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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Sie werden geködert, wo sie unbeobachtet sind Ein gewalttätiges Comeback

Kehren die Baseballschlägerjahre der 90er zurück? Altbekannte Neonazis führen junge Menschen in die Szene ein: Mit Camouflage und Bomberjacke mobilisieren sie über TikTok.
Schüler, Jugendliche, junge Erwachsene: Sie werden zunehmend bei sozialen Netzwerken wie TikTok in die rechtsextreme Szene gezogen. Rechtsextreme Influencer ködern bereits unter 14-Jährige mit rechten Parolen oder auch bizarr wirkenden "Erklärvideos".
Mitorganisiert wird das offenbar von Alt-Nazis, die bereits strafrechtlich in Erscheinung getreten sind und auch im Verfahren um den Nationalsozialistischen Untergrund (NSU) eine Rolle gespielt haben. Das ergeben t-online-Recherchen. Der Ort des Geschehens verlagert sich nun zunehmend vom Internet auch auf die Straße. Experten warnen vor gefährlichen zweiten "Baseballschlägerjahren".
Wie konnten Alt-Nazis, die in der Szene eigentlich keine große Rolle mehr spielten, wieder so viel Einfluss gewinnen? Und welche Rolle spielt TikTok dabei? Die Strategien der Rechten geben Anlass zur Sorge.
Es erinnert an ganz alte Zeiten. Auf einem Marktplatz am 29. März 2025 in Schwerin treffen sich gut 40 Männer und ein paar Frauen. Sie tragen Springerstiefel und Bomberjacke, die Köpfe sind häufig kahl rasiert. In den Händen haben sie Plakate mit der Aufschrift: "Aryan Circle" oder "Deutschland, meine Heimat". Reichsfahnen sind mehrmals zu sehen. Auffällig viele junge Menschen sind bei der Demonstration. Viele nicht volljährig, manche wirken, als ob sie um die 14 Jahre alt sind.
Jugend läuft hinterher
Doch vorweg laufen nicht die jungen Neonazis. Bei der Demonstration hat ein Altbekannter das Sagen: Marcel S. Er kommt aus Bornhöved, einem kleinen Ort in Schleswig-Holstein und trägt Glatze mit Schwarze-Sonne-Tattoo am Hinterkopf – ein Symbol aus der rechtsextremen Szene. S. gehörte zur rechtsextremen Gruppe "Nordic Division", die sich im Juni 2019 zunächst in "Division Nord" und dann in "AC Nord" umbenannt hat. Er ist strafrechtlich schon auffällig geworden, wurde wegen Körperverletzung, Beleidigung, Sachbeschädigung und der Verwendung verfassungswidriger Kennzeichen vom Amtsgericht Neumünster zu zwei Jahren und sieben Monaten Haft verurteilt.
Marcel S. sagt, wann die Gruppe loszieht, wie sie sich aufstellen und was sie rufen sollen. Die jungen Rechten hören auf ihn, lassen sich erklären, wann es Sinn ergibt, Parolen zu brüllen – für die Rechtsextremen offenbar erst in Wohngebieten. S. verkörpert den Typus der alten rechtsextremen Garde. Er ist kein moderner Neu-Rechter, dessen Kleidungsstil sich nicht von Linken unterscheidet. Marcel S. hat den Look der 1990er-Jahre nicht abgelegt, trägt zur Glatze die schwarze Bomberjacke und Springerstiefel. Sein Auftreten erinnert bewusst an die blutige Zeit rassistischer Morde in Mölln und Solingen, die Pogrome von Hoyerswerda und Rostock-Lichtenhagen.
Alt-Nazis machen mobil
Doch wie hat Marcel S. die vielen Jugendlichen mobilisiert? Was früher auf der Straße begann, mit Gesprächen vor Jugendzentren, an der Tankstelle oder auf dem Dorfplatz, beginnt heute im Social-Media-Feed. Was früher über sogenannte "Nationale Infotelefone" mit endlosen Kampfansagen auf Anrufbeantwortern lief, ist heute per Klick in sozialen Netzwerken abrufbar. Offene Demokratiefeindlichkeit auf TikTok und anderen sozialen Netzwerken ist kein neues Phänomen. Doch rechte Gruppen nutzen die Plattformen zunehmend strategischer. Um ihre Ideologien zu verbreiten, gehen auch auf die ganz Jungen zu. Social Media bietet nicht nur eine viel größere Reichweite, sondern auch ein unerfahrenes Publikum, das empfänglich ist für einfache Antworten auf komplexe Fragen, aber auch Interesse hat an Provokationen.
Früher kursierten rechtsextreme Inhalte in abgeschotteten Foren wie "Thiazi" – heute verbreiten sie sich millionenfach in viralen Clips auf TikTok oder Instagram. Dabei sind es längst nicht mehr nur einschlägige Neonazis, die den Content streuen. Vielmehr inszeniert ein junges Publikum die alten Nazis – in schnell geschnittenen Videos, garniert mit Musik und Memes – als stilisierte Vorbilder. Der rassistische "White Power"-Gruß mit dem nachgestellten W und P hat Einzug auf Raves und Erntefesten gehalten. Kaum eine Party ohne "WP". Der Rechtsruck wird damit nicht nur sichtbarer, sondern auch popkulturell anschlussfähig.
"Deutsche Jugend voran"
Noch vor wenigen Jahren bemühten sich Neonazis, das Bild des "besorgten Bürgers" zu zeichnen – angepasst, bürgerlich, anschlussfähig. Die Ideologie blieb die gleiche, doch nach außen sollte sie in einem neuen Gewand daherkommen: weniger Springerstiefel, mehr Sakko. Heute scheint diese Fassade zunehmend überflüssig. Auf Plattformen wie TikTok tritt die Szene wieder offener radikal auf – und trifft damit auf ein junges, oft politisch unerfahrenes Publikum.
Die "Deutsche Jugend voran"-Bewegung (DJV), hat Ableger in mehreren Städten und gilt als Sammelbecken gewaltbereiter Jugendlicher. Viele ihrer Mitglieder wollen sich nicht in parteinahen Organisationen engagieren und schließen sich daher der DJV-Bewegung an – einer Gruppe, die in ihrem Auftreten und Habitus eher an Fußballhooligans und Ultras erinnert. So finden sich unter ihren Anhängern Fans von Hertha-, Union- oder Dresden-Fans. Videos von Aufmärschen und Aktionen landen auf TikTok und Instagram. Der Kopf der Bewegung in Berlin und Brandenburg, Julian M., stand zuletzt aufgrund von Gewaltdelikten vor Gericht und wurde zu einer dreijährigen Freiheitsstrafe verurteilt.
"Fit-Checks" mit Springerstiefeln
Mit Schlagwörtern wie "Deutsche Jugend Voran" oder "Der Störtrupp" posten Jugendliche und Minderjährige Videos und Fotos in einer martialischen Erscheinung. In sogenannten "Fit Checks" – kurzen Videos zur Selbstinszenierung des eigenen Outfits – zeigen Nutzer und Nutzerinnen ihren Kleidungsstil und setzen Mode als Teil ihrer Identität in Szene. Während dieses Stilmittel lange Zeit Teil einer modebewussten, weitgehend unpolitischen Szene war, nutzen vermehrt junge Neonazi-Anwärter die Inszenierung für sich. Immer mit der Aufforderung, aktiv zu werden.
Andere Gruppen nennen sich "Rheinlandbande", "Elblandrevolte" oder "Weserems.action". Sie alle haben die gleichen Feindbilder: Homosexuelle, Linke, die Grünen und natürlich die Demokratie.
Sie zeigen in Filmen, wie man mit Camouflage durch die Gegend flaniert, in der Straßenbahn, in Parks und an anderen öffentlichen Plätzen. Man will provozieren, im Netz und auf der Straße.
"90s Revival"
Wo führt das hin? Die rechtsextreme Szene auf TikTok ist längst nicht mehr nur politischer Inhalt in Reinform. "Rechtsextreme Ästhetiken" würden sich zunehmend mit Jugend- und Popkultur vermischen, beobachtet die Extremismusforscherin Theresa Lehmann von der Amadeu-Antonio-Stiftung. "Das Angebot an solcher Art von Inhalten reichert sich immer weiter an – es gibt sehr viele unterschiedliche Formate, und eines davon ist dieses 90s-Revival."
Die Szene vollziehe einen Stilwechsel. Es zeichne sich eine Entwicklung ab, "weg von diesem eher unauffälligen, ja irgendwas zwischen BWL und karrieristischem oder sportlichem Auftreten, das erst mal politisch unauffällig daherkommt – hin zu einem sehr eindeutigen, zum Teil sogar martialischen Stil."
Doch es geht nicht nur um Mode und Stil. Für die Expertin haben viele dieser Clips auch eine soziale Funktion innerhalb der Szene: "Ganz oft geht damit auch immer schon eine Drohgebärde einher. Es wird sich nach innen versichert, man macht sich bekannt unter anderen Akteuren und Akteurinnen auf der Plattform."
Auf TikTok und auf der Straße
"Sind die blutfest?", fragt ein Nutzer unter einem Post zu Springerstiefeln. Der Creator versteht die Frage erst nicht, der Nutzer ergänzt "Falls versehentlich mal ein Kopf im Weg liegt". Geschmacklose und zu Gewalt anstiftende Kommentare unter Videos und Bildreihen auf TikTok findet man zuhauf, einmal im Algorithmus, muss nicht einmal aktiv danach gesucht werden. Die sogenannte "For-You-Page" – eine für Nutzer persönlich mit Inhalten kuratierte Seite – radikalisiert sich von selbst.
Eine junge "Content-Creatorin" zeigt sich mit ihrem Schäferhund, Bomberjacke und Springerstiefeln, das Outfit steht im Kontrast zu einem Kinderzimmer mit bunten Wänden, Teddybären und Handtaschen. Der restliche Inhalt ihres Accounts ist eher der einer durchschnittlichen Teenagerin. Eine weitere Nutzerin zeigt ihr Dynamo-Dresden-Outfit, was in einem "White Power"-Gruß in die Kamera ihren Abschluss findet. Es ist oft das gleiche Muster, das Video beginnt meist harmlos und endet im Extremen. Die Hashtags unter den Videos reichen von harmlosen Zustandsbeschreibungen bis zu rechtsextremen Codes – so kommentiert ein Nutzer "Sieg Heil", die Community hebt kollektiv die Hand mit einem "winkendem Emoji", in der rechtsextremen Szene ein Code für den Hitlergruß.
Wie schnürt man Springerstiefel? Was bedeutet die Farbe der Schnürsenkel? Welche Marken werden getragen und wie wird in der Schule mit der Gesinnung umgegangen? All diese Fragen werden von Nutzern und Nutzerinnen der Plattform beantwortet, und in den Kommentaren gibt es rege Diskussionen über den Umgang auf dem Schulhof. Vermeintlich linke Lehrer, Andersdenkende und Schüler mit Migrationshintergrund sind das Feindbild.
Auffällig ist, dass das Auftreten nicht durchgehend modern ist. Alte Rechtsrock-Bands werden gespielt, man gibt sich weder modern noch anschlussfähig. Man sehnt sich anscheinend nach anderen Zeiten. Die Jugendlichen sind kaum wiederzuerkennen, rasierte Köpfe und Bomberjacke. Noch ein paar Jahre zuvor sind sie bei einem Brückenbau-Bastelwettbewerb zu sehen oder einer Jugendweihe, von der Gesinnung ist damals oberflächlich noch keine Spur.
Star der Szene
Lucas S. mit dem Spitznamen "Ch." oder auch der Anführer der "Elblandrevolte" Finley P. sind Shooting-Stars der jungen Neonazi-Szene und gewaltbereit. Finley P. griff im Dezember die Politikerin Samara Schrenk (Die Linke) an und kam daraufhin in U-Haft. Das tut dem Hype um deren Person jedoch keinen Abbruch, im Gegenteil: Junge Menschen pilgern zu den Demonstrationen, um Bilder mit den Rechtsextremisten zu machen. Finley P. hat längst eine Art Märtyrerstatus in dieser Szene erlangt. In mit Musik unterlegten Videos wie zum Beispiel "Ich hab heute nichts versäumt, denn ich hab nur von dir geträumt" – gesungen von Nena – werden junge bekannte Neonazis auf TikTok gefeiert. Medial bekannt wurden die beiden durch die "Spiegel-TV"-Doku "Die Elblandrevolte: Der Neonazi-Nachwuchs von Dresden".
Es sind gefährliche Vorbilder, die die junge Szene leiten – nicht selten mit einer Vergangenheit, die für andere Menschen tödlich endete.
In Schwerin auf der "Divisions"-Demo spielt neben dem rechtsextremen Marcel S. noch eine andere Person eine wichtige Rolle. Am Ende der Demonstration läuft mit Bernd T. ein Kumpane von Marcel S. mit. In den Neunzigerjahren war Bernd T. eine schillernde Figur in der Neonaziszene. Er war damals führendes Mitglied des "Freundeskreises Nationaler Aktivisten" – einer rechtsextremen Kameradschaft. Dokumente, die t-online vorliegen, belegen das. Später gründete T. eine weitere rechtsextreme Kameradschaft. Diese Kameradschaft nennt T. "Sturm 18", offenbar in Anlehnung an das verbotene international agierende Netzwerk "Combat 18", das als bewaffneter Arm von "Blood & Honour" gilt. Ein Netzwerk von Neonazis, das unter dem Deckmantel des illegalen Musikhandels agiert. "Blood & Honour"-Strukturen spielten auch für den Nationalsozialistischen Untergrund (NSU) eine wichtige Rolle.
Immer wieder fällt Bernd T. in dieser Zeit durch Gewalttaten auf. Der Höhepunkt: 1993 misshandelte er gemeinsam mit einem Mittäter Friedrich Maßling in Bad Segeberg stundenlang so schwer, dass der Mann an den Folgen starb. Zeugen berichteten im Gerichtsverfahren Tödter habe einen "Penner aufmischen" wollen. Die Folge: eine mehrjährige Haftstrafe in der JVA Neumünster.
Nach Verbüßen dieser Strafe führte es ihn nach Kassel – doch auch dort wird er wieder wegen einer Gewalttat inhaftiert. Seit 2019 ist Bernd T. zurück in seiner Geburtsstadt Bad Segeberg. Jugendliche für seine rechtsextreme Ideologie zu gewinnen, war schon damals sein Ziel. Es kommt dort zu Anwerbeversuchen der Rechtsextremen vor verschiedenen Schulen.
"Aryan Circle"
Sein neues Netzwerk nennt er nun "Aryan Circle". Dieser "Aryan Circle" besteht offenbar noch bis heute, denn die Jugendlichen auf den Demonstrationen tragen Fahnen und Plakate mit genau diesem Namen. Der damals noch junge rechtsextreme Marcel S. und seine "Division Nord" schlossen sich Bernd T. und dem "Aryan Circle" an. Sie fotografierten zum Beispiel Klimaaktivisten, klingelten bei ihnen zu Hause und bedrohten sie.
Auf unsere Anfrage antwortet Bernd T. ausführlich. Er beschreibt, dass das Zeigen der Flaggen auf den Demonstrationen nicht zufällig passiere, "sondern Teil einer größeren Strategie" sei, so T. "Die Verwendung einiger Symbole zielt darauf ab, eine bestimmte Ideologie zu bekräftigen und eine gewachsene Identität innerhalb der Bevölkerung sichtbar zu machen", schreibt er t-online. Er äußert sich auch zu TikTok und der Bedeutung der sozialen Medien: "Die Demo wurde auch auf Onlinemedien genutzt, um unzensierte Inhalte zu teilen. Plattformen wie FB, Instagram, TikTok u.ä. haben sich als äußerst effektiv erwiesen, um interessierte Zielgruppen anzusprechen." Dies stellt laut Bernd T. "eine neuartige Strategie dar, die aktiv eingesetzt werden kann, um Interessierte zu mobilisieren."
Indem die Sprache und Kultur dieser Plattform genutzt werde, "können Personen erreicht werden, die möglicherweise durch traditionelle Informationskanäle nicht angesprochen werden", schreibt Bernd T. "Insgesamt spielen Onlinemedien eine zentrale Rolle in der Mobilisierung der Szene." Die aktuelle Entwicklung der rechten Mobilisierung zeige, "wie wichtig es ist, innovative Wege zu finden, um Menschen zu erreichen und ihnen eine Plattform zu bieten, um sich mit vernünftigen Ideologien auseinanderzusetzen."
Bernd T. schreibt außerdem: "Wir arbeiteten eng mit anderen Organisatoren zusammen, um eine klare Strategie für zukünftige Versammlungen zu entwickeln und Fokusgruppen zu bilden, die Ideen und Vorschläge der Teilnehmenden aufgriffen."
Die alten Rechtsextremisten bieten sich nach Einschätzung von Theresa Lehmann als eine Art Vorbild an. Gerade durch die Corona-Zeit fühlten sich Jugendliche alleingelassen, hätten die Erfahrungen gemacht, keine Lobby und keine Stimme zu haben. Die Rechtsextremen geben vor, ihnen die nötige Aufmerksamkeit und auch Stimme zu geben: "Ich glaube schon, dass die letzten Jahre dazu geführt haben, dass sich eine Politikverdrossenheit, Demokratieverdrossenheit eingestellt hat", so Lehmann. Rebellion habe es zwar schon immer gegeben, aber: "Der Stil wird gefährlicher!" Und dieser Stil äußert sich laut Lehmann nicht nur in Gebärde und Auftreten der Jugendlichen. "Wir sehen gerade, dass auch das Gewaltpotenzial zunimmt."
Lehmann sieht in dieser Entwicklung ein politisches Versäumnis. Sie kritisiert, dass Rechtsextremismus in der politischen Wahrnehmung zunehmend in den Hintergrund gerate – trotz der realen Gefahr: "Noch 2021 stand Rechtsextremismus als größte Gefahr für die Demokratie im Koalitionsvertrag. Das sucht man im jetzigen vergeblich." Dass damit ein wichtiges Signal fehle, sei aus ihrer Sicht fatal – gerade angesichts einer wachsenden Präsenz rechter Akteure im digitalen Raum.
Marcel S. hat auf Anfrage von t-online zwar reagiert, wollte sich aber nicht äußern.
- Anfrage Marcel S.
- Anfrage Bernd T.
- Reporter auf der Demo in Schwerin
- spiegel.de: "Die Elblandrevolte – Der Neonazi-Nachwuchs von Dresden (SPIEGEL TV)"
- Diverse TikTok-Videos und Kanäle
- Eigene Recherche