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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Mediziner erklärt alarmierende Zahlen Darum sind Ostdeutsche wesentlich öfter krank
Zahlen zeigen: Chronische Krankheiten sind in Ostdeutschland wesentlich häufiger als im Westen. Woran liegt das? t-online hat einen Experten gefragt.
In Ostdeutschland sind fünf von sechs der wichtigsten chronischen Krankheiten häufiger verbreitet als in den westlichen Bundesländern – das zeigen Daten der Kassenärztlichen Vereinigung. Die Zahlen stammen von 2021, aber da es sich um chronische Krankheiten handelt, sind die Werte weiterhin aussagekräftig.
Diabetes und nahezu alle koronaren Krankheiten (wie Bluthochdruck und Herz-Kreislauferkrankungen) kommen in Ostdeutschland häufiger als in Westdeutschland vor, gemessen an der Prävalenz, also der Häufigkeit ärztlich dokumentierter Diagnosen. Warum ist das so? Ist Deutschland in puncto Gesundheit immer noch ein geteiltes Land? t-online fragte den Sozialmediziner und Epidemiologen Enno Swart.
t-online: Herr Swart, warum sehen wir so viele chronisch Kranke im Osten und umgekehrt im Westen nicht so viele?
Enno Swart: Das ist nicht nur auf eine einzelne Ursache zurückzuführen, sondern beruht auf mehreren Faktoren. Dies ist bei der Interpretation der Karten zu berücksichtigen.
Der erste Einwand: Die Karten verzerren etwas, oder?
Ja, dass hier lediglich nach Bundesländern unterteilt wird, stellt zunächst eine Vergröberung der Karte dar, die vorhandene Unterschiede in kleinerem Maßstab überdeckt. Ein wichtiger Faktor bei chronischen Krankheiten ist die Verteilung von sozial Schwachen, also die sozioökonomische Komponente. Würden Sie die Karte nach Landkreisen aufteilen, würden Sie auch deutliche Unterschiede zwischen Kreisen in Westdeutschland sehen, ebenso wie es im Osten Regionen mit unterdurchschnittlicher Häufigkeit gibt.
Übersetzt gesprochen: Es geht also um die Verteilung von Arm und Reich?
Ja, und im Osten finden Sie einfach größere Regionen, in den eher sozial benachteiligte Menschen leben, und weniger wohlhabendere Städte, die das statistisch ausgleichen. In Nordrhein-Westfalen (NRW) zum Beispiel gibt es ebenfalls eher ärmere Regionen, zum Beispiel in Teilen des Ruhrgebiets, in denen die Prävalenz der chronisch Kranken höher ist. Aber NRW hat dann eben auch wirtschaftlich starke Städte, die das in der Gesamtschau auf das Bundesland ausgleichen.
Armut begünstigt also die Entstehung chronischer Krankheiten. Wie äußert sich eine solche wirtschaftliche Benachteiligung?
Da spielt wirklich viel rein. Das sind zum Beispiel Menschen, die sehr kleinen Lebensraum für sich und ihre Familien haben oder an lauten Straßen wohnen. Alleinerziehenden fehlt es oft an Geld – und damit der Zugang zu gesunden Lebensmitteln.
Mangelt es an Bildung, die ja in Deutschland mehr als in vielen anderen Ländern noch von der sozioökonomischen Situation im Elternhaus abhängig ist, oder konkreter an Gesundheitskompetenz, begünstigt dies ein ungesundes Gesundheitsverhalten, das mit Alkohol, Rauchen, mangelnder Bewegung usw. einhergeht.
In der Corona-Pandemie hat sich auch gezeigt, dass ein schlechterer Gesundheitszustand unter anderem ein Problem in den ärmeren migrantischen Milieus ist.
Das ist im Osten nicht der primäre Grund für die überdurchschnittliche Prävalenz, denn hier ist die Migrantenquote deutlich niedriger als im Bundesdurchschnitt. Hier spielt eher auch eine starke psychologische Komponente eine Rolle: das Gefühl, abgehängt zu sein.
Ist denn der Osten abgehängt?
In erheblichen Teilen der ostdeutschen Bevölkerung meines Erachtens schon. Sozial-epidemiologisch ist bekannt, dass neben dem messbaren sozioökonomischen Status auch die relative Spreizung von Chancen und Benachteiligung ein Faktor für die Krankheitshäufigkeit ist. Es geht also darum: Wie nimmt man sich im Vergleich mit anderen Gruppen der Gesellschaft wahr? Und da ist es sicher so, dass im Osten bei vielen Menschen das Gefühl der Benachteiligung existiert.
Enno Swart ist stellvertretender Institutsleiter am Institut für Sozialmedizin und Gesundheitssystemforschung (ISMG) der
Otto-von-Guericke-Universität Magdeburg. Er beschäftigt sich unter anderem mit Epidemiologie, Versorgungsforschung und der Evaluation neuer Versorgungskonzepte. Geboren wurde er in Emden.
Aber man würde denken, in Deutschland haben alle den gleichen Zugang zu Gesundheitseinrichtungen?
Das ist grundsätzlich richtig, stellt sich aber in der Praxis vor allem als Problem von Stadt und Land dar. In der Provinz gibt es vielerorts kaum noch Landärzte beziehungsweise diese gehen vielfach in den nächsten Jahren in Rente. Und im Osten gibt es deutlich mehr ländliche Regionen und weniger Großstädte. Dieses Problem wird aber die westlichen ländlichen Regionen in naher Zukunft auch treffen.
Obwohl dort eigentlich die ältere Bevölkerung lebt, die diese Ärzte dringend bräuchte …
Ja, das spielt auch in die Verteilung der chronisch Kranken hinein. Die Karten sind vielfach nicht altersstandardisiert, das heißt, unterschiedliche Altersstrukturen in den Ländern sind nicht berücksichtigt.
Im Osten ist die Bevölkerung auch vielfach überaltert. Das hat auch mit der Abwanderung in den Westen in den ersten Jahren nach der Wiedervereinigung 1990 zu tun. Damals sind 20 Prozent der Jungen weggegangen, jetzt sehen wir allerdings auch gegenläufige Tendenzen. Aber die dadurch entstandene Überalterung sieht man auch in den Zahlen der chronisch Kranken, die im Osten eben höher ist.
Sie sprachen schon davon, dass die psychologische Komponente eine wichtige Rolle spielt. Oft wird auch geäußert, dass die Lebensleistung der Ostdeutschen im Westen nicht anerkannt wurde.
Auch das spielt sicher in die Problematik mit rein, ohne dass es dafür starke Evidenz bezüglich der Krankheitshäufigkeit gibt. Aber es knüpft an die oben erwähnte Problematik relativer Benachteiligung an.
Gibt es denn auch so etwas wie ein gesundheitliches Erbe der DDR?
Ja, die bekannt hohe Umweltbelastung kann natürlich auch Langzeitfolgen haben, zum Bespiel bei Herz-Kreislauf- und Atemwegserkrankungen. Luftverschmutzung zum Beispiel kann auch erst Jahre später schwere gesundheitliche Folgen haben.
Was kann man denn nun tun, um die Defizite im Osten aufzuholen?
Das lässt sich nicht von heute auf morgen lösen, wir sprechen hier von chronischen Krankheiten, die sich ja auch schon über einen längeren Zeitraum entwickelt haben. Die kann man jetzt nicht wegzaubern. Aber man müsste sich dringend darum kümmern, dass die ärztliche Versorgung im Osten besser wird, vor allem eben auf dem Land.
Die Erreichbarkeit von Gesundheitseinrichtungen ist jetzt schon ein Problem?
Ja, Landärztestellen sind für viele Ärzte und Ärztinnen nicht attraktiv, nicht allein aus finanziellen Gründen. Wir müssen aber auch über neue Versorgungsmöglichkeiten nachdenken. Warum kann man nicht einen Bus einrichten, der vielleicht zweimal die Woche die Dörfer versorgt? Man muss nicht zwingend warten, bis Patienten und Patientinnen von sich aus die Praxis aufsuchen.
Nach Lauterbachs Krankenhausreform könnte sich das Krankenhaussterben noch zusätzlich verschärfen …
Geld ist meines Erachtens genug im Gesundheitssystem vorhanden, es geht um die Verteilung der Gelder. Und die Versorgung auf dem Land sollte man nicht allein an der Krankenhausreform festmachen. Es geht um ein abgestimmtes System ambulanter, stationärer und notärztlicher Versorgung
Gibt es denn Hoffnung?
Ja, auf jeden Fall. Wir sehen jetzt ja auch, wie sich Industrie in Ostdeutschland ansiedelt, damit werden die ostdeutschen Bundesländer attraktiver. Und die Digitalisierung bietet sicher auch große Chancen, nicht nur im Bereich der Telemedizin. Die Möglichkeiten, von zu Hause zu arbeiten, könnten dazu führen, dass sich wieder mehr Menschen für das Landleben entscheiden. Damit würden diese Regionen aufgewertet, wenn gleichzeitig in deren Infrastruktur investiert wird, zum Beispiel bezüglich Bildungsangeboten und Verkehr.
Herr Swart, wir danken Ihnen für das Gespräch!
- Die Informationen ersetzen keine ärztliche Beratung und dürfen daher nicht zur Selbsttherapie verwendet werden.
- Versorgungatlas der Kassenärztlichen Vereinigung 2021
- Interview mit Enno Swart