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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Migration nach Europa Was man Angela Merkel vorwerfen kann
Kapitänin Carola Rackete hat Europa an ein ungelöstes Problem erinnert: Die Flucht und das Sterben im Mittelmeer. Für eine Lösung müsste sich die Kanzlerin von einer Überzeugung verabschieden.
Es ist seit Jahren das gleiche Spiel. Seenotretter holen im Mittelmeer Migranten aus ihren schrottreifen Booten, wollen einen Hafen anlaufen – und werden abgewiesen. Niemand will sie. Malta nicht, und Italien schon gar nicht.
Während die Migranten und die Helfer auf den bescheidenen Rettungsschiffen ausharren, die Lage an Bord immer prekärer und die Migranten immer kränker werden, laufen in der EU die Telefone heiß. Die Kommission ruft in Berlin an, in Paris, in Lissabon, auch in Luxemburg, in Amsterdam und in anderen europäischen Hauptstädten. Auf der Suche nach Staaten, die einige Dutzend der Menschen aufnehmen.
Bisher hat das noch immer geklappt, auch im Fall der "Sea-Watch 3", deren deutsche Kapitänin Carola Rackete dem extrem rechten italienischen Innenminister Matteo Salvini die Stirn geboten und so das Thema zurück auf die Titelseiten gebracht hat.
Tödliche Mittelmeerroute und Merkels Schuld
Doch es ist ein Durchwurschteln, keine Lösung. Nicht für die Staaten im Mittelmeer, die keine Migranten mehr aufnehmen können oder wollen. Und schon gar nicht für die Migranten selbst. Deren Zahl ist zwar extrem zurückgegangen, von mehr als einer Million im Jahr 2016 auf rund 141.500 im Jahr 2018. Doch es steigen eben immer noch viele in die schrottreifen Boote. Und die Flucht wird immer gefährlicher. Im Jahr 2018 starb laut Vereinten Nationen jeder 269. Mensch, der sich in ein Boot gesetzt hatte. In diesem Jahr ist es schon jeder 45.
Dass die Lage im Mittelmeer trotz der drastisch gesunkenen Zahlen noch nicht unter Kontrolle ist, liegt einerseits an den Salvinis und Viktor Orbans, die ein Interesse an der Krise haben, um sich ihren Bürgern als vermeintliche Retter zu präsentieren. Doch die konstruktiven Europäer tragen ebenfalls Verantwortung. Auch die "Flüchtlingskanzlerin" Angela Merkel. Denn es gibt Lösungen, die funktionieren könnten.
Angela Merkels Zauberwort auf den vielen EU-Gipfeln, die sich mit der Migration beschäftigten, lautete jahrelang: Quoten. Denn das bisherige Dublin-System hatte eigentlich noch nie funktioniert. Es besagt, dass derjenige EU-Staat für das Asylverfahren zuständig ist, den ein Migrant als Erstes betritt. Das Systemversagen fiel lange Zeit kaum auf, weil nur relativ wenige Menschen kamen. 2016 wurde es zum Problem, die Mittelmeeranrainer Italien, Malta, Griechenland und Spanien fühlten sich alleingelassen mit den vielen Menschen.
Also wollte Merkel einen Mechanismus zur Verteilung der Migranten etablieren – mit festen Verteilungsquoten. Je nach Einwohnerzahl und Wirtschaftskraft sollten sie auf alle 28 EU-Staaten verteilt werden. Kein Staat sollte sich aus der Verantwortung stehlen können.
Diesen Mechanismus gibt es bis heute nicht. Und auch keine Alternative dazu. Merkel beharrte jahrelang auf ihren Quoten, verbrauchte viel Kraft und Zeit. Und die EU schottete sich derweil weiter ab. Sie hat die Mission "Sophia" eingestellt, mit der Schlepper bekämpft und auch Migranten in Not gerettet werden sollten. Und sie arbeitet mit der sogenannten libyschen Küstenwache zusammen, die Migranten abfangen und zurück in die Lager des Landes bringen soll, von denen deutsche Ämter selbst sagen, in ihnen herrschten "KZ-ähnliche Verhältnisse".
Wer seinen Knaus aufmerksam gelesen hat
Doch die Grundprobleme blieben ungelöst: Noch immer machen sich auch Menschen mit schlechten Aussichten auf Asyl oder Flüchtlingsschutz auf den Weg nach Europa. Und noch immer sterben viele von ihnen auf der gefährlichen Reise. Eben auch weil Merkel sich lange nicht bewegte und andere Lösungen so gar nicht erst angegangen wurden. Dabei gibt es sie. Zumindest auf dem Papier.
Wenn der SPD-Europa-Staatsminister Michael Roth plötzlich sagt, er habe die Hoffnung aufgegeben, dass die EU sich auf einen Verteilungsmechanismus für Flüchtlinge einigt, dann ist er nicht plötzlich in das Lager der Orbans und Salvinis gewechselt. Er hat nur seinen Knaus aufmerksam gelesen.
Gerald Knaus ist Chef der Denkfabrik "Europäische Stabilitätsinitiative" und Vordenker des EU-Türkei-Deals, mit dem 2016 die Migration aus der Türkei nach Griechenland geregelt wurde. Die Zahl der Ankommenden und der Toten ist dort mit dem Deal stark gesunken. Seitdem zieht Knaus durch die Funkhäuser und Parteizentralen, um das Prinzip auf den gesamten Mittelmeerraum zu übertragen.
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Die Knaus-Lösung basiert auf drei Säulen. Erste Säule: Knaus verwirft die Idee, dass alle EU-Staaten sich an einem Verteilungsmechanismus für die Menschen beteiligen müssen. Also Merkels Quoten. Das Beharren darauf habe die Salvinis und Orbans nur gestärkt, weil es eine Lösung verhindert habe. Stattdessen setzt er darauf, dass sich Länder, in die Migranten derzeit ohnehin irregulär einreisen, zu einer "Koalition der Willigen" zusammenschließen. Frankreich, Spanien, Griechenland und Deutschland etwa.
Zweite Säule: Diese Staaten würden gemeinsame EU-Asylzentren in den Ankunftsstaaten am Mittelmeer aufbauen. Dort sollen die Asylbewerber ein schnelles, aber rechtsstaatlich sauberes Verfahren durchlaufen – und dann entweder mit Asyl auf die willigen Länder verteilt oder aber schnell in ihre Herkunftsländer zurückgeschickt werden.
Dritte Säule: Damit das klappt, müssten Rücknahmeabkommen mit den afrikanischen Herkunftsländern geschlossen werden. Für die Zusage eines Landes, jeden Migranten ohne Asylanspruch direkt wieder zurückzunehmen, sollten den Herkunftsstaaten stattdessen Kontingente für reguläre Migration angeboten werden. Etwa Arbeitsvisa oder Stipendien.
Durch die schnellen Abschiebungen derjenigen, die keinen Anspruch auf Asyl haben, würden die Migrantenzahlen weiter zurückgehen, so die Hoffnung. Durch die zügigen Verfahren hätten auch die Asylberechtigten schnell Sicherheit und eine Perspektive. Und: Die EU müsste die Drecksarbeit nicht mehr an die "Küstenwache" Libyens auslagern, um Migranten abzuschrecken.
Es gibt Fallstricke
So einfach wie es klingt, ist es natürlich in der Praxis nicht. Alles steht und fällt mit den schnellen Asylverfahren in den Zentren am Mittelmeer, das sieht Knaus selbst so. Er verweist auf die Niederlande, die es meist schafften, Verfahren innerhalb von sechs Wochen abzuschließen, inklusive einer möglichen Berufung bei Ablehnung.
Doch in Griechenland beweist die EU, dass sie das derzeit noch nicht schafft. Die Lager dort sind überfüllt, die Menschen leben unter unmenschlichen Bedingungen – eben weil die Verfahren zu lange dauern. Doch Knaus ist überzeugt, dass es auch anders gehen könnte. Sofern es den Willen dazu gibt.
So langsam scheint Knaus in Berlin durchzudringen. Das zeigt nicht nur SPD-Europa-Staatsminister Michael Roth. Regierungssprecher Steffen Seibert betont zwar noch, es werde eine verlässliche gesamteuropäische Lösung gebraucht. Das gehe "nicht nur drei oder vier Staaten" an. Doch Angela Merkel selbst spricht schon seit geraumer Zeit nicht mehr von ihren Quoten. Die Frage ist: Hat sie auf den letzten Metern ihrer Kanzlerschaft noch genug Macht, eine Alternative durchzusetzen?
- Eigene Recherchen
- Interview mit Gerald Knaus auf t-online.de
- Twitter-Account von Gerald Knaus
- Migrationsdaten des IOM zu Todesfällen
- Statistiken der UNHCR zu Anlandungen via ZDF
- Pressemitteilung zur tödlichen Mittelmeerroute
- Artikel zur Migrantenaufnahme der "Sea-Watch 3" auf "Spiegel online"
- Artikel zur Situation in den libyschen Lagern auf "tagesschau.de"
- Mit Informationen von dpa und AFP