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Gastbeitrag von Rainer Brüderle: Wir brauchen auch einen Niedriglohnbereich


Meinung
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Debatte über Armut in Deutschland
Wir brauchen auch einen Niedriglohnbereich

MeinungEin Gastbeitrag von Rainer Brüderle

Aktualisiert am 04.12.2018Lesedauer: 4 Min.
Rainer Brüderle (FDP): Für den ehemaligen Wirtschaftsminister ist Bildung die beste Armutsprävention.Vergrößern des Bildes
Rainer Brüderle (FDP): Für den ehemaligen Wirtschaftsminister ist Bildung die beste Armutsprävention. (Quelle: imago-images-bilder)

Die soziale Spaltung in Deutschland nimmt zu, die Armut wird größer. Was soll der Staat tun? Dies diskutieren Politiker in Gastbeiträgen auf t-online.de. Rainer Brüderle ruft zur Stärkung der Mittelschicht auf.

Die Wirtschaft boomt. Dennoch sind immer mehr Deutsche von Armut bedroht. Rentner sammeln Flaschen, Alleinerziehende stocken mit Hartz IV auf. Knapp ein Fünftel ist von Armut oder sozialer Ausgrenzung bedroht. Im Jahr 2017 lag der Anteil laut Statistischem Bundesamt bei 19 Prozent. Daneben nimmt die ungleiche Vermögensverteilung zu. Die reichsten zehn Prozent der deutschen Bevölkerung besitzen 51,9 Prozent des Nettogesamtvermögens. Die ärmere Hälfte der Bevölkerung kommt gerade einmal auf ein Prozent.

Was sollte der Staat gegen die zunehmende soziale Spaltung im Land tun? Sollte er überhaupt eingreifen? Philipp Amthor (CDU), Gregor Gysi (Die Linke) und Rainer Brüderle (FDP) debattieren auf t-online.de ihre Visionen über den Sozialstaat der Zukunft.

In seinem Gastbeitrag fordert Rainer Brüderle, die Mittelschicht in Deutschland nicht zusätzlich zu belasten:

Wir brauchen wieder eine Politik, die die Mitte stärkt

Etwas läuft grundlegend falsch in Deutschland. Die entsprechende Liste ist lang: Das Sozialbudget in Deutschland betrug im Jahr 2017 962 Milliarden Euro und war damit höher als jemals zuvor. Rund ein Drittel der Wirtschaftsleistung gelangt mittlerweile in die Umverteilung. Im internationalen Vergleich wird in Deutschland die Einkommensungleichheit besonders stark durch Steuern und Sozialtransfers reduziert. So sinkt die sogenannte Armutsrisikoquote, der Anteil der Personen mit weniger als 60 Prozent des mittleren Einkommens, durch das Steuer- und Transfersystem deutlich. Das Risiko, in Deutschland einkommensarm zu sein, lag laut OECD im Jahr 2017 vor Sozialtransfers bei 36 Prozent. Nach Sozialtransfers betrug es nur noch 16 Prozent, so die OECD und ist damit im EU-Vergleich unterdurchschnittlich.

Eine wichtige Erkenntnis ist: Arbeit und Fleiß müssen sich wieder lohnen in Deutschland für die so notwendige Mittelschicht.

Rainer Brüderle (73) war 16 Jahre stellvertretender FDP-Vorsitzender. Er fungierte als Fraktionsvorsitzender im Bundestag und von 2009 bis 2011 als Wirtschaftsminister im Kabinett Merkel II. Nach der FDP-Wahlniederlage 2013 nahm er in eine selbstständige Beratertätigkeit auf.

Belastung der Mittelschicht

Trotz fast einer Billion Euro Sozialausgaben hat die Mittelschicht in Deutschland die absolute Mehrheit verloren. Noch bei der Wiedervereinigung zählten über 56 Prozent der Bevölkerung zur Mittelschicht. Sie ist bis ins Jahr 2017 auf 47 Prozent geschrumpft. Damit bröckelt die Brücke zwischen Arm und Reich. Die Mittelschicht trägt die finanziellen Lasten der Gesellschaft. Ohne sie brechen Rentensystem und Krankenversicherung zusammen, ohne sie lassen sich keine Lehrer und Polizisten entlohnen.

Deshalb muss die Politik alles daransetzen, dass die leistungsbereite Mittelschicht gerade bei Steuern und Sozialausgaben nicht über Gebühr belastet wird und bei den derzeitig übersprudelnden öffentlichen Kassen ist es an der Zeit, die Mittelschicht nun deutlich bei Steuern und Abgaben zu entlasten.

Vollzeitstellen für Eltern

Ein Grund für das Abbröckeln der Mittelschicht liegt sicher auch darin, dass es immer mehr Alleinerziehende in unserer Republik gibt. Für sie ist es mit mehreren Kindern schwierig, einer Vollzeiterwerbstätigkeit nachzukommen. Gerade Alleinerziehende und ihre Kinder sind deshalb besonders von Armut bedroht. Deshalb muss eine Politik, die soziale Spaltung auflösen will, sich vor allem darum kümmern, wie Menschen einer Vollzeiterwerbstätigkeit nachgehen können, von der sie und ihre Kinder leben können. Eine Kinderbetreuung, die darauf ausgerichtet ist, Eltern eine Vollzeitstelle zu ermöglichen, ist darum eine der wesentlichen Aufgaben der Politik.

Wie sollte der zunehmenden sozialen Spaltung in Deutschland begegnet werden?
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Leider hapert es da noch immer an insgesamt fehlenden Plätzen, aber auch an den nötigen Angeboten an Randzeiten oder in den Schulferien. Eine weitere Herausforderung ist das Phänomen der entwerteten Qualifikation. Wenn Arbeitnehmer nach einer Familienphase wieder in ihren Beruf einsteigen wollen, aber nur eine Stelle unterhalb ihrer Qualifikation finden, weil sich ihr Beruf in der Zwischenzeit weiterentwickelt hat. Auch hier kann eine qualifizierende Arbeitsmarktpolitik, die Arbeitnehmern und Arbeitgebern – gerade in Zeiten des Fachkräftemangels – nötige Unterstützung geben und den Abstieg in Armut verhindern.

Gute Bildungspolitik

Die wirksamste Armutsprävention ist Bildung. Von den 15-jährigen Schülerinnen und Schülern sind nach der Pisa-Studie 2015 rund 17 Prozent nicht ausbildungsfähig. Fast 6 Prozent der Jugendlichen haben im Jahr 2015 die Schule ohne Abschluss verlassen, bei den ausländischen Schülerinnen und Schülern waren es 12 Prozent. Zum Abitur gelangen nicht einmal halb so viele ausländische wie deutsche Jugendliche. Schon am Ende der Grundschulzeit erreicht ein Viertel der Kinder nicht das Mindestniveau. Deshalb muss eine Politik, die Armut bekämpfen will, endlich umfassender in Bildung investieren, um die genannten Quoten zu reduzieren. Das geht durch eine Verbesserung der frühkindlichen und schulischen Bildung. Ein Sozialsystem kann das nicht auffangen, was bei der Bildungspolitik versäumt wurde. Gute Bildungspolitik ist deshalb besonders nachhaltig und verhindert Armutskarrieren über Generationen.

Wer Armut bekämpfen will, muss gerade Geringqualifizierten größere Perspektiven am Arbeitsmarkt eröffnen. Denn die Arbeitslosenquote Geringqualifizierter ohne Berufsabschluss ist fast achtmal so hoch wie die von Hochqualifizierten mit einem Hochschul- bzw. Fachhochschulabschluss. Der Einstieg in Arbeit gelingt Menschen ohne jegliche formelle Qualifikation häufig nur über eine einfache, entsprechend geringer entlohnte Tätigkeit.

Niedriglohnbereich sinnvoll

Die Schwächsten dürfen nicht dauerhaft vom Arbeitsmarkt ausgegrenzt werden. Deswegen brauchen wir einen Niedriglohnbereich, der Menschen mit geringer Qualifikation die Eingliederung in den Arbeitsmarkt und damit in die Gesellschaft ermöglicht. Diese Teilhabe, die auch vom Staat durch Umverteilung monetär aufgestockt wird, muss dann mit weiterer Qualifizierung verstetigt und ausgebaut werden.


Arbeit ist die beste Prävention gegen Armut und damit auch gegen die soziale Spaltung in unserem Land. Noch mehr Umverteilung wird da nicht helfen. Wir brauchen eine Politik der Sozialen Marktwirtschaft, die weiß, dass nur ausgegeben werden kann, was vorher erwirtschaftet wurde und deshalb alles daransetzt, dass Arbeitsplätze geschaffen und erhalten und Wettbewerbsfähigkeit und Innovationskraft gestärkt werden.

Die in Gastbeiträgen geäußerten Ansichten spiegeln die Meinung der Autorin (oder: des Autors) wider und entsprechen nicht notwendigerweise denen der t-online.de-Redaktion.

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