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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Krieg in der Ukraine "Dann würde Putin sofort angreifen"
Die russische Armee greift erneut verstärkt an und rückt im Osten der Ukraine langsam, aber stetig vor. Schafft es Wladimir Putin doch noch, den Krieg militärisch zu gewinnen? Der Militärexperte Gustav Gressel gibt eine düstere Prognose.
Für die ukrainische Armee wird die Lage im Krieg gegen Russland immer dramatischer. Im Osten und im Süden der Ukraine machen Wladimir Putins Truppen auf breiter Front Geländegewinne. Zwar gelang es der russischen Armee in den vergangenen Monaten nicht, größere ukrainische Städte einzunehmen. Aber die strategisch wichtige Stadt Pokrowsk droht langsam umzingelt zu werden. Auch allgemein scheinen die ukrainischen Verteidiger immer größere Schwierigkeiten zu haben, ihren Widerstand aufrechterhalten zu können.
Während in Ländern wie Deutschland über mögliche Verhandlungen mit Russland diskutiert wird, schafft Putin auf dem Schlachtfeld Tatsachen und treibt seine Kriegspläne weiter voran. Militärexperten wie Gustav Gressel schlagen Alarm: Wenn der Westen seine Unterstützung für die Ukraine nicht ausbaut, wird Putin gar nicht an den Verhandlungstisch kommen. Dafür könnte die ukrainische Armee den Krieg verlieren.
t-online: Herr Gressel, am Mittwoch hat Kanzler Olaf Scholz in seiner Regierungserklärung im Bundestag erneut Deutschlands große Unterstützung für die Ukraine gelobt und sich als Garant für Vernunft inszeniert. Wird das der gegenwärtigen Lage der Ukraine gerecht?
Gustav Gressel: Nein, absolut nicht. Auch Scholz macht leider einen Wahlkampf auf dem Rücken der Ukraine. Was mich aber am meisten stört ist, dass Scholz bewusst die Unwahrheit erzählt – also lügt.
Welche Lügen meinen Sie?
Die Debatte um die Lieferung von Taurus-Marschflugkörpern ist ein gutes Beispiel dafür. Der Kanzler gibt sich als besonnen, weil er eine Eskalation fürchtet, und er behauptet, deutsche Soldaten müssten Taurus programmieren und Deutschland würde so zur Kriegspartei. Oder dass es deshalb ein Bundestagsmandat für den Einsatz von Taurus bräuchte. All das ist totaler Quatsch. Hinzu kommt, dass Scholz davon spricht, dass die Briten und Franzosen die Einsätze ukrainischer Marschflugkörper programmieren. Natürlich lassen sich auch rationale Gründe heranziehen, Taurus nicht zu liefern: Kosten, Ausbildungszeit etc. Aber Scholz spricht hier die Unwahrheit und schürt damit Ängste in der Bevölkerung – das ist AfD-Niveau.
Seit über einem Jahr streitet Deutschland um eine mögliche Lieferung von Taurus. Schadet es der Ukraine-Unterstützung, wenn die ganze Zeit ein Marschflugkörper diskutiert wird, der nicht kriegsentscheidend sein wird?
Das ist sicherlich kein Glanzstück, und da ist Deutschland einzigartig. Die Bundesrepublik hat vor allem Stärken im militärischen Fahrzeugbau. Marschflugkörper können auch in Frankreich und Großbritannien gebaut werden. Deutschland könnte sich beim Bau von Panzern und gepanzertem Gerät noch mehr einbringen, nicht nur altes Gerät renovieren. Taurus ist im Vergleich zu den Quantitäten, die die ukrainische Armee an Fahrzeugen benötigt, deutlich unwichtiger.
Zur Person
Gustav Gressel ist Hauptlehroffizier und Forscher am Institut für Strategie und Sicherheitspolitik der Landesverteidigungsakademie in Wien. Zuvor war er als Senior Policy Fellow bei der politischen Denkfabrik European Council on Foreign Relations (ECFR) tätig. Er beschäftigt sich in seiner Forschung schwerpunktmäßig mit den militärischen Strukturen in Osteuropa und insbesondere mit den russischen Streitkräften.
Gleichzeitig betont die Bundesregierung auch immer wieder, dass Deutschland der größte Unterstützer in Europa der Ukraine sei.
Genau. Dabei hat Deutschland wirtschaftlich auch die größten Möglichkeiten. Diese Rechnung ist deswegen unsinnig. Bei einer solchen Bewertung muss es immer um die Relation zur wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit gehen, um die Unterstützung pro Kopf. Daran gemessen liegt Deutschland bei der Unterstützung für die Ukraine lediglich im europäischen Mittelfeld.
Außerdem stellt sich die Frage, warum die Bundesregierung das immer wieder thematisieren muss. Die US-Regierung macht das auch nicht, und die Gesamtausgaben der Amerikaner sind noch weitaus höher.
Das kommt hinzu. In Deutschland wird nicht die Diskussion geführt, welche Kriegsziele die Bundesregierung erreichen möchte und was im Zweifel dafür notwendig ist, um diese Ziele zu erreichen. Diese Debatte scheut Scholz wie der Teufel das Weihwasser. Dieses Problem haben die Amerikaner allerdings auch.
Aber Putin ist für Europa und Deutschland ein größeres Sicherheitsrisiko als für die USA.
Richtig, aber während vor allem Scholz und die SPD zögerlich agieren, ist ein Großteil der deutschen Bevölkerung schon weiter. Die alte Russlandromantik ist in Deutschland größtenteils verflogen.
Der Kreml führt immerhin auch einen hybriden Krieg gegen Deutschland. Warum rückt die Ostsee immer mehr ins Zentrum des Konfliktes mit Russland?
Putin möchte Deutschland bestrafen und sucht nach Möglichkeiten, mit denen er nicht gleich den Artikel 5 der Nato auslöst.
Und die Ostsee ist besonders verwundbar?
Infrastruktur wie Datenkabel liegt ungeschützt auf dem Meeresgrund, und es gibt auf See oft niemanden, der schnell Alarm schlagen könnte. Außerdem lassen sich die Hergänge von Sabotageakten unter Wasser viel schwerer aufklären und beweisen als russische Angriffe an Land.
Die Nato hat nun angekündigt, Drohnen zum Schutz dieser Infrastruktur unter Wasser einsetzen zu wollen. Wie genau ist das vorstellbar?
Drohnen können das Gebiet auf See und unter Wasser aufklären und in einem Gebiet länger verweilen. Somit können sie zumindest Alarm schlagen, wenn sich eine Gefährdung anbahnt. Es gibt noch viele ungeklärte Fragen: Wie reagieren die Drohnen auf Gefahren? Setzt man dann Waffengewalt ein, um diese abzuwehren? Oder wie gehen sie mit behördlichen Schiffen um? Das ist noch nicht geklärt, aber die Nato möchte beim Einsatz von Drohnen in der Nähe von Infrastrukturen nun reaktionsschnell werden. Damit werden sich dann mögliche Angriffe in Zukunft hoffentlich besser rekonstruieren lassen.
Beim Nato-Treffen der Außenministerinnen und Außenminister hat die deutsche Außenministerin Annalena Baerbock deutsche Friedenstruppen in der Ukraine ins Gespräch gebracht. Ist es nicht zu früh für diese Debatte?
Die Ukraine braucht in Zukunft mit Blick auf einen möglichen Friedensschluss Sicherheitsgarantien, sonst greift Russland nach einer Atempause erneut an. Baerbock ging es aber auch sicherlich um ein Signal an Trump, dass auch Deutschland und Europa bereit seien, Verantwortung zu übernehmen. Wenn sie sich einfach verstecken, stillhalten und schauen, was die Amerikaner machen, tut Trump, was er will. Internationale Truppen nach dem Vorbild der Nato-Präsenz im Baltikum wären schon sinnvoll. Aber die Ukraine braucht zunächst eine Waffenstillstandsperspektive, und die gibt es angesichts der militärischen Lage aktuell nicht.
Wie sieht es denn aktuell militärisch für die ukrainische Armee in dem Krieg aus?
Die russische Armee kommt langsam, aber stetig an vielen Frontabschnitten im Südosten voran. Sie gewinnt oft in vielen Gebieten täglich nur 500 Meter an Raum, aber sie rückt auf breiter Front vor und fast überall macht sie kleine Gewinne – etwa im Raum Pokrowsk, bei Romanivka im Südosten oder bei Robotyne im Süden.
Aber trotz der langsamen russischen Geländegewinne ist die Lage für die Ukraine heikel?
Der Druck auf die ukrainischen Truppen ist so groß, dass Auflösungserscheinungen nicht auszuschließen sind. Es ist vergleichbar mit einem Stock, der irgendwann bricht, wenn man ihn immer weiter biegt. Wenn der Zusammenhalt in der Ukraine einbricht, wird die Lage nur noch schwer zu retten sein. Das ist zwar noch nicht der Fall, aber es könnte jeden Moment passieren. Auf der anderen Seite ist die Angriffstätigkeit der Russen aktuell extrem hoch. Die Russen setzen vor Trumps Amtsantritt sehr viel ein, und das führt auch auf ukrainischer Seite zu Verlusten. Es geht also momentan darum, wie lange die Ukraine überhaupt noch durchhält.
Was fehlt der Ukraine denn aktuell am meisten? Soldaten oder Waffen?
Das hängt beides miteinander zusammen. Sie hat einen Mangel an Waffen und Munition, und das führt wiederum zu Problemen bei der Rekrutierung und Bewaffnung von Soldaten. Der Munitionsmangel ist momentan nicht mehr so schlimm wie im Frühjahr, aber er ist noch immer da. Es werden der Front zwar neue Verbände zugeführt und es kommt zu Ablösungen, aber die Qualität der neuen Rekruten und der Ausbildung nimmt stetig ab. Trotz Senkung des Mobilmachungsalters werden hauptsächlich 50-Jährige eingezogen. Die Ukraine ist keine junge Gesellschaft.
Die Amerikaner haben gefordert, dass Kiew nun auch junge Männer ab 18 Jahren mobilisiert. Was steckt hinter dieser Forderung?
Das haben sie gefordert. Es läuft schon jetzt das Schuldspiel für den Fall einer Niederlage. Die Amerikaner liefern nicht genug Material und beschuldigen die Ukraine, sie würde nicht gut mobilisieren. Das ist schon unanständig.
Bislang ist es den russischen Angreifern aber auch noch nicht gelungen, größere Städte einzunehmen.
Nein. Östlich von Pokrowsk ist den Russen im November ein größerer Durchbruch gelungen, und dort rollen sie jetzt das Hinterland auf. Wie gesagt: Die russischen Fortschritte sind eher langsam, aber das ist noch nicht das Ende der Fahnenstange.
Das hört sich alles sehr schlecht für die Ukraine an. Sehen Sie die Gefahr, dass Kiew diesen Krieg komplett verlieren könnte?
Eine Niederlage ist möglich, leider. Ich schätze aber, dass diese russische Offensive irgendwann wieder ein wenig abebben wird – aufgrund der hohen russischen Verluste. Wenn sich die Amerikaner nach der Amtseinführung von Donald Trump aus der Ukraine-Unterstützung zurückziehen würden, dann würde Putin sofort angreifen. Dann könnte die Ukraine verlieren, weil die Europäer den Ausfall der USA nicht kompensieren können – vor allem nicht in der kurzen Zeit.
Die Bundesregierung möchte die Ukraine in eine starke Position am Verhandlungstisch bringen. Ist das mit Blick auf die Lage nicht utopisch?
Diesen Zeitpunkt hat auch Deutschland verpasst, das hätte man längst tun müssen. Nun ist die Ukraine nicht in einer starken Position, sondern sie kann die Front nicht halten. Es bräuchte also weit mehr westliche Unterstützung, aber die kommt nicht.
Warum sollte Putin dann überhaupt verhandeln wollen?
Das will er nicht. Zuletzt wurde vom Kreml immer wieder kommuniziert, dass Verhandlungen aktuell nicht infrage kommen. Momentan sieht Russland keinen Grund dafür, Ziele am Verhandlungstisch zu erreichen, wenn man doch militärisch immer weitere Fortschritte erzielt. Nur weil man im Westen jetzt keine Lust mehr auf Krieg hat, heißt das nicht, dass Russland von seinen Zielen abrückt. Das ist eine völlige Illusion, ein völliges Hirngespinst, auch in Deutschland.
Putin hat seine Militärausgaben für 2025 noch einmal massiv erhöht. Ist das nicht ein Zeichen, dass er sich auf einen noch längeren Konflikt vorbereitet?
Putin hat einen Plan, auch wenn es kein Guter ist. Er arbeitet konsequent über mehrere Jahre daran.
Aber auch die russischen Ressourcen sind endlich.
Im Prinzip kämpft die russische Armee mit den gleichen Personal- und Materialsorgen wie die Ukraine. Nur sind eben die Probleme für Russland etwas weniger schlimm. Ein Beispiel: Das Durchschnittsalter der russischen Kräfte im Ukraine-Krieg ist 38 Jahre, das der Ukrainer liegt bei 44 Jahren. Das zeigt, dass die ukrainische Armee unter größeren Personalsorgen leidet als Russland. Aber auch Russland hat zu wenig Panzer, Transportpanzer und auch ihre Artillerie ist größtenteils ausgeschossen. Auch Putins Armee geht auf dem Zahnfleisch, aber es geht ihr graduell besser als den Ukrainern. Und solange es so läuft, gewinnt der Kremlchef.
Könnte die wirtschaftliche Lage Russland an den Verhandlungstisch zwingen?
Ja, aber wann? Die wirtschaftliche Lage für Russland ist schwierig. Die Inflation ist hoch, die Lebensmittelpreise steigen. Aber Putin wird das erst berühren, wenn die Unzufriedenheit in Protest umschlägt. Und das ist momentan eben nicht der Fall.
Denken Sie, dass eine gesellschaftliche Bewegung in Russland dem Präsidenten gefährlich werden könnte?
Nein, da scheint Putin aktuell sicher, und er glaubt, alles im Griff zu haben. Schwieriger könnte es für den Kreml werden, wenn die Inflation die Gewinne der Kriegsveteranen aufzehrt, sodass diese sich gegen ihn wenden. Eine Revolte aus den Streitkräften heraus scheint aktuell die Gefahr für die russische Führung zu sein, die bedrohlich sein könnte. Aber es ist schwierig, Prognosen abzugeben. Weil wir aus Europa nur schwer in diese Bereiche hineinschauen können. Wenn hier größerer Unmut sichtbar werden würde, wäre das ein Zeichen, dass es für Putin bergab geht.
Vielen Dank für das Gespräch, Herr Gressel.
- Gespräch mit Gustav Gressel