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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Trump-Herausforderin Elizabeth Warren Angriff von links
Plötzlich Favoritin: Die linke Demokratin Elizabeth Warren hat gute Chancen, Präsidentschaftskandidatin zu werden. Sie will Politik, Gesellschaft und Wirtschaft von Grund auf verändern. Ist Amerika bereit dafür?
Wenn es einen einzelnen Grund dafür gibt, dass eine auf den ersten Blick blasse Ex-Juraprofessorin plötzlich als Favoritin gilt, Donald Trump herauszufordern, dann ist es wohl dieser: Elizabeth Warren kann die Leute überraschen.
Gerade hat die Präsidentschaftskandidatin eine Stunde lang auf einer Bühne in Norfolk gesprochen. Die Stadt an der US-Atlantikküste ist fest in der Hand der ansässigen Marine, zu Wasser liegen Flugzeugträger, es ist kein Ort für linke Träumer.
Auch Stacy Saville sieht sich politisch in der Mitte und hielt Warren lange für "zu radikal, um Präsidentin zu werden". Das hat sich nach dem Auftritt geändert. "Sie spricht über viele Sachen, die ich aus meinem Leben kenne", sagt sie anerkennend. Saville ist Beamtin, doch die dreifache Mutter hadert im Alltag mit hohen Kosten für Medikamente oder enormen Schulden aus Studiengebühren.
So wie Saville ist es in den vergangenen Monaten vielen Amerikanern ergangen. Sie haben sich von Elizabeth Warren, der linkspopulistischen Senatorin aus Massachusetts, einnehmen lassen. Während das Land über Donald Trumps Skandale und die Ukraine-Affäre streitet, ist Warren eifrig und eine Zeit lang quasi unbemerkt in den Umfragen der Demokraten nach oben geklettert.
Jetzt steht sie in Reihe eins. In manchen Umfragen hat sie den früheren Vizepräsidenten Joe Biden schon hinter sich gelassen, in anderen liegt der noch knapp vor Warren. Das Feld der Trump-Herausforderer sortiert sich. In den amerikanischen Vorwahlkämpfen geht es stets um das Momentum, also darum, wer gerade Rückenwind hat. Gut drei Monate vor Beginn der parteiinternen Vorwahlen ist eindeutig, wer das Momentum auf ihrer Seite hat: Elizabeth Warren.
Das ist für viele Beobachter überraschend, denn Warren hat radikale Pläne für Amerikas Politik, Wirtschaft, Gesellschaft. Während Biden verspricht, dass mit ihm wieder alles zu einer Normalität zurückkehre, die vor Trump herrschte, verspricht Warren den "großen strukturellen Wandel". Das Motto ihres Wahlkampfes: "Groß träumen, hart kämpfen."
Konzerne zerschlagen, Reiche besteuern
Sie will die private Krankenversicherung abschaffen und die gesamte Bevölkerung staatlich versichern. Sie will die mächtigsten Digitalkonzerne wie Amazon und Facebook zerschlagen. Sie will über eine Reichensteuer große Sozialprogramme finanzieren.
Bei ihrem Auftritt in Norfolk im Bundestaat Virginia ist Warren nach einer halben Stunde beim Kern ihres Versprechens angekommen, und da wird es richtig laut. Wer mehr als 50 Millionen Dollar besitzt, soll jährlich zwei Prozent davon abgeben, Warren nennt das etwas verniedlichend "zwei Cent". (Ab einer Milliarde Dollar werden drei Prozent fällig.)
Warren ist keine begnadete Rednerin, aber sie zelebriert gekonnt jedes einzelne Programm, das sie darüber finanzieren will. "Damit können wir Kleinkinderbetreuung für alle einführen", legt Warren los, lässt Raum für Applaus und macht weiter: Kita-Betreuung für 3- und 4-Jährige, Pause, Jubel, Studiengebühren abschaffen, Pause, Jubel, Erlass der schon angelaufenen Schulden aus Studiengebühren, Pause, Jubel. "Das alles können wir mit zwei Cent erreichen", sagt sie unter lautem Applaus.
Als der sich wieder legt, ruft eine Frau im Publikum: "Zwei Cent sind noch zu wenig!" Warren sagt: "Wir können mit zwei Cent anfangen."
Die Wall Street schlägt schon Alarm
Eine solche Reichensteuer gab es in den USA noch nie. Und einen derart linken Kandidaten hat die demokratische Partei seit Jahrzehnten nicht mehr ins Rennen ums Weiße Haus geschickt. Die Großspender der Partei, die an der Wall Street sitzen, haben laut einem Bericht von CNBC schon damit gedroht, Trump zu unterstützen, sollten die Demokraten wirklich Warren aufstellen. Doch solche Berichte schaden Warren nicht, sie helfen ihr momentan im innerparteilichen Wahlkampf, in dem sie klare Kante gegen Finanzwesen, Monopole und Korruption zeigen will. Auf Großspenden verzichtet sie ohnehin.
Trump hat in seinem Wahlkampf 2016 ebenfalls auf Populismus gesetzt. Trump sagt den Arbeitern: Euch geht es schlecht, weil euch die politische Elite verrät und weil so viele Ausländer ins Land strömen. Warren sagt: Euch geht es schlecht, weil die großen Banken und Firmen die Politik korrumpiert haben.
Warren vs Trump
In Umfragen zu einem theoretischen Duell Trump-Warren liegt sie vorn. Manche Beobachter glauben aber, dass Trump es leichter habe, gegen eine linke Kandidatin die Mitte für sich zu gewinnen. Doch das ist alles noch Theorie.
Im innerparteilichen Rennen profitiert sie von zwei Entwicklungen. Zum einen hat sich die Wählerbasis der Demokraten nach links bewegt. Das deutete schon die Resonanz auf die Kandidatur von Bernie Sanders im Jahr 2016 an. In den letzten Jahren hat sich die soziale Kluft weiter vergrößert.
- Die USA zehn Jahre nach der Finanzkrise: Unter der Oberfläche gärt es
Zum anderen punktet sie damit, dass sie sich seit Jahrzehnten um Themen kümmert wie soziale Ungleichheit, Privatinsolvenzen, die Auswirkungen des Finanzsystems auf die Mittelklasse. Warren hat dazu als Juraprofessorin lange geforscht und gestritten. Die Finanzkrise ließ viele Warnungen Warrens Realität werden. Millionen Amerikaner verloren damals ihr Haus.
Warren wurde nun als Kritikerin der Rettungspakete für Banken in Washington bekannt. Sie sorgte etwa dafür, dass nach der Finanzkrise eine Behörde zum Verbraucherschutz eingesetzt wurde, die etwa Eigenheimbesitzer vor krummen Geschäften der Banken schützen sollte. Kurz darauf entschied sich Warren, im Jahr 2012 für den Senat zu kandidieren. Sie gewann gegen den republikanischen Amtsinhaber.
Frischer als Biden und Sanders
Ihre Geschichte nützt Warren. Sie wird in Wirtschaftsfragen als kompetent wahrgenommen, kann anschaulich darüber sprechen. Und es nutzt ihr, dass sie nicht wie ihre Konkurrenten Biden oder Sanders Jahrzehnte lang im Senat saß.
Warren ist bereits 70 Jahre alt. Man merkt es ihr im Wahlkampf aber nicht an. Sie läuft bei ihren Auftritten auf der Bühne auf und ab, reckt immer wieder ihre Hände in die Höhe. Etwas steif sind ihre Bewegungen schon, aber sie erscheint so viel frischer als der 76-jährige Biden, der bei seinen Auftritten fahrig wirkt, oder als der 78-jährige Sanders, der im Oktober einen Herzinfarkt erlitt.
Thematisch überschneidet sich Warren mit vielen Plänen des Sozialisten Sanders. Doch sie verknüpft ihr Programm geschickter mit ihrer Biografie. Sie berichtet etwa, wie ihr Vater einst einen Herzinfarkt erlitt und ihre Familie Gefahr lief, das Heim zu verlieren. Damals habe sie aus den Gesprächen ihrer Eltern die Worte Hypothek und Zwangsvollstreckung kennengelernt. Warren spricht so, dass man spürt, was sie meint. Sanders doziert eher.
Sanders hat eine treue Anhängerschaft, doch Warren spekuliert darauf, dass seine Anhänger zu ihr wechseln, sollte irgendwann klar sein, dass Bernie die Vorwahlen nicht gewinnen kann. Dann wäre sie nur noch schwer zu schlagen. Sie hat ihn jedenfalls während des Sommers in den Umfragen überholt und seither auf Distanz gehalten.
Von der Jägerin zur Gejagten
Bei der TV-Debatte der Demokraten Mitte Oktober wurde Warren erstmals von zahlreichen Konkurrenten attackiert. Es war ein klares Zeichen dafür, dass sie jetzt nicht mehr Jägerin, sondern Gejagte ist. Zuvor hatte der führende Biden im Zentrum der Attacken gestanden.
Mehrere Konkurrenten warfen ihr vor, zu verschweigen, was ihre Pläne für eine staatliche Krankenversicherung kosten würden und wer das bezahlen solle. Im Raum steht die Summe von 30 Billionen Dollar.
Die frische Anhängerin Saville in Norfolk glaubt gar nicht dran, dass sich so ein radikaler Wechsel schnell umsetzen lasse. Es sei aber wichtig, damit zu beginnen, das System der Krankenversicherung zu reparieren. "Und da ist Warren einfach kompetent."
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Saville hat immer noch Zweifel, sagt sie, "ob Amerika bereit ist für eine Frau im Weißen Haus". "Doch wenn es jemand kann, dann sie." Zum Ende der Veranstaltung steht sie eine Stunde in die Schlange, um ein Selfie mit Elizabeth Warren zu ergattern.
Die Chancen, sich damit ein Foto mit der kommenden Präsidentin zu sichern, stehen momentan jedenfalls nicht schlecht.
- eigene Recherchen
- Real Clear Politics: Umfragen zu den Vorwahlen der Demokraten