verteidiger treten daraufhin in Aktion und offenbaren ihre eigene Position – prompt regnen die echten Raketen auf sie nieder. Zugleich schlüpfen Flugkörper durch das Netz der irritierten Abwehr und treffen Ziele tief im Hinterland.
Das russische Militär beherrschte diese Disziplin schon immer sehr gut, nun bringt es seinen Vorsprung in der Ukraine voll zur Geltung. Westliche Systeme wie die mobilen Himars-Raketenwerfer, hochmodern und sündhaft teuer, verfehlen immer öfter ihr Ziel. Vor Hightech-Angriffen ist deshalb Handarbeit vonnöten. Um Putins Schwarzmeerflotte mit Lenkwaffen zu treffen, stiegen ukrainische Marinekommandos zuerst in ihre Nussschalen und attackierten Bohrinseln im Schwarzen Meer. Denn dort waren die Störsender montiert, die den Angreifern elektronisch den Weg verstellten.
Der ukrainische Oberkommandierende Walerij Saluschnyj hat den Wettlauf bei der Drohnentechnologie schon vor Monaten als kriegsentscheidend eingestuft. Putins Tüftler sehen das offenkundig genauso. Dabei werfen sie die letzten ethischen Leitplanken über Bord. Der intelligente Killerroboter, der ohne menschliche Lenkung selbstständig entscheidet, was er auslöschen will, rauscht in der Luft bereits heran – jedenfalls wenn man den vollmundigen Behauptungen russischer Waffenschmiede Glauben schenkt. Da schwingt viel Propaganda mit, doch eines ist klar: Die künstliche Kriegsintelligenz hat das Zeug zum Albtraum.
Der praktische Nutzen autonomer Waffen, die sich ihre Ziele selbst suchen, ist nicht von der Hand zu weisen. Schließlich laufen Störmanöver, die die Verbindung zwischen Drohne und Pilot kappen sollen, ins Leere, wenn eine solche Verbindung nach dem Start gar nicht mehr nötig ist. Die Drohne macht alles allein – und tötet, wie ihre Software es befiehlt. Man kann das vorteilhaft finden, solange man für seine Horde die Keule schwingt. Als Mensch läuft es einem eiskalt den Rücken hinunter.
Noch sind die russischen Entwickler nicht so weit. An anderer Stelle aber schon fast: Sobald nachtsichtfähige Drohnen zum Einsatz kommen, wird der Schrecken in den Schützengräben auch in der Dunkelheit nicht mehr nachlassen. Zugleich wird das Ringen um die elektronische Lufthoheit über den Ausgang des Krieges entscheiden. Im Westen gelten selbstständige Tötungsmaschinen noch immer als Tabu. Künstliche Intelligenz soll nur bei der Beurteilung unübersichtlicher Situationen helfen, darf bei der Zielfindung zum Einsatz kommen, soll die abschließende menschliche Entscheidung unterstützen. Unproblematisch ist auch das nicht.
Doch auf der russischen Seite der Front ist das Tabu gefallen. Nur technische Tücken haben bisher verhindert, dass die Schwelle zum voll automatisierten Töten überschritten wird. Das dürfte sich bald ändern, und danach gibt es kein Zurück mehr. Armeen rund um den Globus werden nachziehen, um nicht unterlegen zu sein. Es ist die gefährlichste Entwicklung seit der Erfindung der Wasserstoffbombe.
Nein, von Stillstand kann im Ukraine-Krieg keine Rede sein. Das Innovationstempo ist irrwitzig. Bei der Frage, wie der Mensch am effektivsten des Menschen Wolf sein kann, geht es rasend schnell voran. Das wirft eine Frage von viel grundsätzlicherer Art auf als jene, ob man den Ukrainern Taurus-Marschflugkörper liefern soll oder nicht. Diese Frage muss man sich nun überall auf der Welt stellen: Soll der Mensch die Kontrolle über die Maschinen behalten oder nicht?
Brutale Liberale
Erinnern Sie sich an die Textilfabrik in Bangladesch, bei deren Einsturz mehr als 1.100 Menschen starben? Fast elf Jahre ist das jetzt her. So lange hat es auch gedauert, bis sich die EU-Staaten zu einem Lieferkettengesetz durchgerungen haben. Es soll Ausbeutung, Kinderarbeit, Klimaschäden und lebensgefährliche Produktionsprozesse verhindern und würde das Leben von Millionen Menschen verbessern – also nichts, was FDP-Politikern sonderlich am Herzen läge. Finanzminister Christian Lindner und Justizminister Marco Buschmann haben die EU-Richtlinie im letzten Moment blockiert, angeblich, weil sie "bürokratisch" sei. Eher dürfte eine Lobby dahinterstecken. In Momenten wie diesen wünscht man sich, dass Politiker für einen kurzen Moment ihr Berliner Sofa verlassen, um sich im Ausland anzuschauen, welche brutalen Folgen ihr Zynismus hat.
Was denn jetzt?
Im Bundestag steht heute mit mehrwöchiger Verspätung die Verabschiedung des Haushalts 2024 auf der Tagesordnung – und damit auch die Abstimmung über die schrittweise Abschaffung der Agrardiesel-Subventionen bis zum Jahr 2026. Endgültig vom Tisch ist das Thema damit allerdings immer noch nicht: Entgegen den ursprünglichen Plänen der Ampelregierung befasst sich der Bundesrat nicht am selben Tag mit dem Gesetz; CDU und CSU haben das verhindert. Aber auch aus den eigenen Reihen gibt es Widerstand: Die SPD-geführten Bundesländer Mecklenburg-Vorpommern, Niedersachsen und Saarland möchten die Subventionen langsamer abbauen als der Kanzler. Was die Genossen wirklich wollen, wissen sie wohl selbst nicht mehr.
Die gute Nachricht
Hier gibt es immerhin mal eine Einigung zu verkünden: Nach monatelangen Verhandlungen haben sich Bund und Länder auf ein milliardenschweres Programm für Brennpunktschulen verständigt. 4.000 Schulen sollen über zehn Jahre 20 Milliarden Euro bekommen, um Schüler aus sozial schwachen Familien zu fördern. Weil der Schulerfolg von Kindern hierzulande vom Elternhaus abhängt, ist das eine überaus sinnvolle Investition.
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Geldgierige Fußballstars folgten dem Mammon nach Saudi-Arabien. Nun wollen sie Hals über Kopf zurück. Mein Kollege William Laing kennt die Hintergründe.
Zum Schluss
Auf die Deutsche Bahn ist Verlass: Sie zeigt sich solidarisch und steht selbst dann, wenn sie eigentlich fahren könnte. Weil Bauern, Flughafenmitarbeiter und Busfahrer streiken, wollte sich wohl auch der Lokführer meines ICE gestern Abend nicht lang bitten lassen. Auf der Fahrt durch die Pampa geriet er mit einem Wildschwein aneinander, vor dem sich sogar Obelix gefürchtet hätte. Also entschied er sich für den Stillstand und ließ den gesamten Zug evakuieren. Tatsächlich war mir exakt dasselbe Malheur schon vor zwei Wochen widerfahren, und zwar exakt an derselben Stelle in derselben Pampa. Hoffentlich bauen die Bahnchefs da schnell einen Zaun. Die armen Schweinchen.
Herzliche Grüße und bis morgen
Ihr
Florian Harms
Chefredakteur t-online
E-Mail: t-online-newsletter@stroeer.de
Mit Material von dpa.
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