Die subjektive Sicht des Autors auf das Thema. Niemand muss diese Meinung übernehmen, aber sie kann zum Nachdenken anregen.
Was Meinungen von Nachrichten unterscheidet.Was heute wichtig ist Ein Funke genügt, dann kracht’s
Guten Morgen, liebe Leserinnen und Leser,
herzlichen Dank für die vielen netten Zuschriften der vergangenen Tage. Ich freue mich immer über Anregungen, Lob und Kritik. Hier ist der kommentierte Überblick über die Themen des Tages:
WAS WAR?
Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben. Und wer in der Wissenschaft nicht penibel arbeitet, den bestraft die Uni, indem sie zu spät kommt. So kommt es, dass Franziska Giffey, Familienministerin und große Nachwuchshoffnung der SPD, nicht für den Parteivorsitz kandidieren konnte. Dabei hätte sie sehr gute Chancen gehabt, erst recht im Doppel mit Generalsekretär Lars Klingbeil. Aber die Freie Universität Berlin ließ sich quälend lange acht Monate Zeit, die Plagiatsvorwürfe gegen Giffeys Doktorarbeit zu prüfen. Ein Schelm, wer Böses dabei denkt. Erst gestern verkündete die Uni ihr Urteil: Die Dissertation hat zwar Mängel, aber einen Titelentzug rechtfertigen die nicht. Die Ministerin kann aufatmen. Doch die SPD retten kann sie nun nicht mehr, das Verfahren ist fast durch. Das ist tragisch. Wenige Spitzenpolitiker haben die Gabe, so geradlinig, unverkrampft und empathisch auf Menschen zuzugehen wie die Wahlberlinerin aus Frankfurt an der Oder.
In Chile löst eine Preiserhöhung auf U-Bahn-Tickets eine Rebellion aus: Brennende Barrikaden, Tote und Verletzte, gestern musste Präsident Sebastián Piñera den Asien-Pazifik-Gipfel im November und die Weltklimakonferenz im Dezember absagen. Im Libanon provoziert eine Steuer auf WhatsApp-Gespräche einen Aufstand: Hunderttausende gehen auf die Straßen, zwingen Premierminister Saad Hariri zum Rücktritt. Mehr als 13.000 Kilometer liegen zwischen den Hauptstädten Santiago und Beirut, trotzdem weisen die Protestbewegungen in den beiden Ländern Gemeinsamkeiten auf. Hier wie dort hat ein Funke genügt, um das Feuer der Revolte zu entfachen. Hier wie dort war die Glut Jahr für Jahr mit Frust und Empörung geschürt worden: über Regierungsvertreter, die sich selbst und Großkonzernen die Taschen vollmachen, statt der Bevölkerung zu dienen.
Chiles Staatschef und Libanons Regierungschef sind beide Milliardäre, während viele ihrer Landsleute von der Hand in den Mund leben. Herr Piñera trieb die neoliberale Politik des früheren Diktators Pinochet auf die Spitze: Vom Trinkwasser über den Strom bis zum Bildungs-, Gesundheits- und Rentensystem hat der Staat fast alles privatisiert, was einen Staat eigentlich ausmacht – und die Firmen trieben die Preise in die Höhe, um ihre Profite zu mehren. Sie leiten das Wasser auf die Avocado-Plantagen, während Flüsse und Seen austrocknen, Menschen dürsten oder an Brackwasser erkranken. Ein Film der Heinrich-Böll-Stiftung dokumentiert die Krise. De facto gehört der Staat heute Großkonzernen wie Codelco, Copec und Enersis.
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Im Libanon sah der einstige Hoffnungsträger Hariri dem Verfall der Wirtschaft zu. Korruption, Nepotismus und Inkompetenz haben den Behördenapparat nahezu zum Erliegen gebracht. Strom, Wasser, Müllabfuhr: Nichts funktioniert. Im Süden wirtschaften die religiösen Stiftungskonzerne der schiitischen Hisbollah auf eigene Rechnung, im Norden und im Zentrum des Landes dirigieren sunnitische und christliche Clanchefs ihre Familien-Holdings – und kaum einer denkt ans Gemeinwohl. Hinzu kommt die enorme Schuldenlast von mehr als 150 Prozent des Bruttoinlandsprodukts, von den religiösen Konflikten und den vielen syrischen Flüchtlingen ganz zu schweigen. "Von all dem Geld, das der Staat in Form von Schulden aufgetürmt hat, kommt kaum noch etwas da an, wo es gebraucht wird", sagt Heiko Wimmen von der International Crisis Group. "Die Wut der Bewegung richtet sich nicht nur auf einzelne Personen, sondern auf die gesamte politische Führungselite."
Chile und der Libanon: Zwei Länder in Regionen, die kaum unterschiedlicher sein könnten, und doch etwas gemeinsam haben: Ihre Bevölkerungen sind Opfer einer krass verfehlten Wirtschaftspolitik. Einzelentscheidungen wachsen in unserer globalisierten Welt rasant zu fatalen Lawinen an, wenn Unternehmen dem Diktat der Gier gehorchen und zugleich lebenswichtige Industrien und Dienstleistungen beherrschen. Gestern habe ich Ihnen an dieser Stelle von den Wurzeln der arabischen Rebellion 2011 berichtet; massiv gestiegene Rohstoff- und Lebensmittelpreise zählten damals zu den entscheidenden Faktoren. Wenn ich in diesen Tagen nach Chile und in den Libanon, aber auch nach Argentinien, Bolivien, Venezuela, in den Irak, nach Ägypten und in den Sudan schaue, dann drängt sich mir der Eindruck auf: Allerorten sehen wir einen ähnlichen Keim der Revolution wie jenen, der vor acht Jahren nicht nur die gesamte arabische Welt erschütterte – sondern später auch Europa: Flüchtlingskrise, Terror, Instabilität. Das wäre doch ein Anlass, sich weltweit für eine gerechtere Wirtschaftspolitik einzusetzen, oder?
WAS STEHT AN?
Seit Monaten streiten sich Union und SPD über die Grundrente: mit oder ohne Bedürftigkeitsprüfung? Und wie hoch soll der Freibetrag sein? Nun stehe die Koalition kurz vor einer Einigung,berichtet die "Süddeutsche Zeitung". Demnach will CSU-Chef Markus Söder den Sozialdemokraten entgegenkommen, wenn die gemeinsame Arbeitsgruppe heute tagt – verlangt im Gegenzug aber niedrigere Steuern und Strompreise für Unternehmen. Die SPD tut was fürs Soziale, die Union tut was für die Wirtschaft: So können beide Seiten Erfolge feiern. Kosten: Wohl knapp zwei Milliarden Euro für die neue Rente und weitere Milliarden für die Unternehmen. Ein klassischer Groko-Deal.
Bundeskanzlerin Merkel reist heute mit mehreren Ministern zu deutsch-indischen Regierungskonsultationen nach Neu Delhi.
Das Berliner Verwaltungsgericht verhandelt heute eine Klage gegen die Klimapolitik der Bundesregierung. Geklagt haben Greenpeace und drei Familien von Ökobauern. Sie sehen ihre Existenzgrundlage durch die Klimakrise bedroht und ihre Grundrechte verletzt. Ihr Ziel: das Gericht soll die Regierung verpflichten, alles dafür zu tun, die Klimaschutzziele 2020 doch noch zu erreichen (mit ihrem bisherigen Klimapäckchen würde sie es nicht schaffen).
WAS LESEN?
Während die USA auf Donald Trumps Skandale starren, ist eine Frau fast unbemerkt in den Umfragen nach oben geklettert: Elisabeth Warren gilt nun als die Kandidatin mit den besten Chancen, den Amtsinhaber herauszufordern. Drei Monate vor dem Beginn der Vorwahlen zur US-Präsidentschaftswahl bekommt sie mächtig Rückenwind. Unser Washington-Korrespondent Fabian Reinbold hat die linke Senatorin im Wahlkampf begleitet und erlebt, wie sie viele Menschen von ihren radikalen Plänen überzeugt. Hier ist sein Porträt.
Gestern berichtete ich Ihnen von meiner Sorge, dass über die Zukunft Syriens ohne Rücksicht auf die Bevölkerung entschieden wird. Nach acht Jahren Bürgerkrieg sind große Teile des Landes wieder fest im Griff des Assad-Regimes, zugleich ist der Staat zum Spielball im geostrategischen Ringen der Großmächte geworden. Genau diese Fremdinteressen machen den Friedensprozess so schwierig, erklärt unser Außenpolitikexperte Patrick Diekmann.
Die Landtagswahlen in Thüringen sind vorbei, und ähnlich wie nach den Wahlen in Sachsen und Brandenburg atmen viele auf, weil die AfD nicht stärkste Kraft geworden ist. Aber wieso soll das ein Grund zur Erleichterung sein?, fragt meine Kollegin Madeleine Janssen. Die Parteien der Mitte, denen die Wähler weglaufen, müssten endlich ihre Lethargie und Ratlosigkeit überwinden: Präsenz zeigen, zuhören, für spürbare Erleichterung im Alltag sorgen.
In Niko Kovacs Haut möchte ich nicht stecken. Nicht weil ich ihn nicht mag, er ist sicher ein netter Kerl. Aber wenn man Trainer in München ist, ein Pokalspiel gegen den Zweitligisten Bochum nur mit Ach und Krach gewinnt und sich auch in der Bundesliga schwertut, dann hat man eben ein gewaltiges Problem. Wo liegen dessen Wurzeln? Unser München-Korrespondent Patrick Mayer liefert die Analyse.
WAS AMÜSIERT MICH?
Oh, heute ist Halloween – was könnte uns da wohl so richtig erschrecken?
Ich wünsche Ihnen einen schaurig schönen Tag. Herzliche Grüße
Ihr
Florian Harms
Chefredakteur t-online.de
E-Mail: t-online-newsletter@stroeer.de
Mit Material von dpa.
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