Ohne Geld im reichen Land "Viele Deutsche marschieren in die Altersarmut"
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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Die Wirtschaft boomt. Dennoch sind immer mehr Deutsche von Armut bedroht. Rentner sammeln Flaschen, Alleinerziehende stocken mit Hartz IV auf. Wie kann das sein?
Er hat wenig Geld, sonst wäre er nicht hier. Hans-Joachim Nugk sitzt zurückgelehnt in einem Stuhl. Es sind die ersten kalten Tage in Berlin, Nugk hat mehrere Schichten Kleidung an. Auch im Winter wird er oft draußen sein. Er ist Rentner, seine Frau ist schon seit drei Jahren tot. In der DDR saß er lange Zeit im Gefängnis. Der Vorwurf: asoziales Verhalten, weil er nicht arbeiten wollte. Heute ist er neben Rente und Witwenrente auf Grundsicherung angewiesen.
Deswegen ist Nugk in der Sprechstunde von Sozialpädagogin Renate Stark in Prenzlauer Berg. Neben ziemlich teuren Mietwohnungen und einer roten Backsteinkirche befindet sich die kleine Caritas-Beratungsstelle. Hier berät Stark schon seit mehr als 26 Jahren Menschen, die von Sozialleistungen leben. "Mit Herzblut", wie sie sagt. Sie ist die einzige Beraterin in dem Büro, Nugk kennt sie schon seit zwei Jahrzehnten.
Der 76-Jährige muss jeden Cent umdrehen, jede außerplanmäßige Rechnung ist eine Herausforderung. In der Beratungsstelle redet er mit Stark über seine Betriebskostenabrechnung. Sie hat ihm auch geholfen, einen Staubsauger zu finanzieren. Die Rechnung hat Nugk aber zu Hause vergessen. "Am Dienstag bringst du sie mir aber mit", sagt Stark. Nugk nickt. Zusätzlich zu den Sozialleistungen sammelt und lagert der Rentner Pfandflaschen – als Absicherung für schlechte Zeiten und für die schönen Dinge. Für kleine Geschenke zum Beispiel, wie Lebkuchen an Weihnachten. Die Flaschen hortet er in seiner Wohnung in einem Raum, manchmal auch direkt in seinem Schlafzimmer.
Immer mehr Deutsche von Armut bedroht
So wie Nugk geht es immer mehr Menschen in Deutschland. Knapp ein Fünftel ist von Armut oder sozialer Ausgrenzung bedroht. Im Jahr 2017 lag der Anteil laut Statistischem Bundesamt bei 19 Prozent, das entspricht etwa 15,5 Millionen Menschen. Die Erhebung fand im Zuge der EU-weiten Studie "Leben in Europa" statt. Die Bedrohung durch Armut und eine zunehmende soziale Spaltung gehören zu den größten Problemen des 21. Jahrhunderts.
Aber was bedeutet Armut? Prinzipiell bemisst man Armut und soziale Ausgrenzung in drei Kriterien: Das Einkommen der betroffenen Person liegt unterhalb der Armutsgefährdungsgrenze im jeweiligen Land, ihr Haushalt ist von erheblicher materieller Entbehrung betroffen oder ihr Haushalt weist eine sehr geringe Erwerbsbeteiligung auf. Weltweit sind 768 Millionen Menschen von absoluter Armut betroffen. Das heißt, sie kämpfen ums Überleben.
In Deutschland spricht man meistens von relativer Armut. Ein Mensch gilt als armutsgefährdet, wenn er über weniger als 60 Prozent des mittleren Einkommens der Gesamtbevölkerung verfügt. 2017 lag dieser Schwellenwert für Alleinlebende in Deutschland bei 1.096 Euro netto und für zwei Personen mit zwei Kindern unter 14 Jahren bei 2.302 Euro netto im Monat. Aber auch absolute Armut rückt in Deutschland in den Fokus: Laut der "Leben in Europa"-Studie haben Arbeitslose auch hierzulande oft zu wenig Geld, um sich Essen zu kaufen. 30 Prozent aller Erwerbslosen in Deutschland hatten im Jahr 2016 Schwierigkeiten, jeden zweiten Tag eine vollwertige Mahlzeit zu bezahlen. In der Gesamtbevölkerung lag der Anteil bei 7,1 Prozent.
"Es war immer schwierig"
In der Caritas-Beratungsstelle sitzt Inga G. mit ihrer zweijährigen Tochter auf dem Arm. Die 41-Jährige ist erschöpft. "Heute ist kein guter Tag", sagt sie, während ihr Kind unter den Tisch krabbelt. Inga ist alleinerziehende Mutter von drei Kindern. "Es war immer schwierig. Ich bin schon lange Alleinerziehende", sagt sie. Inga hat studiert und arbeitete im Bereich Musikmanagement. Eine Lösung mit Job und Kinderbetreuung gab es nicht: "Trotz Home-Office-Zeiten, die ich mir dann immer öfter genommen habe, hatte ich vor vier Jahren ein Burn-out. Nach der Kündigung ging es rapide abwärts."
Inga erzählt von einer unschönen Trennung, Ärger mit Anwälten und mit dem Jobcenter. "Es gibt nie eine Zeit, in der ich frei habe. Es wird immer vorausgesetzt, dass ich da bin, um auf die Kinder aufzupassen", meint sie. "Es ist keine Panik, aber Ängste habe ich schon. Zum Glück habe ich ein stabiles Elternhaus, das mich in der Not immer unterstützt." Während sie spricht, fängt ihre Tochter an zu schreien, sie kneift ihre Mutter. Inga nimmt sie wieder auf den Arm. Hemmnisse, zu der Hartz-IV-Beratungsstelle zu gehen, hatte sie nicht: "Es geht schließlich um meine Kinder."
In Deutschland sind vor allem bestimmte Gruppen von Armut gefährdet. "Es waren immer schon die Alleinerziehenden und die Kranken. Jetzt kommt Altersarmut immer stärker mit dazu", erklärt Sozialpädagogin Stark. "Die vielen Menschen, die wir aktuell als Aufstocker haben. Die marschieren alle in die Altersarmut." Derzeit gibt es im Land ca. 1,1 Millionen Hartz-IV-Aufstocker. Die höchsten Armutsrisiken tragen laut Statistischem Bundesamt Erwerbslose, Alleinerziehende, Kranke und Nichtdeutsche. Auch Kinder und Jugendliche sind besonders von Armut bedroht. Doch am stärksten nimmt das Armutsrisiko der Senioren zu.
Durch sein Alter und seine lange Arbeitslosigkeit war der 76-jährige Nugk doppelt armutsgefährdet. Er ist froh, dass er in der Beratungsstelle Hilfe bekommt. "Ich war schon mehrfach im Fernsehen", erzählt er fast ein wenig stolz. "Einmal wegen Einsamkeit und ein zweites Mal wegen Flaschensammeln." Sein Alltag sieht oft gleich aus. "Ich gehe in ein kleines Café. Dort kann ich mich mit Jemandem unterhalten und ich helfe ein wenig", erzählt er. "Da werde ich gelegentlich umarmt und bekomme ein Küsschen auf die Wange. Es ist wie eine Familie."
Ungleiche Verteilung der Vermögen
Aber auch Arbeit schützt Menschen im Land nicht mehr unbedingt vor Armut. Die Schere zwischen Arm und Reich geht immer weiter auseinander, in den vergangen Jahren hat sich diese Entwicklung zunehmend beschleunigt. "Die Gruppe der mittleren Einkommen ist geschrumpft", stellt das Wirtschafts- und Sozialwissenschaftliche Institut in seinem aktuellen Verteilungsbericht fest. Das Institut gilt als gewerkschaftsnah. Der Anteil der Haushalte unter der Armutsgrenze habe deutlich zugenommen, ähnlich wie der Anteil der Haushalte, der über der statistischen Reichtumsgrenze im Jahr 2017 von 6844 Euro brutto liegt.
Die reichsten zehn Prozent der deutschen Bevölkerung besitzen 51,9 Prozent des Nettogesamtvermögens. Die ärmere Hälfte der Bevölkerung kommt gerade einmal auf ein Prozent. Laut dem Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung besitzen die reichsten 45 Familien in Deutschland mehr Vermögen als die gesamte ärmere Hälfte der Bevölkerung.
Die Ungleichheit bei der Vermögensverteilung nimmt also zu. Während die Löhne nahezu stagnieren, erhöhen sich die Lebenserhaltungskosten. Dabei fallen die rasanten Mieterhöhungen besonders ins Gewicht und treffen vor allem den ärmeren Teil der Bevölkerung. So werden auch für Menschen, die keine Sozialleistungen beziehen, steigende Mieten eine Armutsbedrohung. So geben viele Arbeitnehmer mittlerweile mehr als ein Drittel ihres Nettoeinkommens für ihre Miete aus. Nach jedem Wechsel der Lebensumstände und den damit verbundenem Umzug droht eine Mieterhöhung.
Prekäre Jobs und Arbeitsbedingungen
Diese Entwicklungen sieht auch die Bundesregierung. Sie führte einen Mindestlohn ein, senkte die Beiträge zur gesetzlichen Krankenversicherung für Arbeitnehmer und erhöhte sie für Arbeitgeber, schrieb das Rentenniveau bis zum Jahr 2025 fest und senkte den Arbeitslosenbeitrag. Zuletzt stiegen auch die Tarifbindungen in Deutschland. In erster Linie versucht die große Koalition aber, Menschen in Arbeit zu bringen. Diese Politik zeigt Erfolge: Deutschland boomt wirtschaftlich, es gibt immer neue Tiefstände bei der Arbeitslosigkeit und mittlerweile 32,83 Millionen Beschäftigte. Ein Rekord. Auf der anderen Seite profitiert nicht jeder von dem Erfolg. Fast eine Million Menschen sind Leiharbeiter und neun Millionen arbeiten in Teilzeit. Auch ein Rekord.
"Wir haben Maßnahmen getroffen zur Verhinderung von Altersarmut durch das Rentenpaket und bereiten weitere Maßnahmen vor. Darüber hinaus ist Armut meist Folge von Arbeitslosigkeit", sagt der CDU-Bundestagsabgeordnete Matthias Zimmer t-online.de. "Dem begegnen wir mit Angeboten zur Fort- und Weiterbildung." Katja Mast, stellvertretende Vorsitzende der SPD-Bundestagsfraktion, sagt im Gespräch mit t-online.de: "Wir müssen Arbeit insgesamt stärken, auch durch Weiterbildung und die Vereinbarkeit von Familie und Beruf. Wir brauchen eine Debatte über ein Recht auf Arbeit statt eines bedingungslosen Grundeinkommens. Mit dem Sozialen Arbeitsmarkt und den darin enthaltenen Jobchancen für extrem arbeitsmarktferne Langzeitarbeitslose gehen wir schon in diese Richtung."
Zusätzlich fordert die SPD eine Verschärfung der Mietpreisbremse oder einen deutlich höheren Mindestlohn. Und sie möchte Hartz IV hinter sich lassen. Die Union sieht das skeptisch.
Die ewige Frage: Mehr Umverteilung oder weniger?
Es ist die alte Debatte im Kampf gegen Armut: Sollte es mehr Umverteilung geben oder weniger? Seit jeher gibt es darüber im Bundestag verhärtete Fronten. "Eine schrumpfende Mittelschicht, eine zementierte Unterschicht und unverhältnismäßig hohe Managergehälter lassen viele Menschen ein Gefühl der Ungerechtigkeit empfinden", warnt Mast. Dieses Ungerechtigkeitsempfinden spaltet die Gesellschaft, auf Kosten des sozialen Friedens.
"Eine zu starke Erhöhung des Mindestlohns zerstört Arbeitsplätze und ist kein Beitrag dazu, soziale Spaltungen zu überwinden", meint dagegen CDU-Politiker Zimmer. Unterstützung bekommt er aus Reihen der FDP. "Wer die Lohnfindung in den Deutschen Bundestag holen will, verabschiedet sich von der Sozialen Marktwirtschaft", sagt auch Johannes Vogel, arbeitsmarktpolitischer Sprecher der FDP-Bundestagsfraktion, t-online.de. "Das wird nur zu einem Überbietungswettbewerb führen, unter dem am Ende leider genau die leiden, die es beim Einstieg auf den Arbeitsmarkt schwer haben."
Wirtschaftsliberale Kreise in Union und FDP fordern eine Flexibilisierung der Wirtschaft. Arbeitnehmer sollen demnach länger arbeiten dürfen und die Belastungen durch Steuern sollten gesenkt werden. "Wir brauchen eine andere Politik. Ohne Wachstum und wirtschaftliche Dynamik gibt es nichts zu verteilen", sagt Vogel. "Die Millionen von Menschen, die die deutsche Wirtschaftsleistung erst herstellen, müssen wir entlasten und ihnen ermöglichen, sich durch ihre Arbeit etwas aufzubauen."
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Aber kann die Vermögensungleichheit in Deutschland mit Steuersenkungen abgeschwächt werden? Nein, findet die Linke. "Zunächst gilt es, den Reichtum schon dort gerechter zu verteilen, wo er erwirtschaftet wird. Wir fordern, prekäre Beschäftigung wie Leiharbeit, Werkverträge und Minijobs abzuschaffen beziehungsweise rechtlich einzudämmen, die Tarifbindung zu stärken und den Mindestlohn zu erhöhen", kritisiert Sabine Zimmermann, arbeitspolitische Sprecherin der Linken im Bundestag. Statt Hartz IV fordert sie eine sanktionsfreie Mindestsicherung von 1.050 Euro im Monat.
"Für einen Menschen, der normal arbeitet, ist es aktuell fast unmöglich, sich gegen Armut abzusichern", sagt auch Renate Stark. Den ganzen Vormittag hat sie sich Geschichten angehört. Geschichten über Hartz IV, arme Kinder, einsame Rentner. Jetzt steht sie vor der Tür, eine Zigarette lang Pause. "Alte Menschen und Rentner sollten nicht betteln müssen", findet sie. "Das ist nicht fair." Dann ist die Pause vorbei. Das Wartezimmer ist noch voll.
Mit diesem Text beginnt unsere Serie "Armut in Deutschland". Über mehrere Tage wollen wir das Thema in Reportagen, Videos, Interviews und Analysen von unterschiedlichen Perspektiven beleuchten. Lassen Sie uns gerne Ihre Meinung zu dem Thema wissen.
- Eigene Recherche
- Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung (PDF)
- Statistisches Bundesamt: Publikationen im Bereich Armutsgefährdung
- bpb: Armutsrisiko alleinerziehend
- Zeit: Soziale Spaltung in Deutschland nimmt weiter zu
- Tagesspiegel: Armut, Reichtum, Ungleichheit
- Zeit: Fast jeder fünfte Deutsche ist von Armut bedroht
- Spiegel Online: Regierung warnt vor Spaltung der Gesellschaft
- Zeit: Arm sind nicht nur Migranten
- RP Online: Anzahl der Aufstocker trotz Mindestlohn kaum gesunken
- Welt: Hunderttausende Rentner leben in verdeckter Armut