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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Belagerung in Darfur Es droht ein Massaker
Im Schatten der Kriege in der Ukraine und in Gaza tobt im Sudan ein blutiger Bürgerkrieg. Es droht ein Völkermord und die Konsequenzen dieser Katastrophe könnten auch Europa treffen.
Momentan fegt ein Krisensturm um die Welt. Erst die Corona-Pandemie, dann der Beginn des russischen Angriffskrieges im Februar 2022 und im Oktober 2023 der Terrorangriff der Hamas auf Israel und die israelische Offensive im Gazastreifen. Neben diesen Kriegen finden im Westen andere große Konflikte in der Welt kaum Beachtung, sie stehen oft im Schatten dieser Herausforderungen. So auch der blutige Bürgerkrieg im Sudan.
Seit April 2023 kämpft in dem afrikanischen Land der Machthaber Abdel Fattah al-Burhan mit der nationalen Armee gegen seinen früheren Stellvertreter Mohamed Hamdan Daglo und die paramilitärischen Rapid Support Forces (RSF). Beide Seiten werden von zahlreichen Milizen unterstützt.
Es herrscht das blanke Chaos und ist nicht mit dem Krieg in der Ukraine zu vergleichen, wo sich zwei Armeen an langen Frontlinien bekämpfen. Im Sudan wird überall gekämpft und die Milizen nehmen keinerlei Rücksicht auf das Schicksal von Zivilisten.
Deswegen ist das Ausmaß des Konfliktes im Sudan nur schwer in Zahlen zu fassen. Die Schätzungen der Todesopfer reichen von mehreren Zehntausend bis 150.000. Fast zwölf Millionen Menschen sind laut UN-Angaben auf der Flucht – das ist ein Viertel der Bevölkerung. Beide Seiten begehen in dem Krieg schwerste Menschenrechtsverletzungen und das alles ist nur möglich, weil die Welt wegschaut.
Doch wie lange kann sie das noch? Die Gräueltaten im Sudan werden immer größer. Nun droht die Belagerung der Stadt Al-Faschir zu einem Massaker zu werden. Zivilisten werden zur Zielscheibe. Und Deutschland schaut weg, obwohl die Krise neue Fluchtbewegungen nach Europa auslösen könnte.
Angst vor einem Völkermord
Die Hauptstadt Khartum wurde seit Ausbruch des Bürgerkriegs in großen Teilen zerstört, derzeit finden vor allem in der Provinz Nord-Darfur heftige Kämpfe statt. Al-Faschir ist die Hauptstadt des Bundesstaats im Westen des Sudans und die letzte große Stadt der Region, die nicht unter der Kontrolle der RSF steht. Experten warnen angesichts der aktuellen Belagerung, dass sich dort Verbrechen wie einst in Srebrenica wiederholen könnten: Serbische Paramilitärs hatten im Bosnienkrieg im Juli 1995 8.000 Bosniaken getötet.
Schon Anfang der 2000er-Jahre erlebte Darfur eine humanitäre Katastrophe, als die arabische Miliz Dschandschawid dort ethnische Afrikaner überfiel. Die Vereinten Nationen schätzen, dass bei dem Genozid 300.000 Menschen getötet wurden. Nun belagert die paramilitärische RSF – Nachfolger der Dschandschawid – Al-Faschir und ist offenbar kurz davor, die Stadt einzunehmen. Die Sorge bei internationalen Beobachtern ist dementsprechend groß.
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Die "New York Times" warnte in einer Analyse vor einem "ethnischen Blutbad" und zitierte Alice Nderitu, die Sonderberaterin des UN-Generalsekretärs für die Verhinderung von Völkermord: "Die heutige Situation weist alle Anzeichen der Gefahr eines Genozids auf." Nderitu hatte schon vor mehreren Wochen vor einem "Ruanda-ähnlichen Genozid" gewarnt. "Ich versuche, mir Gehör zu verschaffen", sagte sie. "Aber alle Aufmerksamkeit richtet sich auf die Ukraine und Gaza."
Die Angst ist berechtigt. Die Vereinten Nationen befürchten, dass die arabischstämmigen RSF-Kämpfer in der Stadt vorgehen, wie bei vorherigen Belagerungen in dem Bürgerkrieg: Sie töten, berauben, vergewaltigen und vertreiben Angehörige schwarzafrikanischer Ethnien.
Al-Faschir galt viele Monate als Schutzzone, weil die lokalen Machthaber mit den Kriegsparteien Waffenruhen ausgehandelt hatten. Daraufhin wurde die Stadt zum Rückzugsort für Hunderttausende Schutzsuchende. Doch nun wurde die Stadt komplett von der RSF abgeriegelt, sie bietet keinen Schutz mehr, sondern die Stadt ist zur Falle geworden.
"Wir fühlen uns sehr allein"
Der Schrecken ist auf den Straßen von Al-Faschir allgegenwärtig. Tanzil, eine Einwohnerin der Stadt, die im Gesundheitswesen arbeitet, sagte der Deutschen Presse-Agentur: "Wir fühlen uns sehr allein." Sämtliche Krankenhäuser der Stadt seien nicht mehr funktionsfähig, viele Menschen, die bei den Luftangriffen oder Kämpfen verletzt würden, hätten keine Überlebenschance. "Nach zwei oder drei Tagen sind sie tot, weil es keine Behandlung gibt." Manche Stadtviertel seien unerreichbar, Fluchtwege abgeschnitten.
Das ist ein weiteres Problem. Wer es aus der belagerten Stadt heraus schafft und nach Ost-Darfur fliehen will, steht nach Angaben der Hilfsorganisation Care vor erheblichen Herausforderungen: Auf dem mehr als 300 Kilometer langen Weg seien die Menschen aktuell Temperaturen von über 50 Grad Celsius ausgesetzt, ohne genügend Nahrung oder sauberes Trinkwasser. Zudem beeinträchtige die Gewalt in Al-Faschir die Lieferung wichtiger Hilfsgüter.
Der Chefankläger des Internationalen Strafgerichtshofes, Karim Khan, hat bereits deutliche Hinweise auf Gräueltaten in der Region Darfur im Krisenstaat Sudan gesammelt. In einem dringenden Aufruf forderte Khan in Den Haag internationale Organisationen, Partner und nationale Behörden dazu auf, Beweise und Informationen zu sammeln und ihm zu übergeben. Täglich erreichten seine Ermittler Informationen aus Darfur, die auf "einen organisierten, systematischen und schweren Angriff auf die Menschenwürde" hindeuteten.
Khan nannte ständige Angriffe auf die Zivilbevölkerung und vor allem auf Flüchtlingslager, massive und weitverbreitete Vergewaltigungen und andere Arten sexueller Gewalt, Bombenangriffe auf Wohngebiete, Plünderungen und Angriffe auf Krankenhäuser. Die Krise verschlimmere sich, das Leiden nehme zu, sagte der Chefankläger. "Und wir können nicht sagen, dass es keine Warnung gab." UN-Experten würden bereits von einem erneuten Völkermord sprechen.
Es droht neue Fluchtwelle nach Europa
Im Angesicht dieser katastrophalen Lage scheinen selbst der Westen, China und Russland im UN-Sicherheitsrat eine gemeinsame Sichtweise entwickelt zu haben. So forderte das Gremium am Donnerstag ein Ende der Belagerung von Al-Faschir und der Gewalt in dem nordostafrikanischen Krisenstaat. 14 Mitgliedsländer stimmten in New York für die von Großbritannien eingebrachte Resolution, Russland enthielt sich. Sowohl die paramilitärische Gruppe RSF als auch die sudanesische Armee müssten die Kämpfe sofort einstellen, heißt es in dem völkerrechtlich verbindlichen Beschluss.
Doch es ist unwahrscheinlich, dass dieser UN-Beschluss etwas an der Lage verändern wird. Der Westen hat in vielen Teilen Afrikas Vertrauen verloren.
Noch im Jahr 2019 erlebte der Sudan eine friedliche Revolution, bei der Langzeitdiktator Hasan al-Baschir gestürzt wurde. Danach fehlte es der mittlerweile entmachteten Übergangsregierung auch an internationaler Unterstützung. Der damalige US-Präsident Donald Trump interessierte sich nicht für den Sudan und die EU-Staaten nahmen die Region lediglich in den Fokus, um die Migration nach Europa zu begrenzen. Die Folge: Milizen und Teile der vorigen Machtelite putschten gegen die Übergangsregierung. Das alles sind Kräfte, die keine demokratischen Strukturen im Sudan wollen.
Der Westen hat es im Sudan versäumt, seine eigenen demokratischen Werte zu verteidigen. Die Folgen wiegen schwer. Denn die gegenwärtige Situation könnte nun auch wieder eine neue Fluchtbewegung nach Europa auslösen. Zwischen dem Sudan und dem Mittelmeer liegen Ägypten oder Libyen. In Ägypten werden Geflüchtete teilweise wieder in den Sudan zurückgeführt, was lebensgefährlich für die Menschen ist. In Libyen dagegen wird das Grenzgebiet zum Sudan von General Chalifa Haftar kontrolliert, der wiederum mit Putin verbündet ist.
Es liegt also auch im Sicherheitsinteresse der EU, seine Anstrengungen auszubauen, das Sterben im Sudan zu beenden. Denn neue Fluchtbewegungen könnten EU-Staaten weiter destabilisieren. Hinzu kommt, dass der Sudan am Roten Meer liegt – und damit an einer der wichtigsten Seehandelswege der Wellt.
NGO: Humanitäre Reaktion "völlig unzureichend"
Bislang beschränkt sich der Westen allerdings auf Warnungen und auf das Sammeln von Hilfsgeldern. Deutschland stellte dem Sudan im April 244 Millionen Euro für die humanitäre Hilfe zur Verfügung.
Außenministerin Annalena Baerbock (Grüne) erklärte auf einer internationalen Geberkonferenz für das ostafrikanische Land: "Gemeinsam kann es uns gelingen, eine furchtbare Hungerkatastrophe zu verhindern, aber nur, wenn wir jetzt gemeinsam aktiv werden." Hilfsgelder sind wichtig, laut UN-Angaben braucht das Land insgesamt mehr als 2,4 Milliarden US-Dollar, um die humanitäre Krise abzuschwächen. Doch diese Gelder kommen momentan nur schwer in den Flüchtlingslagern an.
Die Hilfen reichen ohnehin noch lange nicht aus. Christos Christou, Präsident von Ärzte ohne Grenzen (MSF), erklärte am Donnerstag im Onlinedienst X: "Der Sudan ist eine der schwersten Krisen, welche die Welt seit Jahrzehnten gesehen hat." Doch die humanitäre Reaktion darauf sei "völlig unzureichend".
Auch politische Initiativen und Druck auf die beiden Kriegsparteien gibt es bisher kaum. Eine Möglichkeit wäre sicherlich, die mutmaßlichen Verantwortlichen für die Verbrechen im Sudan strafrechtlich durch den Internationalen Strafgerichtshof verfolgen zu lassen. Dafür spricht sich auch Chefankläger Khan aus: "Es ist empörend, dass wir zulassen, dass sich die Geschichte in Darfur wiederholt. Wir können, und wir dürfen nicht zulassen, dass Darfur erneut zum vergessenen Gräuel der Welt wird."
- nytimes.com: Why Darfur Again Faces the Risk of Ethnic Slaughter (englisch)
- spiegel.de: "Somalia auf Steroiden"
- nytimes.com: A Massacre Threatens Darfur — Again (englisch)
- zeit.de: Und niemand greift ein
- tagesschau.de: "Zivilisten als Zielscheibe"
- Mit Material der Nachrichtenagenturen dpa und Reuters