Die subjektive Sicht des Autors auf das Thema. Niemand muss diese Meinung übernehmen, aber sie kann zum Nachdenken anregen.
Was Meinungen von Nachrichten unterscheidet.Was heute wichtig ist Durch Deutschland geht ein Riss
Guten Morgen, liebe Leserinnen und Leser,
hier ist der kommentierte Überblick über die Themen des Tages:
WAS WAR?
Die Zeit heilt alle Wunden, sagt der Volksmund. Aber manchmal hat sogar der Unrecht. Die Wunden, die Horst Seehofer und Angela Merkel einander geschlagen haben, mögen gut verbunden sein, beide verstecken sie hinter professionellem Lächeln. Aber verheilen? Werden sie wohl niemals vollständig.
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Die ganze Republik musste im Sommer vergangenen Jahres zusehen, wie die beiden Unionschefs sich auf offener Bühne bekämpften. Der Horst mit dem groben Knüppel, die Angela mit spitzer Lanze. Nach der kräftezehrenden Regierungsbildung hätte das Land eine konstruktive Truppe an der Spitze gebraucht, aber die Truppenführer verschwendeten ihre verbliebene Kraft darauf, sich gegenseitig fertigzumachen. Fotos aus jenen Tagen zeigen einen aschfahlen Innenminister und eine zerknitterte Kanzlerin. Von einem "Endspiel um die Glaubwürdigkeit" schwadronierte Seehofers treuester Rivale Markus Söder, der seinen Boss mit kaltem Lächeln immer weiter ins Kampfgetümmel trieb, während er sich selbst am Rand für die Schlacht nach der Schlacht warmlief: den Königssturz.
Und was war der Anlass für das unwürdige Schauspiel, in dessen Folge Merkel und Seehofer jeweils ihren Parteivorsitz, die Union Tausende Wähler und viele Bürger das Vertrauen in die Regierenden verloren? Ein einziger Punkt in Seehofers "Masterplan Migration", aufgebauscht zur Schicksalsfrage und, wie wir heute wissen, in der Praxis völlig unbedeutend.
Was ist aus den restlichen 62 Punkten des "Masterplans" geworden, dessen Vorstellung sich heute jährt? Seehofer sagt: Sein Plan sei "in der Substanz vollständig umgesetzt". Ein typischer Politikersatz: klingt gut, kann alles und nichts bedeuten. Also hat mein Kollege David Ruch genauer hingeschaut – und festgestellt: Die Bilanz fällt für den Innenminister tatsächlich nicht schlecht aus. Aber eben auch nicht besonders gut.
Das ist das politische Fazit. Und das persönliche? Die Politik kennt keine Freundschaften, sagt man im Berliner Regierungsviertel. Feindschaften dagegen zieht sie an wie ein Magnet. "Seehofer ist einer, der mir beibringt, dass, wenn es heute schön ist, es morgen nicht genauso sein muss", sagte Merkel an ihrem 60. Geburtstag vor fünf Jahren. Die Wunden sind seither nicht weniger geworden.
WAS STEHT AN?
Deutschland ist noch immer geteilt, aber der Riss geht nicht nur durch Ost und West, sondern vor allem durch Stadt und Land. Auf der einen Seite florieren wachsende Großstädte, auf der anderen darben abgehängte Landstriche, aus denen immer mehr Menschen abwandern. Wer zurückbleibt, dem bleiben oft nur der Frust über fehlende Arbeit, fehlende Infrastruktur, fehlende Freunde, Partner, Hoffnung. Die Bundesregierung sieht darin ein großes Risiko für den gesellschaftlichen Frieden, denn viele Protestbewegungen unserer Zeit wurzeln in der Provinz: die Trump-Wählerschaft in Amerika, die Brexiteers in Großbritannien, die Gelbwesten in Frankreich, hierzulande sind es viele AfD-Anhänger.
Um die Gegensätze auszugleichen, pumpt die Regierung schon jetzt viele Milliarden in den ländlichen Raum, lässt Straßen reparieren, Schulen renovieren, Glasfaserkabel für schnelles Internet verbuddeln. Aber all die Aktivitäten haben den Trend bislang nicht gestoppt. Deshalb hat die große Koalition eine Kommission eingesetzt, die erklären soll, wie sich überall in Deutschland "gleichwertige Lebensverhältnisse" herstellen lassen. Heute stellt sie ihre Ergebnisse vor, und wie vorab zu vernehmen ist, wird sie den federführenden Ministern Franziska Giffey (Familie, SPD), Horst Seehofer (Innen und Bauen, CSU) und Julia Klöckner (Landwirtschaft, CDU) eine noch viel stärkere Förderung der Provinz empfehlen. Stillgelegte Bahnlinien wieder befahren, leerstehende Praxen wieder mit Ärzten besetzen, Mobilfunklöcher mit bundeseigenen Handymasten schließen, kommunale Dienstleistungsjobs schaffen: Überall dort, wo sich die Privatwirtschaft zurückgezogen hat, weil ihr der Markt nicht mehr rentabel erscheint, könnte der Staat einspringen und die wichtigsten Dienstleistungen selbst finanzieren oder sogar übernehmen.
Wenn es tatsächlich so kommt, feiert die Planwirtschaft also ein kleines Comeback in Deutschland. Geschieht es mit Augenmaß, muss das gar nicht schlecht sein. Schlecht ist eher, dass Jahre vergehen mussten, bis man das Problem in Berlin anzupacken geruhte.
Apropos anpacken: Nachdem Deutschland die Digitalisierung in vielen Bereichen jahrelang verbummelt hatte, wollte die große Koalition endlich aufwachen. Vor einem Jahr setzte Bundeskanzlerin Merkel den Digitalrat ein. Das Gremium besteht aus zehn Experten, vom Mediziner bis zum Rechtsinformatiker, die ehrenamtlich arbeiten, die Regierung beraten und dabei kritische Fragen stellen sollen.
Nach der großen Ankündigung ist es allerdings ziemlich still um den Digitalrat geworden. Grund genug, einen der profiliertesten Köpfe in dem Gremium zu fragen, was er dort eigentlich tut: Der Computerwissenschaftler Chris Boos gilt als deutscher Pionier im Bereich künstliche Intelligenz. Meine Kollegin Laura Stresing und ich haben ihn zum Interview getroffen, und eines war schnell klar: Der Mann nimmt kein Blatt vor den Mund. Wenn Sie wissen wollen, wo es bei Deutschlands digitaler Zukunft hakt und wie sich das ändern ließe, sollten Sie sich dieses Gespräch zu Gemüte führen. Ich war hinterher klüger.
Das Landgericht Wiesbaden verkündet heute sein Urteil im Prozess um den Mord an der 14-jährigen Susanna F. Der 22-jährige irakische Flüchtling Ali B. soll die Schülerin aus Mainz vergewaltigt und dann erwürgt haben. "Eine gerechte Strafe für diese Tat gibt es nicht", sagt Susannas Mutter.
Heute muss sie überzeugen: Um 9 Uhr beginnt Ursula von der Leyen im Europaparlament ihren Redemarathon. Wobei, es wird wohl eher ein Zuhörmarathon. In den Fraktionen der Sozialdemokraten, der Grünen und der Liberalen sowie in einer Sondersitzung aller Fraktionschefs soll sie nicht nur erklären, wie sie die Europäische Union als Kommissionspräsidentin aus der Krise führen würde. Um ihre Chance auf die Wahl am 16. Juli zu wahren, sollte sie auch ein großes Ohr für die Wünsche der Abgeordneten haben. Verbindlich auftreten kann sie. Fließend englisch und französisch sprechen auch. Um den Ärger vieler Parlamentarier über ihre Nacht-und-Nebel-Nominierung zu dämpfen, wird sie zeigen müssen, dass sie auch die Anliegen der Parteien ernst nimmt. Bei den Sozialdemokraten zum Beispiel den EU-weiten Mindestlohn, bei den Grünen den Klima- und Verbraucherschutz, bei den Liberalen Regeln für US-Digitalfirmen und bei allen zusammen die Forderung nach transparenten Entscheidungsprozessen in der Union. Ein Spaziergang wird das nicht.
WAS LESEN UND ANSCHAUEN?
Das Drama um die "Sea-Watch 3" und Carola Rackete hat Europa daran erinnert, wie groß die Flüchtlingskrise vor unserer Haustür ist. Dass sie bis heute nicht beigelegt ist, liegt nicht nur an Viktor Orban und Matteo Salvini. Auch Angela Merkel trägt einen Teil der Verantwortung, berichtet mein Kollege Johannes Bebermeier.
Italiens Innenminister Salvini will gar keine Migranten mehr an Land lassen. Papst Franziskus gibt ihm Kontra. Aber reichen Gebete und weise Worte von der Kanzel? Der Vatikan müsse seiner christlichen Pflicht nachkommen und endlich selbst handeln, fordert meine Kollegin Franzi von Kempis in ihrem Videokommentar: Vatikanische Boote sollten Menschenleben retten.
Wenn man 3.000 Euro netto verdient und eine Wohnung sucht, was geschieht dann? Dann kann es sein, dass man in deutschen Großstädten kein bezahlbares Zuhause findet. So wie der Familie in dieser ARD-Dokumentation ergeht es immer mehr Menschen.
WORAUS TRINKEN?
Hä? Was ist das denn jetzt für eine Rubrik? Hat der Harms noch alle Tassen im Schrank? Ja, hat er. Und das Beste: Er gibt Ihnen sogar eine ab. Jedenfalls, wenn Sie ganz fix sind: Die ersten zehn Leserinnen und Leser, die sich heute Morgen melden und in einem netten Satz begründen, warum sie gerne den Tagesanbruch lesen (oder hören), bekommen eine der limitierten Tagesanbruch-Kaffeetassen geschenkt. Mehr oder weniger schlaue Sprüche stehen auch darauf. Schreiben Sie uns dazu bitte an die unten stehende E-Mail-Adresse und geben Sie Ihre Postadresse an (sie wird ausschließlich für die Zusendung der Tasse verwendet). So schmeckt der Morgenkaffee vielleicht noch besser.
WAS AMÜSIERT MICH?
Apropos trinken: So häufig müssen wir uns mit den Schattenseiten des Zusammenlebens von Menschen und Tieren beschäftigen; wir Zweibeiner behandeln Vierbeiner, Flügelschlager und Flossenträger viel zu oft schändlich. Dabei geht es doch auch ganz anders.
Ich wünsche Ihnen einen schönen Tag, an dem Ihr Wissensdurst gestillt wird.
Ihr
Florian Harms
Chefredakteur t-online.de
E-Mail: t-online-newsletter@stroeer.de
Mit Material von dpa.
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