Die subjektive Sicht des Autors auf das Thema. Niemand muss diese Meinung übernehmen, aber sie kann zum Nachdenken anregen.
Was Meinungen von Nachrichten unterscheidet.Was heute wichtig ist Eine richtig gute Idee
Guten Morgen, liebe Leserinnen und Leser,
hier ist der kommentierte Überblick über die Themen des Tages:
WAS WAR?
Als entscheidender Grund für die Politikverdrossenheit vieler Menschen gilt die gewachsene Distanz zwischen Repräsentanten des Staates einerseits und Bürgern andererseits. In diesem Bild bewegen sich die einen nur noch in ihrem Raumschiff aus Regierungssesseln, Parlamentssälen und TV-Studios, sprechen in bürokratischen Phrasen und machen verklausulierte Gesetze. Die anderen werfen den Eliten vor, die Nöte der kleinen Leute gar nicht mehr zu kennen, nur an ihrer Karriere interessiert zu sein. Dieses Bild mag zu grell gezeichnet sein, aber ein paar zutreffende Pinselstriche erkenne ich darin schon. Vor allem viele Menschen in ländlichen Räumen fühlen sich abgehängt, ignoriert, auf gut Deutsch: verarscht. Sie sehen, wie die globalisierten Städte erblühen, während bei ihnen die letzte Fabrik, die letzte Schule und der letzte Bäcker schließen. Einen leibhaftigen Politiker haben sie schon lange nicht mehr zu Gesicht bekommen.
"Während sich die Industrie auf der Suche nach billigem Land und billigen Arbeitskräften im Raum ausgebreitet und ärmeren Ländern … das Aufholen ermöglicht habe, neigten Dienstleistungs- und Technologieunternehmen zu einer stärkeren Konzentration in erfolgreichen Metropolen und Großstädten", zitiert die "Neue Zürcher Zeitung" aus einer Studie. "In den abgehängten Regionen erzeugt diese Entwicklung … absehbar Frustration über den relativen wirtschaftlichen Niedergang, einen gefühlten Gemeinschaftsverlust durch die Abwanderung junger Menschen. Sie führt auch zu Klagen über großstädtische Eliten, die das Land zu ihrem eigenen Vorteil regieren würden."
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Deshalb haben viele gesellschaftliche Protestbewegungen unserer Zeit ihre Wurzeln in der Provinz. Die Trump-Wählerschaft in Amerika. Die Brexiteers in Großbritannien. Die Gelbwesten in Frankreich. In großem Maße auch die AfD-Anhänger hierzulande. "Immer mehr ländliche Regionen geraten wirtschaftlich ins Hintertreffen. Das schlägt sich zunehmend auch politisch nieder: Das Reservoir der Rechtspopulisten wächst – und entscheidet Wahlen", hat der Ökonom und Journalist Henrik Müller schon vor einiger Zeit festgestellt. "Aus der Idylle entspringt der Zorn. Wo man es eigentlich am wenigsten vermuten sollte, braut sich … ein politisches Beben zusammen: Ländliche Regionen entscheiden überraschend Wahlen, überraschen Experten und verändern den Kurs ganzer Nationen. Die Bürger in den Metropolen schauen fassungslos zu."
Vor diesem Hintergrund ist die vielfach belächelte Heimatpolitik von CDU und CSU, aber auch das Festhalten der SPD am Klimakiller Braunkohle zu sehen: Sie entspringen nicht allein der Nächstenliebe, sondern auch der Angst. Wer die Wähler im ländlichen Raum komplett verprellt, der verliert die Macht. Und wer dann auch noch die Nähe zu den Bürgern einbüßt, wer abgehoben und elitär wirkt, bei dem geht es noch schneller.
Nicht nur Politiker, auch andere Repräsentanten unseres Staates haben begriffen, dass diese Entfremdung brandgefährlich ist, weil sie am Fundament unserer Demokratie nagt – und sie tun etwas dagegen. Ein leuchtendes Vorbild gab gestern Abend der Präsident des Bundesverfassungsgerichts: In der ARD-Sendung "Im Namen des Volkes" erklärte Andreas Voßkuhle im Kreis von 150 Bürgern anschaulich und präzise die Arbeitsweise des höchsten deutschen Gerichts. Er erläuterte, wie sagenhaft gewissenhaft die Richter arbeiten, wie sie tausend Seiten lange Urteile Satz für Satz durchkauen – aber auch, warum viele Verfassungsbeschwerden ohne Begründung abgewiesen werden. Eine Sternstunde der politischen Bildung und der Bürgernähe, zur besten Sendezeit im deutschen Fernsehen. Eine Antwort auf den Frust und die Kritik an den Eliten. (Hier können Sie die Sendung sehen).
Und was tun die höchsten Politiker unseres Landes? Sie machen es heute ähnlich. Bundespräsident Steinmeier lädt anlässlich des Grundgesetz-Jubiläums am Nachmittag zu einer bemerkenswerten Veranstaltung ins Schloss Bellevue: An mehr als 20 Kaffeetafeln werden 200 Bürger miteinander diskutieren. Die Tischordnung ist so angerichtet, dass Menschen mit konträren Meinungen direkt aufeinandertreffen – und an jedem Tisch sitzt ein Amtsträger und moderiert das Gespräch: Bundestagspräsident Schäuble, Bundeskanzlerin Merkel, Bundesratspräsident Günther und weitere. "Es soll darum gehen, was unsere Gesellschaft heute zusammenhält", heißt es aus dem Bundespräsidialamt. "Was läuft gut, was schlecht? Welche Probleme gibt es, welche Wünsche und Ideen haben die Gäste für die Zukunft unseres Gemeinwesens?"
Ich weiß nicht, wie es Ihnen geht, aber ich finde diese Idee bestechend. Erst recht, wenn möglichst viele Bürger hinterher erfahren dürfen, was denn dort besprochen wurde. Deshalb schicken wir heute unseren Parlamentsreporter Jonas Schaible ins Schloss Bellevue. Er wird auf t-online.de für Sie berichten. Auf dass die Distanz zwischen Repräsentanten und Bürgern sich verringert. Erst recht vor der wichtigen Europawahl.
WAS STEHT AN?
Die beginnt nämlich heute – zumindest in Großbritannien und den Niederlanden; wir sind dann am Sonntag dran. Haben Sie sich schon entschieden, welcher Partei Sie Ihre Stimme geben? Sie gehen doch wählen, oder? So wichtig, wie Europa für Sie ganz persönlich ist?
Ja, ich gebe zu, an dieser Stelle könnte es etwas hapern. Natürlich werden wir nicht müde, die wirtschaftlichen Vorzüge unserer EU-Mitgliedschaft zu loben. Deutschland ist eine Exportnation, jeder vierte Arbeitsplatz hängt vom Außenhandel ab, die EU-Staaten sind unsere wichtigsten Handelspartner – und danach kommt erst mal lange nichts. So oder ähnlich sind Ihnen die Fakten vermutlich in diesen Tagen wieder mal begegnet, und falls Sie (nur zum Beispiel) in einem Betrieb arbeiten, der Autoteile an Peugeot liefert, wird Ihnen der Zusammenhang zwischen den reibungslosen Geschäften im europäischen Binnenmarkt und Ihrem Arbeitsplatz eh eingängig sein.
Aber was, wenn Sie beim Bäcker hinterm Tresen arbeiten? Ihre Brötchen werden ja wohl kaum in andere EU-Länder exportiert. Oder, um das Beispiel auf die Spitze zu treiben: Nehmen wir an, Ihr Cousin ist Friedhofsgärtner. Dann soll sein Arbeitsplatz ebenfalls von Europa abhängen? Da lachen ja die ... nun gut, auf dem Friedhof wird nicht so viel gelacht.
Dazu gibt es auch gar keinen Grund. Auch nicht in meinem EU-Beispiel. Denn darin würde Ihr Cousin in der Regel von der Kommune beschäftigt. Deren Einnahmen wiederum hängen wesentlich von der Gewerbesteuer ab, und in Deutschland bedeutet das eben auch: von den guten Geschäften mit unseren Nachbarn. Wäre dieser Kuchen kleiner, würde der Staat notfalls auf den einen oder anderen Friedhofsgärtner verzichten. Tja.
Und Sie selbst, in Ihrer Backstube (um im Beispiel zu bleiben), was ist mit Ihnen? Sie sind vor Wohl und Wehe der kommunalen Finanzen zwar sicher – aber nicht vor dem kleinen Kuchen. Ist es mit der Wirtschaftslage nicht so weit her, wird eben überall gespart. Auch Ihre Kunden besorgen sich, wenn die Kasse knapp ist, lieber das billige Brot beim Discounter. Ökonomen nennen das Phänomen "Exportmultiplikator" und meinen, dass der segensreiche Einfluss des europäischen Warenflusses auch beim Bäcker und selbst auf dem Friedhof ankommt. Vielleicht erinnern Sie sich daran, wie man früher an den europäischen Grenzen im Auto vom Gas gehen musste und aus dem Augenwinkel die langen Lkw-Schlangen vor dem Zoll sah. Heute bemerken wir die Grenze kaum noch, telefonieren wie zu Hause, zahlen mit demselben Geld, und ja, wir leben in Deutschland sehr, sehr gut davon. Jemand in Ihrer Familie, in Ihrem Freundeskreis, vielleicht sogar Sie selbst verdankt mit großer Wahrscheinlichkeit der europäischen Integration seinen Arbeitsplatz.
Also: Haben Sie sich schon entschieden, wie Sie am kommenden Sonntag wählen wollen? Falls Sie Entscheidungshilfe brauchen: Das geht auch ohne Wahlomat.
WAS LESEN?
Für die Jüngeren klingt ist es fast unvorstellbar, aber die Reiferen unter uns werden sich erinnern: Vor nicht allzu langer Zeit rollten noch Panzer durch eine europäische Hauptstadt. Friedensnobelpreisträger Michail Gorbatschow hatte sie 1991 nach Litauen geschickt, um das zarte Pflänzchen der Demokratie zu zermalmen, dessen Samen die Menschen dort eben erst gesät hatten. 14 Zivilisten starben, mehr als 1.000 wurden verletzt. Doch die Bilder des friedlichen Widerstands gingen um die Welt. Die erste Republik, die sich von der Sowjetunion lossagte, überlebte den Einmarsch und Putschversuch.
Vytautas Landsbergis war damals als erster Präsident Litauens dabei. Kurz vor der EU-Wahl blickt er jetzt im Gespräch mit meinem Kollegen Jonas Mueller-Töwe auf den Kampf um die Demokratie zurück – und warnt eindringlich vor der "russischen Aggression in Europa". Sogar einen Angriff auf das Baltikum schließt er nicht aus. Niemand könne sich in der Nähe Russlands sicher fühlen, denn grundlegende Ziele des Kremls seien heute dieselben wie damals. Eine polarisierende Ansicht, zu der man selbstverständlich auch Kontra geben kann. Aber lesenswert allemal.
Soziale Medien wie Facebook, Youtube und Twitter zählen für Politiker zu den wichtigsten Kanälen, um ihre Botschaften unters Volk zu bringen und um Anhänger zu werben. Keine Partei ist dabei so erfolgreich wie die AfD. Dabei setzt sie allerdings zum Teil auf dubiose Methoden, wie mein Kollege Lars Wienand jetzt nachweisen kann. Gemeinsam mit den Kollegen von "Netzpolitik.org" recherchierte er, wie AfD-Politiker im großen Stil mit Twitter-Accounts tricksen und so schnell große Reichweite erlangen. Mehr dazu hier.
WAS AMÜSIERT MICH?
Gibt es eigentlich irgendwas, was wir von den Österreichern lernen können? Schnell mal unseren Experten Mario Lars fragen.
Ich wünsche Ihnen einen zuversichtlichen Tag.
Ihr
Florian Harms
Chefredakteur t-online.de
E-Mail: t-online-newsletter@stroeer.de
Mit Material von dpa.
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