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Tagesanbruch: Wladimir Putin ist der wahre Sieger des Syrien-Krieges


Meinung
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Was heute wichtig ist
Die Macht des Siegers

MeinungVon Florian Harms

Aktualisiert am 30.10.2019Lesedauer: 6 Min.
Wladimir Putin verabschiedet Syriens Diktator Assad nach einem Treffen in Sotschi.Vergrößern des Bildes
Wladimir Putin verabschiedet Syriens Diktator Assad nach einem Treffen in Sotschi. (Quelle: imago images)
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Guten Morgen, liebe Leserinnen und Leser,

hier ist der kommentierte Überblick über die Themen des Tages:

WAS WAR?

Im Herbst 2010 schlenderte ich durch die Altstadt von Damaskus. Aß ein Eis bei Bakdasch, trank einen Tee bei Abu Schadi hinter der Umayyadenmoschee, schwatzte mit den Gemüsehändlern im christlichen Viertel Bab Tuma, hörte Kirchenglocken und Muezzin-Rufe, erfreute mich am Gewirr der Sprachen und Kulturen. Nichts deutete darauf hin, was wenige Monate später geschehen würde. Wirklich nichts? Zumindest ahnte ich damals genauso wenig, wie wohl die meisten anderen Zeitgenossen, in welchen Sog aus Brutalität und Zerstörung dieses vielfältige, interessante Land gesaugt werden würde.

In der Rückschau sieht das heute anders aus. Da fallen mir Beobachtungen ein, die ich damals eher am Rande machte. Da erinnere ich mich an die sprunghaft gestiegenen Preise für Brot, Gemüse, Fleisch. Die von Amerika ausgelöste Weltfinanzkrise hatte kurz zuvor die Preise an den Rohstoffbörsen explodieren lassen. Ich erinnere mich an die vielen Flüchtlinge aus dem Irak, die in Syriens Städten Zuflucht suchten, woraufhin die Mietpreise exorbitant stiegen. Ich erinnere mich, wie Internet und Handys der syrischen Bevölkerung plötzlich freie Informationen zugängig machten, vorbei an der Staatspropaganda. Ich erinnere mich, wie schamlos Präsident Assad und seine Mafia das Land aussaugten, sich ein Unternehmen nach dem anderen unter den Nagel rissen. Ich erinnere mich, wie ich Zeuge der Verhaftung eines Familienvaters wurde und wie die Schreie der Gemarterten aus den geöffneten Fenstern einer Polizeiwache drangen. Es war ein barbarisches Regime, das damals in Syrien herrschte, und es wurde allzu lange von Russland, Iran und auch westlichen Staaten gestützt.

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Neun Jahre später, nach einem grausamen Bürgerkrieg, sind mehr als 400.000 Menschen tot, unzählige verletzt, Millionen vertrieben, Städte, Straßen und Kulturdenkmäler zerstört. Aber das Mafia-Regime der Assads ist immer noch da. Es hat sich von iranischen Todesschwadronen und der russischen Luftwaffe retten lassen, im Gegenzug gab Assad den Mullahs und Herrn Putin alles, was die verlangten: Bodenschätze, Häfen, Immobilienrechte, Waffenkaufverträge, Loyalitätsschwüre, Militärbasen in der strategisch wichtigen Weltregion. Die Amerikaner ziehen nach ihrem erfolglosen Abenteuer Hals über Kopf ab, die Türken holten sich von Herrn Putin die Erlaubnis, die Kurden niedermachen zu dürfen, die Israelis fliegen Bombenangriffe gegen iranische Stützpunkte in Syrien, und die libanesische Hisbollah verdient sich eine goldene Nase am Grenzschmuggel. Es ist erbärmlich.


Und Europa? Schaut zu. Wieder einmal. Wie so oft. Und muss mit den Folgen kämpfen: Flüchtlinge, IS-Terroristen, Instabilität, Glaubwürdigkeitsverlust. "Ihr Europäer habt uns allein gelassen, als wir um Hilfe riefen, als Bomben auf unsere Häuser fielen und unsere Kinder schrien. Wir haben jede Achtung vor euch verloren", sagte mir ein Familienvater, mit dem ich vor knapp zwei Jahren telefonierte, während er in einem Keller im Osten von Damaskus vor den Bombardements zitterte. Der Verlauf der Syrien-Krise ist eine Tragödie für die Menschen vor Ort. Und zugleich ein Schandfleck der europäischen Außenpolitik – bis heute. Solange die EU-Staaten sich in nationalen Alleingängen verzetteln, statt gemeinsame Initiativen zu verfolgen, solange in Deutschland Verteidigungs- und Außenminister an unterschiedlichen Strängen ziehen, solange die designierte Kommissionschefin Ursula von der Leyen ihre Pläne noch nicht umsetzen kann, solange Berlin dies will und Paris das, solange wird Europa eine außenpolitische Mücke bleiben, die die Elefanten in Moskau und Ankara und den Löwen in Damaskus allenfalls zu einem höhnischen Kichern reizt.

Während Europa zuschaut, ordnen andere den Nahen Osten neu. In Genf tritt heute erstmals der Syrische Verfassungsausschuss zusammen: Je 50 Vertreter der Regierung, der Opposition und der Zivilgesellschaft sollen eine politische Lösung des Konflikts aushandeln. Das klingt gut und trägt hoffentlich zur Befriedung bei. Aber die entscheidenden Weichen werden nicht in Genf gestellt, sondern in Moskau. Dort sitzt der wahre Sieger des syrischen Krieges. Das hätte ich mir nicht träumen lassen, damals im Herbst vor neun Jahren.


Mehr Demokratie wagen – wenn es mir nützt: So lautet die Strategie des britischen Premiers Boris Johnson, und sie geht gerade auf. Immer wieder hat er in den vergangenen Tagen versucht, dem Parlament die Zustimmung zu Neuwahlen abzuringen, nun hat es endlich geklappt. Und das, obwohl ihm die Parlamentarier nicht von hier bis zur Tür trauen. Bis zuletzt wurde um den genauen Wahltermin gerungen, damit der schnell genug ansteht und der Boris nicht mit irgendeinem halbseidenen Manöver vorher noch irgendwie den Brexit durchmogeln kann.

Denn darum geht es bei dieser Wahl: Brexit ja oder nein oder was? Vor allem die Opposition der Liberaldemokraten und der Schottischen Nationalpartei hofft, durch einen Erdrutsch bei den Wahlen den Brexit doch noch irgendwie zu verhindern. Bei der Volksabstimmung vor drei Jahren war die Mehrheit für den Ausstieg aus der EU schließlich hauchdünn gewesen, also mag sich das Blatt noch wenden, so das Kalkül. Im anderen Lager wittert Boris Johnson jetzt die Chance zum Durchmarsch. Heilsbringer, Brexit-Bewirker, ein durchsetzungsstarker Macher selbst unter widrigsten Umständen: So will er sich dem Wahlvolk präsentieren. Unter den Brexit-Befürwortern ist ihm überwältigende Zustimmung sicher. Und viele derer, die sich inzwischen nur noch wünschen, es möge endlich, endlich vorbei sein mit dem Drama, werden sich von Johnsons Charisma und dem erfrischend einfachen Slogan "Get Brexit done" ebenfalls umgarnen lassen.

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Der Chef der größten Oppositionspartei Labour, Jeremy Corbyn, wittert nun ebenfalls seine große Stunde, allerdings wittert er sie weitgehend allein. Unter den Parlamentariern seiner Partei ist die Skepsis riesig, nicht zuletzt, weil Herr Corbyn im britischen Wahlvolk eine ähnliche Begeisterung entfacht wie das heraufziehende Novemberwetter. Aber das passt schon, schließlich vermittelt die Position der Labour-Leute zum Brexit ("tja, äh, och") ungefähr so viel Orientierung wie die Nebelbänke an der Themse.

Der Weg Großbritanniens hinaus aus der EU hat so viele Überraschungen geboten, dass man sich jede Prognose verkneifen sollte. Eine wage ich trotzdem, auf die Gefahr hin, mich zu wiederholen. Das Wahlrecht der Briten bevorzugt in jedem Wahlkreis den stärksten Kandidaten. Das ist schlecht für die EU-Freunde: Die Stimmen derer, die den Brexit ablehnen, müssen sich die Liberaldemokraten mit Labour und im hohen Norden auch noch mit der Schottenpartei teilen. Bei den Brexit-Anhängern hingegen hat Boris Johnson wenig Konkurrenz. In den aktuellen Umfragen ist seine Partei stärkste Kraft. Der windige Typ mit den populistischen Sprüchen hat sein Spiel so gut wie gewonnen: Er hat den Ball und steht allein vor dem Tor. Wenn er nicht noch über seine Schnürsenkel stolpert, macht er ihn rein.


WAS STEHT AN?

Es sage keiner, der Brexit hätte nicht auch sein Gutes. Was haben wir uns über den schrulligen, aber durchsetzungsstarken Parlamentspräsidenten des britischen Unterhauses amüsiert! Durch seine Winkelzüge und donnernden "Ooooorder"-Rufe hatte John Bercow im Brexit-Spektakel ein gewichtiges Wort mitzureden. Heute und morgen hat er seine letzten Arbeitstage im Parlament. Dann gibt er das Amt ab und ein anderer muss ordern. Grund genug, uns noch einmal eine Kostprobe seiner Sprachgewalt zu Gemüte zu führen.


Der AfD-Mitgründer Bernd Lucke versucht heute erneut, an der Hamburger Universität eine Vorlesung zu halten. Seine letzte Veranstaltung hatten linksradikale Studenten durch Proteste gesprengt. Wer sich so aufführt, hat die Meinungsfreiheit und die Freiheit der Lehre in unserer Demokratie nicht verstanden.


DIE GUTE NACHRICHT

Das Wallraf-Richartz-Museum in Köln öffnet für die Ausstellung "Inside Rembrandt 1606-1669" seine Pforten. Anlässlich seines 350. Todestages werden mehr als 60 Werke des Meisters sowie Bilder seiner Zeitgenossen und Schüler gezeigt, darunter weltberühmte Gemälde aus Amsterdam, Prag, New York und Los Angeles. Definitiv eine Reise wert.


WAS LESEN UND ANSCHAUEN?

Fast jeder vierte Wähler in Thüringen hat sein Kreuz bei der AfD gemacht – obwohl deren Chef Björn Höcke rechtsextreme Positionen vertritt. Wie kann das sein? Unser watson.de-Kollege Joseph Hausner hat sechs Erklärungen gefunden.


Apropos AfD: Im Internet macht ein Video von Alice Weidel die Runde. Darauf ist zu sehen, wie die AfD-Fraktionsvorsitzende während einer Veranstaltung von der Bühne sprintet, um der Security einen Mann zu zeigen, den sie hinausgeworfen haben will: wegen einer "Kopf ab"-Geste. Mein Kollege Lars Wienand wollte im Web nach Bildern dieser Bedrohung suchen. Gestoßen ist er dann allerdings auf Berichte von Besuchern, die etwas ganz anderes schildern.


Manche Leute meinen ja, die Klimakrise sei gar nicht von Menschen verursacht. Hat die globale Erwärmung auch natürliche Ursachen? Der ARD-Meteorologe Karsten Schwanke klärt auf.


WAS AMÜSIERT MICH?

Beruhigend, wenn man als Parteichefin Rückendeckung bekommt – oder?

Ich wünsche Ihnen einen geselligen Tag. Herzliche Grüße,

Ihr

Florian Harms
Chefredakteur t-online.de
E-Mail: t-online-newsletter@stroeer.de

Mit Material von dpa.

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