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Altersarmut in Deutschland: "Ich schalte im Winter den Kühlschrank ab"


Altersarmut in Deutschland
"Was soll ich mit den Almosen, wenn ich meine Würde aufgeben muss?"

InterviewHelena Düll und Christina zur Nedden, watson.de

28.11.2018Lesedauer: 3 Min.
Interview
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Altersarmut in Deutschland: Die Betroffene möchte anonym bleiben.Vergrößern des Bildes
Altersarmut in Deutschland: Die Betroffene möchte anonym bleiben. (Quelle: Getty Images/jackf/montage gk/t-online.de)

In Deutschland sind 18 Prozent der Menschen über 65 Jahre arm oder von Armut bedroht. Rentnerin Gertrud ist eine von ihnen. Für Lebensmittel kann sie im Monat keine hundert Euro ausgeben.

Gertrud ist 71 Jahre alt, Rentnerin, und wohnt in einer deutschen Kleinstadt. In der DDR hat sie als Bibliothekarin gearbeitet. 1989, drei Wochen vor dem Mauerfall, floh sie in den Westen, wo sie in einer Drogerie beschäftigt war, bis sie nach ihrer Scheidung krank und erwerbsunfähig wurde. Heute lebt sie von einer Rente von 672 Euro und gelegentlichen Geldgeschenken. Gertrud ist nicht ihr richtiger Name, sie möchte anonym bleiben.

Von ihrer Rente zahlt Gertrud:

Es bleiben 107 Euro zum Leben. Davon zahlt sie 18 Euro für den Frisör und 25 Euro für die Fußpflege und den Rest für Essen.

Aktuelle Zahlen zeigen, dass Rentner neben Alleinerziehenden und Arbeitslosen die am dritthäufigsten von Armut betroffenen Menschen sind. Laut einer Statistik vom Statistischen Bundesamt waren im vergangenen Jahr 18,3 Prozent der Menschen über 65 Jahre arm oder von Armut bedroht. Frauen sind mit 20,8 Prozent in ihrer Altersgruppe stärker von Altersarmut betroffen als Männer mit 15,6 Prozent.

Gertrud, würden Sie sich selbst als arm bezeichnen?

Gertrud: Klar. Ich werde ja auch so angesehen. Wenn jemand hört, dass ich Rente bekomme und freiwillig auf die Grundsicherung verzichte, werde ich sofort in die unterste Schublade gesteckt. Entsprechend werde ich dann auch behandelt und fühle mich, als sei ich nichts mehr wert.


Wieso verzichten Sie auf Grundsicherung?
Ein paar Jahre lang bekam ich zusätzlich zur Rente eine monatliche Grundsicherung über 120 und 180 Euro. Auf diese verzichte ich jetzt aber. Ich will nicht abhängig vom Sozialamt sein. Das Amt hat Einsicht in Konten und ich muss für alles Rechenschaft abgeben. Ich muss alle Einnahmen und Geschenke angeben, das wird alles verrechnet oder abgezogen. Wenn ich zum Beispiel Strom spare und Geld zurückkriege, wird es mir wieder abgezogen. Manchmal gewinne ich auch etwas im Kreuzworträtsel, das müsste ich dann auch verrechnen lassen. Ich hätte keine Möglichkeit, mir etwas anzusparen, so wie ich es jetzt tue. Was soll ich mit den monatlichen Almosen von 180 Euro, die sich Grundsicherung nennt, wenn ich meine Würde und Freiheit dafür aufgeben muss? Seit ich auf die Grundsicherung verzichte, fühle ich mich besser, ich habe meine Selbstachtung zurück.

Die Grundsicherung ist eine aus Steuermitteln finanzierte Sozialleistung – dann, wenn Rente und eventuelle weitere Einkommen nicht für den Lebensunterhalt ausreichen. Dadurch wird die Zahlung von Sozialhilfe vermieden und das Vermögen von Eltern oder Kindern bleibt unangetastet. Der Anspruch auf Grundsicherung ist im Vierten Kapitel, Zwölftes Sozialgesetzbuch (SGB XII) geregelt . Als Faustregel gilt: Liegt das monatliche Einkommen unter 838 Euro, kann ein Anspruch bestehen.

Woran merken Sie täglich, dass Sie arm sind?

Ich nehme oft Essen und Getränke selber mit, damit ich mir unterwegs nichts kaufen muss. Auch sonst merke ich, dass ich arm bin. Nach meiner Scheidung wollte ich meinen Namen ändern und musste mir einen Anwalt nehmen. Das hat 1.500 Euro gekostet, die ich nicht hatte. Also habe ich einen guten Freund um einen Kredit gebeten. Am Ende hat er mir die Summe dann geschenkt. Wenn ich etwas ändern will, muss ich immer erst kämpfen.


Wie lange dauert es, bis das Geld knapp wird?

Im Dezember bekomme ich immer mein Sparguthaben von der Bank ausbezahlt, das ich vorher gespart habe. Das sind ungefähr 600 Euro, mein Notgroschen. Zu Weihnachten bekomme ich von manchen Menschen Geld, das hebe ich dann auch auf. Hungern muss ich nicht, aber ich achte auch sehr auf mein Geld und suche immer Wege es zusammenzuhalten. Im Winter spare ich zum Beispiel Strom, indem ich meinen Kühlschrank abschalte und die Lebensmittel draußen lagere. Wenn ich beim Fernsehen nicht arbeite oder Kreuzworträtsel mache, habe ich auch keine Lampe an. Die Tageszeitung leiht mir mein Vermieter aus.

Hilft Ihnen jemand?

Ja, ein Freund hilft mir regelmäßig. Sonst ginge es gar nicht, vor allem ohne Grundsicherung. Er geht einmal die Woche mit mir frühstücken, danach kaufen wir für mich für die Woche im Supermarkt ein. Außerdem gibt er mir "Bewegungsgeld", womit ich mir Fahrkarten kaufen kann. Manchmal stört mich, dass er mit mir spricht wie mit einem schutzbedürftigen Kind. Es ist mir eh schon peinlich, dass ich nicht anders über die Runden komme. Außerdem hilft mir mein Sohn. Er ist eigentlich nicht mein Sohn, sondern ein christlicher Flüchtling aus dem Iran, den ich vor einem Jahr in meiner Kirche kennengelernt habe und seitdem jeden Tag treffe. Ich helfe ihm, Deutsch zu lernen, dafür hat er mir bei meinem Umzug geholfen.

Dieser Text erschien zuerst bei watson.de.

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