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Ukraine-Krieg | Selenskyj baut Regierung radikal um – es kracht gewaltig


Polit-Beben in der Ukraine
Es kracht gewaltig


04.09.2024Lesedauer: 5 Min.
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Der beliebte ukrainische Außenminister Kuleba will zurücktreten (Quelle: Glomex)

Mitten in einer schwierigen Kriegsphase für die ukrainische Armee baut Wolodymyr Selenskyj seine Regierung um. Bekannte Minister reichen ihren Rücktritt ein, und das ist für die Ukraine durchaus ein Risiko.

Es ist ein Moment, über den in diplomatischen Kreisen bis heute gesprochen wird, obwohl er sich hinter verschlossenen Türen abgespielt haben soll. Anfang April war der ukrainische Außenminister Dmytro Kuleba zu Gast beim Nato-Treffen in Brüssel. Die Lage für sein Land war dramatisch, es fehlte an Waffen und Munition, weil das US-Hilfspaket von den Republikanern im Kongress blockiert wurde. Kuleba soll den Tränen nahe gewesen sein, als er an die Nato-Außenministerinnen und -Außenminister appellierte, endlich mehr Flugabwehrsysteme zu liefern.

Wenige Tage später kündigte Deutschland an, ein weiteres "Patriot"-System in die Ukraine zu schicken. Im Juni zogen die USA mit weiteren Systemen nach. Die Ukraine hat immer noch zu wenig Flugabwehr, aber immerhin. Jedes zusätzliche Flugabwehrsystem ist auch ein kleiner Erfolg für Kuleba, der sich im Zuge der anhaltenden russischen Bombardements gegen ukrainische Städte stets für eine Stärkung der Verteidigung einsetzte.

Doch nun ist damit vorerst Schluss. Im Rahmen einer großen Regierungsumbildung in der Ukraine nach zweieinhalb Jahren Krieg muss der Außenminister gehen – und er ist nicht allein: Am Dienstagabend hatte der Fraktionschef der ukrainischen Regierungspartei "Diener des Volkes", David Arachamia, mitgeteilt, dass mindestens sechs Regierungsvertreter ihren Rücktritt eingereicht hätten.

Es ist ein politisches Beben in Kiew, mit dem der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj einen Neustart einläuten möchte. Doch das ist in einer Phase, in der die Ukraine im Krieg gegen Russland unter Druck steht, mit massiven Risiken verbunden.

Selenskyj will Neustart

Der Zeitpunkt des Regierungsumbruchs kommt keineswegs überraschend. Die Werchowna Rada – das ukrainische Parlament – kommt aus der Sommerpause, und die ukrainische Führung hatte bereits im Frühling kommuniziert, dass es zu Veränderungen in Selenskyjs Regierungsmannschaft kommen könnte.

Die Umbildung war also nur eine Frage der Zeit, aber der Zeitpunkt ist für die Ukraine wahrlich nicht einfach. Im Gegenteil. Die russische Armee erlangt immer größere Geländegewinne im Donbass, und russische Raketen und Drohnen richten aktuell großen Schaden an ziviler Infrastruktur an. Die Energieversorgung ist in vielen ukrainischen Städten lahmgelegt. Wenn das Land gut durch den Winter kommen will – so scheint man in Kiew zu glauben –, braucht es neue Impulse. Mehr Unterstützung aus dem Westen und mehr Sicherheit für die eigene Bevölkerung.

Die Regierungsumbildung soll dem angegriffenen Land laut Selenskyj einen Energieschub geben. "Wir brauchen neue Energie", antwortete der Präsident am Mittwoch auf eine Frage nach den Gründen für die Regierungsumbildung. "Und diese Schritte hängen zusammen mit der Stärkung unseres Staates in unterschiedlichen Bereichen." Der ukrainische Polit-Analyst Wolodymyr Fesenko erklärte der "New York Times", Selenskyj sehe Stagnation in einigen Ministerien und er ziele durch neue Leute auf neue Motivation und Ideen.

Neben Kuleba erklärten der für Rüstungsindustrie zuständige Olexander Kamyschin, Denys Maljuska (Justiz) und Ruslan Strilez (Umwelt) ihr Ausscheiden aus der Regierung. Auch der für Privatisierungen zuständige Chef des Fonds für Staatseigentum, Witalij Kowal, will demnach aus dem Amt scheiden. Weitere Rücktrittsgesuche gab es von den Vizeregierungschefinnen Olha Stefanischyna und Iryna Wereschtschuk. Wereschtschuk ist für Flüchtlingsfragen, Stefanischyna für die europäische Integration der Ukraine verantwortlich.

Kurz gesagt: Die Hälfte von Selenskyjs Ministern räumte ihre Posten, ein radikaler Umbruch. In den vergangenen zwölf Monaten hatte der ukrainische Präsident bereits seinen Verteidigungs- und seinen Energieminister ausgetauscht. All das sind Bereiche, die für den Krieg kritisch sind.

Vor allem Kuleba-Abschied reißt Lücke

Wie geht es nun weiter? Wer an die Stelle der zurückgetretenen Minister tritt, ist noch unklar. Erst am Donnerstag sollen die neuen Ministerinnen und Minister benannt werden. Gerüchte gibt es aber schon seit Langem: Ukrainischen Medien zufolge soll Kuleba durch seinen bisherigen Stellvertreter Andrij Sybiga ersetzt werden, einen ehemaligen Vizeleiter des Präsidialamts.

Ganz unumstritten war der ukrainische Außenminister nicht. Erst im August hatte er mit einer Äußerung, in der er von ukrainischen Nationalisten in den 40er-Jahren verübte Massaker in Polen relativierte, in Warschau Empörung ausgelöst. Kuleba hatte sich dafür ausgesprochen, die "Geschichte den Historikern zu überlassen und gemeinsam die Zukunft zu gestalten". Deswegen gibt es zumindest in Polen Politiker, die den Rücktritt des 43-Jährigen positiv aufgenommen haben.

Aber das ist ein Einzelfall. Denn Kuleba hatte zum Rest des westlichen Bündnisses ein vertrauensvolles Verhältnis, besonders zu seiner deutschen Amtskollegin Annalena Baerbock. Beide verstanden sich auch auf persönlicher Ebene gut. Kuleba ist promovierter Rechtswissenschaftler, Baerbock Völkerrechtlerin. Das passte in den vergangenen Jahren gut zusammen.

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Auch deshalb bedauerte Baerbock den Rücktritt Kulebas. Es gebe "wenige Menschen", mit denen sie "so eng zusammengearbeitet" habe, schrieb sie im Onlinedienst X. "Du stellst die Menschen deines Landes über dich selbst." Das ist durchaus eine besondere Würdigung für einen Amtskollegen.

Kreml nimmt Regierungsumbildung zur Kenntnis

Auch deshalb ist es nicht unwahrscheinlich, dass Kuleba einen anderen Posten bekommt. Wie die Nachrichtenagentur AFP aus Präsidialamtskreisen erfuhr, wollen Selenskyj und Kuleba dessen künftigen Posten "besprechen und entscheiden". Er könnte im Kabinett bleiben, etwa als Minister für die EU-Integration der Ukraine, heißt es aus Kiew.

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Einen Neustart in der Außenpolitik könnte der ukrainische Präsident mit seinem "Siegesplan" verbinden, den er in den kommenden Wochen in den USA vorstellen möchte. Dieser Plan soll skizzieren, wie die Ukraine gedenkt, Wladimir Putin an den Verhandlungstisch zu zwingen.

Und darin besteht eben auch ein Risiko. Der neue ukrainische Außenminister muss nun erst einmal Vertrauen bei den Partnern der Ukraine aufbauen. Denn vieles auf diesem diplomatischen Level funktioniert eben auch durch persönliche Begegnungen. Deswegen wird die Regierungsumbildung diplomatische Prozesse erst einmal verlangsamen.

Hinzu kommt, dass die Legitimität der ukrainischen Regierung langsam schwindet. Denn Selenskyj war nur bis Ende Mai gewählt. In dem Land herrscht allerdings das Kriegsrecht, Wahlen sind in dem von Russland angegriffenen Land daher nicht möglich. Deshalb bleibt der Präsident, der in weiten Teilen der Bevölkerung auch noch großen Rückhalt hat, an der Macht – ebenso wie seine Minister. Das ist mit der ukrainischen Verfassung vereinbar, bietet aber im Informationskrieg Russland die Chance, die Legitimität der Führung in Kiew propagandistisch infrage zu stellen. Selenskyj könnte mit seiner Ministerrochade diesen Kritikern nun neue Munition geben.

Aus Moskau heißt es bereits, dass man die Situation in Kiew im Blick habe. Kremlsprecher Dmitri Peskow erklärte am Mittwoch, die Kabinettsumbildung werde die Aussichten auf eine Wiederaufnahme der Verhandlungen mit Kiew nicht beeinträchtigen. "Nein, es wird keine Auswirkungen haben", sagte er in einem Telefonat mit Journalisten. Putin scheint also weiter auf einen Kriegssieg zu setzen, unabhängig davon, welche Regierungsmannschaft Kiew aufstellt.

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