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Gastbeitrag von Gregor Gysi: Hartz IV abschaffen – Müssen Arbeit ihre Würde wiedergeben


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Debatte über Armut in Deutschland
Gysi: Es droht eine Aushöhlung unserer Demokratie

MeinungEin Gastbeitrag von Gregor Gysi

Aktualisiert am 04.12.2018Lesedauer: 4 Min.
Linken-Politiker Gregor Gysi: Gysi sieht durch die zunehmende Armutsbedrohung im Land, den sozialen Frieden in Gefahr.Vergrößern des Bildes
Linken-Politiker Gregor Gysi: Gysi sieht durch die zunehmende Armutsbedrohung im Land, den sozialen Frieden in Gefahr. (Quelle: imago-images-bilder)

Die soziale Spaltung in Deutschland nimmt zu, die Armut wird größer. Was soll der Staat tun? Dies diskutieren Politiker in Gastbeiträgen auf t-online.de. Gregor Gysi sieht den sozialen Frieden in Gefahr.

Die Wirtschaft boomt. Dennoch sind immer mehr Deutsche von Armut bedroht. Rentner sammeln Flaschen, Alleinerziehende stocken mit Hartz IV auf. Knapp ein Fünftel ist von Armut oder sozialer Ausgrenzung bedroht. Im Jahr 2017 lag der Anteil laut Statistischem Bundesamt bei 19 Prozent. Daneben nimmt die ungleiche Vermögensverteilung zu. Die reichsten zehn Prozent der deutschen Bevölkerung besitzen 51,9 Prozent des Nettogesamtvermögens. Die ärmere Hälfte der Bevölkerung kommt gerade einmal auf ein Prozent.

Was sollte der Staat gegen die zunehmende soziale Spaltung im Land tun? Sollte er überhaupt eingreifen? Philipp Amthor (CDU), Gregor Gysi (Die Linke) und Rainer Brüderle (FDP) debattieren auf t-online.de ihre Visionen über den Sozialstaat der Zukunft.

In seinem Gastbeitrag sieht Gregor Gysi durch die Armut nicht nur den sozialen Frieden gefährdet, sondern er befürchtet auch Schaden für die Demokratie:

Mehr soziale Sicherheit wagen

Die Schere in Deutschland, Europa und der Welt bei Einkommen, Vermögen, sozialen, wirtschaftlichen und ökologischen Bedingungen klafft von Jahr zu Jahr weiter auseinander. Wenn die 62 reichsten Menschen der Erde ebenso viel Vermögen besitzen wie die 3,7 Milliarden der ärmeren Hälfte der Menschheit, wird eine Spaltung offenbar, die auf Dauer zerstörerisch wirkt. Vor sechs Jahren waren es die 366 Reichsten. Die Richtung der Entwicklung ist falsch.

Besonders beschämend und bedrohlich ist die Tatsache, dass diese finanziell untere Hälfte der Weltbevölkerung in den letzten fünf Jahren 41 Prozent ihres Vermögens verloren hat, während das der reichsten 62 Menschen um 44 Prozent gewachsen ist.

Gregor Gysi kann auf 23 Jahre als Mitglied des Deutschen Bundestages, zehn Jahre für die PDS und dreizehn für die Linke, zurückblicken. Von 2005 bis 2015 war er Fraktionsvorsitzender der Linksfraktion. Seit Ende 2016 ist er Präsident der Europäischen Linken.

Unterhöhlung der Demokratie

Diese Entwicklung vollzieht sich auch in Deutschland. Vor allem die Armutsquote hat hierzulande in den vergangenen Jahrzehnten deutlich zugenommen. Anfang der 90er-Jahre lebten gut elf Prozent der Bevölkerung in Haushalten, deren Einkommen weniger als 60 Prozent des mittleren Einkommens betrug. 20 Jahre später im Jahr 2015 lag der Anteil bei 16,8 Prozent.

Wenn diese Spaltung nicht überwunden wird, gerät nicht nur der soziale Frieden in Gefahr, sondern es droht eine Unterhöhlung der Demokratie mit allen Konsequenzen für Grundrechte, Freiheit und Rechtsstaat. Diese Erkenntnis greift langsam Raum, SPD und Grüne beginnen die maßgeblich von Ihnen mit der Agenda 2010 eingeleitete Entsolidarisierung und Entstaatlichung als grundlegendes Problem zu erkennen.

Weil dies der offensichtlichste Ausdruck des Abbaus sozialer Sicherung ist, konzentrieren sich viele Diskussionen auf die Frage, ob und wie man das Hartz-System ersetzen kann und muss. Und ohne Zweifel gehört die Schaffung einer sanktionsfreien Mindestsicherung, die bei der Arbeitsvermittlung die Qualifikation der Betroffenen, die Höhe des vorherigen Arbeitsentgeltes sowie den Verlauf des Berufslebens berücksichtigt, zu den vordringlichsten Aufgaben, um die soziale Spaltung zu überwinden.

Entwürdigung durch Hartz IV

Hartz IV ist Armut per Gesetz. Jedes siebte Kind muss in Deutschland in Hartz IV leben. Nach Eurostat sind die zumeist unverschuldet Arbeitslosen in Deutschland im EU-weiten Vergleich am stärksten von Armut bedroht. Ihr Armutsrisiko lag im Jahr 2016 bei 70,8 Prozent, während es in Finnland oder Frankreich unter 40 Prozent lag.

Wie sollte der zunehmenden sozialen Spaltung in Deutschland begegnet werden?
Gastbeitrag von Philipp Amthor: Von Jammern ist noch niemand reich geworden
Gastbeitrag von Rainer Brüderle: Wir brauchen auch einen Niedriglohnbereich

Die mit Hartz IV verbundene Entwürdigung der Menschen war Voraussetzung für die Schaffung des größten Niedriglohnsektors Westeuropas und die immer mehr zunehmende prekäre Beschäftigung. Dass in Deutschland über eine Million Menschen in Leiharbeit sind, über 22 Prozent im Niedriglohnbereich arbeiten und sich befristete Verträge binnen 20 Jahren mehr als verdoppelt haben, trifft vor allem jüngere, ältere und weibliche Beschäftigte. Wir müssen der Arbeit ihre Würde wiedergeben, indem prekäre Beschäftigung zurückgedrängt und das Lohnniveau angehoben wird. Der Mindestlohn muss über der Niedriglohnschwelle liegen und einen Rentenanspruch oberhalb der Grundsicherung gewährleisten. Dafür müsste er nach Berechnungen der Bundesregierung auf Anfrage der Linken mindestens 12,63 Euro pro Stunde betragen.

Gute Löhne für gute Renten

Hinzu müsste eine Arbeitslosenversicherung kommen, die die Beschäftigten wieder verlässlich vor den Folgen von Erwerbslosigkeit schützt. Dazu müsste nach 24 Monaten Beschäftigungsdauer mindestens 12 Monate Arbeitslosengeld gezahlt werden. Aus jedem weiteren Beitragsjahr resultierte ein weiterer Monat. Beschäftigten über 50 Jahre müssten nach Lebensalter gestaffelt mindestens 18 bis 36 Monate Arbeitslosengeld gezahlt werden. Es müsste auch ein Mindestarbeitslosengeld auf Basis des Mindestlohns eingeführt werden. Arbeitslosengeld muss es auch für Selbstständige in Insolvenz geben.

Gute Löhne sind eine Voraussetzung für gute Renten. Das gegenwärtige Rentensystem erkauft den Anschein von Zukunftsfestigkeit durch massenhafte Altersarmut. Die Rentenpolitik der letzten 15 Jahre stellte die Beitragssatzentlastung für die Arbeitgeber über die Armutsfestigkeit und die Lebensstandard sichernde Funktion der Rente. Das Mantra der Privatvorsorge, das alle Bundesregierungen seit Rot-Grün vor sich hertragen, liefert die Altersvorsorge dem Wohl und Wehe der Finanzmärkte aus und entpuppt sich für viele Betroffene als reine Augenwischerei.

Mehr Steuergerechtigkeit

Ein wirklicher Generationenvertrag für eine armutsfeste, den Lebensstandard auch für die Jüngeren sichernde Rente ist eine Erwerbstätigenversicherung, in die alle mit Erwerbseinkommen einzahlen, auch Politiker, Beamte, Anwälte und solche, die Millionen verdienen. Selbstverständlich braucht es für die Beamtinnen und Beamten Regelungen, die dafür sorgen, dass sie nicht schlechter dastehen als heute. Die Beitragsbemessungsgrenze muss entfallen, das heißt, der Beitrag wird vom gesamten Erwerbseinkommen bezahlt und ohne Beitragssatzdogma paritätisch von den Arbeitgebern mitfinanziert. Und für Spitzenverdiener müsste der Rentenanstieg abgeflacht werden.


Ein funktionierender Sozialstaat, gute chancengleiche Bildung und chancengleicher Zugang zu Kunst und Kultur, bezahlbare Wohnungen, moderne Infrastruktur und ein Gesundheitssystem, in dem nicht der Geldbeutel die Terminvergabe bestimmt, werden ohne Steuergerechtigkeit nicht zu finanzieren sein. Konzerne, Vermögende, Bestverdiener können und müssen mehr zur Finanzierung des Gemeinwesens herangezogen werden, um die Spaltung der Gesellschaft zu überwinden.

Die in Gastbeiträgen geäußerten Ansichten spiegeln die Meinung der Autorin (oder: des Autors) wider und entsprechen nicht notwendigerweise denen der t-online.de-Redaktion.

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