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Corona-Regelchaos in Deutschland: Welches Rezept gegen Ignoranz hilft


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Die subjektive Sicht des Autors auf das Thema. Niemand muss diese Meinung übernehmen, aber sie kann zum Nachdenken anregen.

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Was heute wichtig ist
Endlich ein neuer Corona-Plan

MeinungVon Florian Harms

Aktualisiert am 26.08.2020Lesedauer: 7 Min.
Bundeskanzlerin Merkel warnt vor Nachlässigkeit bei den Corona-Regeln.Vergrößern des Bildes
Bundeskanzlerin Merkel warnt vor Nachlässigkeit bei den Corona-Regeln. (Quelle: Christophe Simon/Pool Photo/ap)

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WAS WAR?

Eine Demokratie braucht starke Repräsentanten, aber Sesselsitzer braucht sie nicht. 598 Abgeordnete sollen planmäßig im Bundestag sitzen – de facto sind es 709, in der nächsten Legislaturperiode könnten es sogar mehr als 800 werden. Das liegt am komplizierten System der Überhang- und Ausgleichsmandate, dessen Erklärung ich Ihnen heute Morgen erspare. Aber so viel können Sie mir glauben: Es ist nicht nur ziemlich teuer (fast eine Milliarde Euro pro Jahr), sondern auch organisatorischer Käse, dass Deutschland sich nach China das zweitgrößte Parlament der Welt leistet. Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble hat bereits überlegt, Container vor dem Reichstagsgebäude aufstellen zu lassen, um all die Leute unterzubringen.

Die Oppositionsparteien Grüne, FDP und Linke haben einen Vorschlag zur Verkleinerung des Bundestags eingebracht, aber der schmeckte den Regierungsfraktionen nicht. Monatelang stritten CDU/CSU und SPD über die Details der Wahlrechtsreform, keine Seite wollte nachgeben, denn weniger Sitze bedeuten auch weniger Einfluss, weniger Macht und weniger Pfründe. Wäre das noch ein paar Wochen so weitergegangen, hätten wir im Herbst kommenden Jahres ein Mammut-Parlament gewählt, schließlich muss die Abstimmung ja vorbereitet werden.

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Die Einigung beim Koalitionsgipfel gestern Nacht kam also quasi in letzter Minute, auch wenn es nur eine Notnagel-Einigung ist. Um halb zwölf verkündeten die Parteivorsitzenden Annegret Kramp-Karrenbauer (CDU), Markus Söder (CSU), Saskia Esken (SPD) und Norbert Walter-Bojans (dito): Im September 2021 soll der Bundestag zwar nicht kleiner, aber immerhin auch nicht größer werden. Es bleibt bei 299 Wahlkreisen, die Überhangmandate werden aber teilweise mit Listenmandaten derselben Partei verrechnet. Wenn Sie das Kosmetik nennen, ernten Sie von mir keinen Widerspruch.

Und die echte Reform? Ist erst für die übernächste Bundestagswahl anno 2025 geplant, dann will man die Zahl der Wahlkreise auf 280 verringern. Aber wie genau soll das gehen, welche Bundesländer bekommen dann weniger Volksvertreter zugesprochen? Wissen die Koalitionäre ebenso wenig wie Sie und ich, weshalb sie tun, was sie immer tun, wenn sie ein unangenehmes Thema endlich vom Tisch haben wollen: Sie schieben es in eine Reformkommission. Wundern Sie sich also bitte nicht, wenn der Streit irgendwann wieder losgeht.


WAS STEHT AN?

Einen Plan zu haben, ist eine feine Sache. Man weiß, was man tut, kann andere Leute darauf einschwören, und falls der Plan misslingt, macht man halt einen neuen. Keinen Plan zu haben, ist doof. Man weiß nicht, was man tun soll, verwirrt andere Leute, und wenn die Dinge aus dem Ruder laufen, bricht schnell Chaos aus. Eine Binsenwahrheit? Na klar – aber anscheinend trotzdem schwer zu beherzigen.

Seit einem halben Jahr ringt Deutschland mit dem fiesen Virus, und aufs Ganze gesehen haben wir das alle miteinander ziemlich gut geschafft. Wir haben die Ausgangsbeschränkungen ebenso verkraftet wie harte Einschnitte in unseren Alltag, viele von uns haben auch berufliche Verluste erduldet. Die Mehrheit hält sich, wie von der Bundeskanzlerin, dem Bundespräsidenten und anderen wichtigen Leuten gefordert, an die Hygieneregeln: Abstand halten, Hände waschen, bei engem Kontakt Maske tragen und so weiter. Anfangs schweißte der gemeinsame Kampf gegen die Pandemie die Menschen zwischen Flensburg und Füssen, Dresden und Duisburg zusammen – doch in den Sommerwochen begann der Zusammenhalt zu bröckeln, und das hat nicht nur etwas mit Urlaubsstimmung, Nachlässigkeit oder Leichtsinn zu tun. Es liegt auch nicht allein an der verwirrenden Fülle wissenschaftlicher Studien, die heute dies verkünden und morgen jenes. Es liegt zu einem großen Teil am Unvermögen der politischen Entscheidungsträger, einen klaren Weg einzuschlagen. Der Eindruck drängt sich auf: Die haben keinen Plan.

Oder wie sonst ist es zu erklären, dass Kanzlerin, Ministerpräsidenten, Bundes- und Landesminister immer noch keine Strategie vorweisen können, wie es in den kommenden Monaten in Corona-Deutschland weitergehen soll? Ein kurzer Blick in den Kalender dürfte eigentlich genügen, um festzustellen: Hoppla, auf den Juni, Juli und August folgen ja der September, Oktober und November! Sind das nicht diese Herbstmonate, in denen es häufig regnet, stürmt und frostet, in denen sich die Mehrzahl der Menschen also überwiegend in geschlossenen Räumen aufhält – was angesichts steigender Fallzahlen ein Risiko sein kann? Pfiffige Geister hätte dieser Geistesblitz womöglich schon nach dem ersten Corona-Schock im Frühjahr ereilen können. Zeit genug zum Pläneschmieden wäre jedenfalls gewesen.

In Demokratien braucht die Entscheidungsfindung Zeit. Die öffentliche Debatte in Parlamenten, Medien und Talkshows soll die Vielfalt aus Meinungen, Bedenken und Wünschen in Millionen Wohnzimmern bündeln. Aber irgendwann ist der Punkt erreicht, an dem entschieden werden muss, und dieser Punkt ist überschritten. Statt Klarheit herrscht Corona-Kakophonie.

Die Widersprüche der Corona-Regeln in Deutschland kann jeder sehen, der sie sehen will: Ist es sinnvoll, dass Schüler in Nordrhein-Westfalen während des Unterrichts Masken tragen müssen, andernorts aber nicht? Versteht irgendjemand, dass Maskenverweigerer in Baden-Württemberg 250 Euro Strafe berappen müssen, in Hamburg nur 40 und in Brandenburg keinen Cent? Ist es logisch, dass in manchen Bussen und Bahnen streng kontrolliert wird, in vielen anderen aber nicht? Warum sind unabhängig von aktuellen Infektionszahlen private Feiern in Kiel auf 50 Gäste beschränkt, in NRW aber auf 150 – und lässt sich das überhaupt kontrollieren? War es durchdacht, Reiserückkehrer aus Risikogebieten einer Testpflicht zu unterziehen und die Steuerzahler dafür löhnen zu lassen – die Praxis nun aber plötzlich einzustellen? Ist dies eine Folge medizinischer Einsicht oder liegt es nur daran, dass die Labore völlig überlastet sind? Hätte man das nicht vorher absehen können? Versteht jemand, der sich am 11.11. ausdrücklich keine Pappnase aufsetzen mag, dass wir ernsthaft darüber diskutieren, in Pandemiezeiten Karneval zu feiern? Aber auch eine andere Frage kann man stellen. Ist es angemessen, dass Frau Merkel, Herr Spahn und Herr Söder ständig die Corona-Gefahren beschwören, während viele junge Menschen und auch zahlreiche Bürger in Ostdeutschland den Eindruck haben: Uns ficht das gar nicht an – weil wir nicht zur Risikogruppe zählen und an unserem Wohnort kaum Infektionen auftreten? Ist den Regierenden bewusst, dass viele dieser Menschen den Eindruck haben: Die da oben kümmern sich doch nur noch um den Schutz von Senioren und um Regionen mit hohen Fallzahlen wie Herrn Söders Bayern?

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Keine dieser Fragen ist leicht zu beantworten, aber beantwortet werden müssen sie – so oder so. Und ein einheitlicher Plan wäre der Schlüssel. Föderalismus schön und gut, aber vor dem Corona-Herbst braucht Deutschland Klarheit, wohin die Reise gehen soll. Das Virus ist tückisch und gerade deshalb so gefährlich, weil es erstens noch nicht vollständig erforscht ist, zweitens noch kein Impfstoff vorliegt und drittens die Behandlung mit Medikamenten unsicher ist. Die Rücksicht gegenüber unseren Mitmenschen gebietet es, sich in der Öffentlichkeit an Hygieneregeln zu halten, von denen der Abstand die wichtigste ist. Doch Solidarität ist eine wankelmütige Eigenschaft, sie klingt schnell ab, wenn immer mehr Menschen den Eindruck haben, dass die Entscheidungsträger zwar täglich mit erhobenem Zeigefinger zur Disziplin ermahnen – aber selbst nicht so genau wissen, wie ihre Appelle eigentlich umgesetzt werden sollen.

Zu Beginn der Pandemie ist es Bundeskanzlerin Merkel gelungen, die Bevölkerung mit ihrer TV-Ansprache auf Achtsamkeit und Rücksichtnahme einzuschwören. Heute verfängt ihre Autorität nur noch in Teilen der Bevölkerung. Werden aber die anderen Teile auf dem Weg in den Herbst nicht mitgenommen, droht in der Gesellschaft eine Kluft aufzubrechen, an deren Rändern die Bürger sich bald anschreien, statt miteinander zu diskutieren. Dann haben es die Rücksichtslosen, Verschwörer und Aufwiegler umso einfacher.

Ich denke, das Rezept gegen Ignoranz und Chaos besteht aus drei Zutaten: Empathie, Klarheit und Durchsetzungskraft. Falls die Kanzlerin, der Gesundheitsminister und die Ministerpräsidenten das bei ihrem Treffen morgen nicht beherzigen, dürfte der Herbst ziemlich ungemütlich werden.


Im Berliner Prozess gegen Clan-Chef Arafat Abou-Chaker und drei seiner Brüder wird heute die Zeugenaussage des geschädigten Rappers Bushido erwartet. Dem Hauptangeklagten werden schwere räuberische Erpressung, Freiheitsberaubung, gefährliche Körperverletzung, Nötigung, Beleidigung und Untreue zur Last gelegt. Die Brüder sind als Mittäter oder Gehilfen angeklagt. Mehr dazu im "Tagesspiegel".


WAS LESEN?

Wenn eine Corona-Leugnerin plötzlich selbst ernsthaft an Covid-19 erkrankt: Was geschieht dann wohl? Unser Rechercheur Lars Wienand ist einer bemerkenswerten Geschichte nachgegangen.


Ein Text unserer Finanzredakteurin Christine Holthoff hat für Furore gesorgt: 30-jährige Frauen sollten mindestens 52.000 Euro beiseitelegen, um später im Alter ihren Lebensstandard zu halten, schrieb sie. "Weltfremd!", "zynisch!", hagelte es da an Kommentaren – eine Steilvorlage für meine Kollegin, ihre These zu verteidigen.


Tesla baue die Autos der Zukunft, schwärmen Fans der E-Flitzer, dagegen sähen deutsche Hersteller uralt aus. Stimmt das wirklich? Unser Autoredakteur Markus Abrahamczyk hat einen Insider gefragt, was Tesla wirklich kann – und was nicht.


Hauptfeldwebel Sebastian (dessen Nachnamen ich Ihnen aus Sicherheitsgründen nicht verraten darf) ist bereits zum zweiten Mal für die Bundeswehr im Irak. Was erlebt er dort und warum hält er den Einsatz für sinnvoll? Zwei Fragen, die man ihm stellen könnte – aber Sie haben bestimmt noch bessere: Hier können Sie dem Bundeswehrsoldaten Ihre Fragen stellen. In unserem Videoformat "Frag mich" wird er sie beantworten.


Jeden Monat 1.200 Euro erhalten, ohne dafür einen Finger zu krümmen: Kann die Idee des bedingungslosen Grundeinkommens funktionieren? Unsere Kolumnistin Ursula Weidenfeld hat sich das Experiment des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung genauer angesehen.


Erinnern Sie sich an Philipp Amthor? Genau, der Jungspund mit Einstecktuch, der in der Politik groß rauskommen wollte, sich aber in einer Lobby-Affäre verhedderte. Unser Rechercheur Jonas Mueller-Töwe hat in dem Fall neue Details gefunden, in denen es um Verkehrsminister Andreas Scheuer geht.


WAS AMÜSIERT MICH?

Also ehrlich, auf diesen Plan kann ich verzichten:

Ich wünsche Ihnen einen schönen Tag und stets einen guten Plan.

Herzliche Grüße,

Ihr

Florian Harms
Chefredakteur t-online.de
E-Mail: t-online-newsletter@stroeer.de

Mit Material von dpa.

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