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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Polit-Posse in Moskau Wagenknecht-Ex spielt in Russland den "Exil-Kanzler"
Wie kommt ein Deutscher zu Treffen mit dem russischen Außenminister, dem Gazprom-Chef, dem Putin-Sprecher? Indem er sich als Vertreter der "Exilregierung" ausgibt.
Es war ein schlecht belichtetes Video mit ungeheuerlicher Botschaft, das Ralph T. Niemeyer aus dem Flieger nach Russland postete: Die "BRD-Verwaltung" sei suspendiert, erklärte er, und die "Exilregierung" mit ihm an der Spitze übernehme die völkerrechtliche Vertretung von Deutschland. Die Russen hätten die Botschaft so gewollt, sagt er heute. Es war demnach die Bedingung dafür, dass er dann Außenminister Sergej Lawrow treffen durfte, den Putin-Sprecher Dmitri Peskow und den Gazprom-Chef Alexei Miller. Dieser Text erzählt die Geschichte, wie die russische Führung willig Märchen schluckt für ein Treffen mit einem in Deutschland bedeutungslosen Politiker, der seit dem Zusammenbruch der DDR ein bestimmtes Ziel verfolgt.
Das Video aus dem Flugzeug, in dem Ralph Niemeyer die "Exilregierung" ausruft, hat in den sozialen Netzwerken mehr Erheiterung als Fassungslosigkeit ausgelöst. Er hat es wieder gelöscht, "aber das haben die Russen nicht gemerkt". Er habe da "unsauber formuliert", sagt der Mann, der einst mit Sahra Wagenknecht verheiratet war. Man dürfe "das Zitat auch nicht ganz so ernst nehmen". Aber man habe ihm "von der russischen Präsidialverwaltung gesagt, dass ich erklären muss, dass ich für Deutschland spreche, wenn ich die Termine haben will".
Einladung kam nach Brief an Putin
"Die Termine", das waren dann tatsächlich Zusammentreffen mit den hochkarätigen Vertretern Russlands. Und das auf einer Reise nach Wladiwostok und Moskau mit Unterkunft in Luxushotels für den Kleinunternehmer, der öfter Probleme beim Thema Geld hat. Niemeyer berichtet davon, als habe er um Diplomatie bemühte Staatenlenker getroffen und nicht Strippenzieher des Angriffskriegs gegen die Ukraine. Russische Bomben seien ihm aber auch nicht lieber als amerikanische, sagt er, und das habe er auch den Russen deutlich gesagt. Auf Lawrow habe er wie viele andere Delegationen warten müssen, sei dann als Letzter drangekommen, "aber dafür am längsten".
Wenn seine Schilderungen stimmen, dann hat Russland sich gezielt einen Mann eingeladen, der seit 1990 auf eine "verfassunggebende Versammlung für das gesamte Deutschland" hinarbeitet. Niemeyer hat den Russen konstruierte Begründungen dafür geliefert, ihn als Vertreter Deutschlands bereitwillig zu empfangen. Am 11. Juli hat er sich Russlands Präsident Wladimir Putin in einem Brief angeboten, um als neue Staatsführung für Deutschland an der Bundesregierung vorbei zu verhandeln. Am 16. Juli kam schon die Einladung, berichtet er t-online.
Als er sich dann von Wladiwostok aus an die "lieben Mitbürgerinnen und Mitbürger" richtet, wirkt er wie ein besorgter Großvater. Doch es dauert nicht lange, bis "Reichsbürger"-Phantasmen deutlich werden: Deutschland müsse jetzt "den Schritt gehen, souverän zu werden und nicht mehr Vasall der USA zu sein." In einem Post zu seinem Video notierte er, dass die Treffen nun die De-facto-Anerkennung seiner "Exilregierung" bedeuteten.
Auf Nachfrage von t-online rudert er zurück: Keine Regierung könne einfach einen Oppositionsführer anerkennen, "und ich bin ja nicht einmal der Oppositionsführer". Er spricht am Telefon über das Ziel seiner Mission: Er, der Vertreter Deutschlands, unterschreibe einen Vertrag über russisches Gas – "dann hat Deutschland Gas, die BRD nicht". Die bewusste Unterscheidung trifft er oft: Er ist also Vertreter der Exilregierung eines Deutschlands, um das es 1945 im Potsdamer Abkommen ging. Dann sei das ja auch keine Amtsanmaßung.
Miller, der Gazprom-Chef, habe ihm zugesichert, er könne morgen Nord Stream 2 aufdrehen. Es ist das, was die russische Regierung offenbar unbedingt vermitteln will und Teil einer Propaganda mit gefälschten Medienartikeln ist: Sie lässt zwar durch Nord Stream 1 kein Gas fließen, aber sie würde das durch Nord Stream 2 bereitwillig tun. So etwas heizt eine Debatte in Deutschland an.
Niemeyers Vorstellung: Er winkt mit einem Gasvertrag, und wenn Bundeskanzler Olaf Scholz ihn für die Bundesrepublik nicht annimmt, dann werde er das für Deutschland tun. Weil er die Möglichkeit aufzeigt, werde der Druck der gebeutelten Wirtschaft zunehmen "und die Bundesregierung dem Wunsch der Industrie nachkommen oder abgesetzt werden". "Es gibt ja auch den Artikel 20, Absatz 4."
"Sahra parlamentarisch, ich außerparlamentarisch"
Das ist der Artikel im Grundgesetz, der vom Widerstandsrecht spricht, wenn alle anderen Möglichkeiten ausgeschöpft sind. Er wird seit Beginn der Corona-Pandemie immer wieder bemüht. Dass es Proteste gibt, habe sich doch die Regierung selbst zuzuschreiben. "Ich gebe der Sache nur noch einen Schubs mit meinen Verhandlungen, die Menschen zum Nachdenken bringen."
Niemeyer, der Mann, der die Regierung in Deutschland stürzt? Das wäre "Selbstüberschätzung", sagt er, "aber es wird sicher mehr Druck aufgebaut. Sahra macht das parlamentarisch, ich außerparlamentarisch." Sahra, das ist Sahra Wagenknecht, ehemals für 15 Jahre seine Ehefrau. "Wenn wir gewinnen, wünsche ich sie mir als Kanzlerin", sagt er. Wagenknecht, die gerade die Linkspartei zu zerreißen droht, erklärt auf Anfrage lediglich: "Ich habe mit dieser Reise nichts zu tun. Wir sind seit 2013 geschieden."
Sonderlich wählerisch war Russland in den vergangenen Jahren nie darin, in Deutschland kaum bekannte oder politisch unbedeutende Politiker als wichtige Freunde Russlands zu präsentieren. Niemeyer wurde vielleicht auch ein roter Teppich ausgerollt in der verwegenen Hoffnung, in Deutschland damit Unruhe zu verstärken. Oder um Propaganda im eigenen Land zu machen, um also im russischen Fernsehen in verschiedenen Sprachen einen vermeintlich wichtigen und smart aussehenden eloquenten Deutschen zu präsentieren, der gerne mit Russland verhandelt.
Haftstrafe wegen Betrugs Anfang der Neunzigerjahre
In der Vergangenheit wurden ihm Verhandlungen auch schon zum Verhängnis: Niemeyer verbüßte infolge einer Tätigkeit als Finanzberater in den frühen Neunzigerjahren eine Haftstrafe wegen des Vorwurfs Betrug in 46 Fällen. "Das hängt mir bis heute nach", sagt er, und schickt ein Foto eines Führungszeugnisses vom Sommer 2021, das nach so vielen Jahren ohne Einträge sei. Er sei damals 22 gewesen und habe sich nicht bereichert, sondern investigativ recherchiert.
Aber da gibt es auch die Warnung aus der "Querdenker"-Szene von Anfang August, er leihe sich Geld und Aktivisten warteten auf Beträge von bis zu 25.000 Euro. Solche Behauptungen habe er per einstweiliger Verfügung untersagen lassen, erklärt er, und schickt das erste Blatt der Entscheidung des Gerichts. Er werde sich darum kümmern, dass der Vorwurf nicht mehr auf einer Internetseite der "Mutigmacher" zu lesen sei.
Dort beschwerte sich auch Eva R., eines der Gesichter des Corona-Widerstands und Mutter seines fünften Kindes. Drei hat er während seiner Ehe mit Wagenknecht gezeugt, wenn auch nicht mit ihr. Niemeyer stand auch wegen nicht gezahlten Unterhalts in der Schweiz schon vor Gericht, wurde aber freigesprochen.
Von RTL-Anwalt Christopher Posch verfolgt
Die Richterin sei zum Schluss gekommen, dass er mit seinem Einkommen so hohe Ansprüche nicht habe bedienen können. Für die RTL-Doku "Ich kämpfe für Ihr Recht!" lief ihm und Wagenknecht zwei Jahre später noch TV-Anwalt Christopher Posch mit der Frage nach, ob sie für ausstehenden Unterhalt nicht ihr gemeinsames Landhaus in Irland würden verkaufen wollen. Niemeyer sagt, er erfülle seine Unterhaltsverpflichtungen nach der Düsseldorfer Tabelle.
Eva R. distanziert sich aber ebenso von ihm wie der "Deutschlandkongress". Dabei tritt Niemeyer als Präsident dieser Gruppe auf – in Briefen, die er aus Russland an die Regierungschefs der alliierten Siegermächte geschickt hat. Er schlägt Verhandlungen über einen Friedensvertrag vor und hat auch Trump angeschrieben, man weiß ja nie. Den "Deutschlandkongress" hatte er 1989 mitgegründet. 30 Jahre lang war davon nichts zu hören – bis Corona kam. Plötzlich glaubten nennenswert viele Menschen, es würden noch SHAEF-Gesetze amerikanischer Besatzer gelten, Deutschland brauche einen Friedensvertrag und müsse souverän werden. Auch Niemeyer argumentiert so.
Doch beim "Deutschlandkongress" sei er gar nicht mehr, räumt er ein. Die Schreiben an die Regierungschefs, auf denen das steht, seien auch noch bearbeitet worden und die Nennung dieser Funktion sei entfernt worden. Was er auf Telegram verbreitet hat, sei eine alte Version. Wieder so ein Versehen, wie das gelöschte Video.
Auf der Bühne bei größter "Querdenker"-Demo
Beim "Deutschlandkongress" ist Niemeyer unerwünscht nach einer von ihm initiierten "Volksversammlung" vor dem Brandenburger Tor am 17. Juni 2022. Teile der Reden waren selbst seinen Mitstreitern zu abwegig. Es waren bekannte Leute aus der "Gelbwesten"- und "Reichsbürger"-Szene darunter, aus der auch 2020 anlässlich einer großen "Querdenker"-Demo der Aufruf zum Treppensturm auf den Reichstag kam. Nach Demos vor der russischen Botschaft.
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Niemeyer selbst hatte an diesem 29. August in Berlin bei der größten "Querdenker"-Demo vor angeblich "1,4 Millionen Menschen" gesprochen, einer Menge, die wohl tatsächlich deutlich unter 50.000 lag. Damals kündigte er an, man werde ohne eine Verfassung nicht weggehen. Und wenn Merkel das nicht begreife, "dann muss einer von uns ins Kanzleramt gehen". Mit dem Sturm auf die Reichstagstreppen habe er nichts zu tun, erklärt er.
Bei der Groß-Demo war er in Begleitung von Alina Lipp, heute als deutsche Putin-Propagandistin aus Donezk bekannt. In ihrem beruflichen Profil gab sie auch mal an, für Niemeyers Firma zu arbeiten, die bei der Wasseraufbereitung im Jemen und in Tansania tätig ist. "Reich wird man damit nicht", erklärt Niemeyer. Das Arbeitsverhältnis war jedenfalls sehr kurz, aber dafür sahen sie sich am Rande eines Wirtschaftsforums in St. Petersburg wieder. Lipp wollte sich auf Anfrage nicht zu Niemeyer äußern.
Am 29. August 2020, als niemand ins Kanzleramt gegangen und auch der Reichstagstreppen-Sturm folgenlos geblieben war, gab Niemeyer einen neuen Termin aus. Stichtag zur "Vollendung der deutschen Einheit auch mit Friedensvertrag und Verfassung" sollte dann der 3. Oktober 2020 sein. Es wurde nichts daraus, dem anfänglich offenbar begeisterten "Querdenken"-Gründer Michael Ballweg sei eine Demo am Bodensee an dem Tag wichtiger gewesen, so Niemeyer. Ballweg sitzt inzwischen wegen Betrugsverdachts in Haft.
Als Nächstes sollte eine von Niemeyer geplante "verfassungklärende Versammlung" in Magdeburg "historische Fakten" schaffen. "Wir werden die Bundestagswahl nicht mehr anerkennen", schrieb er auf Facebook, wo sein Account vor einigen Wochen gesperrt wurde. Die Bundestagswahl am 26. September 2021 fand allerdings ohne Probleme mit der Anerkennung statt. Die "verfassungklärende Versammlung" tags zuvor war abgesagt worden, wegen Corona-Bestimmungen "und weil es innerhalb solcher Orgas immer Streitereien gibt", wie Niemeyer erklärt.
Frage zu Schabowskis berühmtem Ausspruch gestellt
Kurz zuvor war auch eine mit Blick auf den Termin geplante Veranstaltung unter dem Titel "Zeit, es zu beenden" in Berlin zu einer Pleite geworden, die von t-online als "peinlichste Revolution aller Zeiten" bezeichnet wurde (mehr dazu lesen Sie hier). Er sei da nicht beteiligt gewesen, sagt Niemeyer. Seine damalige rechte Hand im "Deutschlandkongress": eine "Reichsbürgerin" aus Köln.
Die Idee, Deutschland eine Verfassung zu geben, obwohl das Grundgesetz nach fast einhelliger Meinung aller Staatsrechtler eine solche ist, verfolgt er seit 1989. Niemeyer beansprucht für sich, am 9. November 1989 bei einer Pressekonferenz Günter Schabowski mit einer Frage zur Reisefreiheit zu dessen weltberühmter Antwort gebracht zu haben: "Das tritt nach meiner Kenntnis … ist das sofort, unverzüglich …". Seine ersten Fragen an einen Politiker hatte er als 13-jähriger Schüler geführt, als er Helmut Schmidt ein halbes Jahr lang nachlief, ehe es klappte.
Er war 20 und hauptberuflich Journalist, als Helmut Kohl ihm dann 1990 in den Einheitsverhandlungen in Moskau einmal gesagt habe: "Wir werden eine Verfassung zu schaffen haben". Niemeyer sah darin die Aufgabe des "Deutschlandkongresses". "Ich hätte mir eine bessere DDR gewünscht", sagt er. Es lief anders, Kohl handelte schnell. Richtigerweise, räumt Niemeyer ein. Es habe ein historisches Fenster der Einheit gegeben, das hätte sich sonst wieder geschlossen. Und so ein Fenster sieht Niemeyer jetzt wieder, und sich in der historischen Mission. "Deshalb bin ich nach Russland gereist."
"Ich könnte in der 'heute-show' landen"
Im Netz machten sich die Leute derweil lustig über ihn. So verbreiteten sich Kommentare, dies sei die endgültige Bestätigung dafür, dass die russische Regierung vollends sinnfrei verhandle, wie eine "Operettenregierung" agiere, fernab der Realität. Mancher Nutzer fragt, wann Russland Verhandlungen mit der Weinkönigin Elke 1 aufnimmt.
Niemeyer räumt gegenüber t-online ein, er könnte natürlich in der "heute-show" landen. Das ist nicht ganz unwahrscheinlich. Und mit ihm auch die russische Regierung, die ihn anscheinend ernst genommen und empfangen hat. "Denen ist das inzwischen egal. Dort ist man der Ansicht, mit der Bundesregierung können sie ohnehin nicht sprechen, und so suchen sie andere Kanäle." Lawrow war nach Niemeyers Eindruck "sehr angetan, dass er wieder einen Gesprächspartner in Deutschland hat". Da wusste er ja noch nicht, dass Scholz und Putin am Dienstag telefonieren würden (lesen Sie mehr darüber hier).
Am Dienstagabend hat er wieder ein Video geschickt, diesmal besser belichtet und vom Rückflug aus Moskau. Er habe Ergebnisse mitgebracht. Die verrät er noch nicht: "Fairerweise" solle Bundeskanzler Olaf Scholz sie als Erster erfahren. Vielleicht ja bei einem runden Tisch mit der "Exilregierung"? So etwas sei vielleicht die letzte Chance für eine friedliche Lösung. Niemeyer hat sich aber auch mit einem anderen Ausgang beschäftigt: Er habe Signale bekommen, dass er verhaftet werden könnte. Das Spiel wäre vorbei für den "Exil-Kanzler".
- Eigene Recherchen
- Telefonat mit Ralph Niemeyer