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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Stopp des Getreideabkommens "Putin geht jetzt aufs Ganze"
Russland hat das Getreideabkommen auslaufen lassen. Mit seiner Entscheidung pocht Kremlchef Wladimir Putin auf seinen Willen. Welche Optionen der Westen nun hat.
Wladimir Putin hat seine Drohungen wahrgemacht: Bereits vor Auslaufen des Getreideabkommens hat der Kreml am Montag dessen Stopp verkündet. Man werde das Abkommen so lange aussetzen, bis die Bedingungen Russlands erfüllt seien. Dass es Putin mit seiner Entscheidung ernst ist, zeigte sich in der Nacht zum Dienstag, als das Abkommen bereits Geschichte war: Russlands Militär überzog die ukrainische Hafenstadt Odessa mit einer Reihe von Raketenangriffen. Noch am Tag zuvor war von dort der letzte ukrainische Getreidefrachter aus dem Hafen ausgelaufen.
"Russland hat sich seine Forderungen diesmal nicht mehr nehmen lassen und damit einen ganz klaren Bruch mit der bisherigen Praxis begangen", sagt Gerhard Mangott, Politikwissenschaftler an der Universität Innsbruck, zu t-online. Zuvor war das Getreideabkommen zwischen Russland, der Ukraine, der Türkei und der UN seit seinem Beschluss im Sommer 2022 immer wieder verlängert worden – bis zu dieser Woche.
Doch wie geht es nun weiter? Was genau fordert Russland, und wie groß ist Wladimir Putins Verhandlungsmacht wirklich?
"Putin geht jetzt aufs Ganze"
"Putin geht jetzt aufs Ganze", sagt Mangott. Bereits seit Monaten hatte Russland Erleichterungen bei den Sanktionen für seine Dünge- und Lebensmittelexporte gefordert. Zwar sind Lebensmittel und humanitäre Produkte nicht direkt sanktioniert, doch können die Sanktionen des Westens russische Exporte zum Teil erschweren, etwa bei Versicherungen, Fracht und auch der Finanzierung. Der Kreml fordert deshalb, dass die russische Landwirtschaftsbank von Sanktionen des Westens befreit wird.
Weil westliche Länder dieser Forderung bislang nicht nachgekommen sind, stellt sich Russland nun quer: Mit dem Stopp des Getreideabkommens lasse man die Lebensmittelpreise weltweit ansteigen und gefährde die Nahrungsmittelversorgung in ärmeren Ländern, so Mangott.
Laut der Welthungerhilfe gingen 64 Prozent des über das Abkommen ausgeführten Weizens aus der Ukraine an Entwicklungsländer. Gerade Menschen im Jemen, im Sudan, in Somalia und Kenia seien darauf angewiesen. Lesen Sie hier, was der Stopp des Getreideabkommens für die Länder bedeutet.
Dass es gerade die Länder trifft, die sich in der Vergangenheit größtenteils damit zurückgehalten hatten, den russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine zu verurteilen, scheint den Kreml offenbar nicht zum Umdenken zu bewegen. "Putin nimmt das ganz offensichtlich in Kauf", sagt Mangott.
"Dann würde er sicher die Schuld beim Westen suchen"
Um deren Staatsoberhäupter zu besänftigen, bekräftigte Kremlsprecher Dmitri Peskow am Dienstag, Russland sei weiterhin dazu bereit, die Getreidelieferungen der Ukraine an bedürftige Länder durch russisches Getreide zu ersetzen. Inwieweit Putin sein Versprechen angesichts der beschränkten Transport- und Finanzierungsmöglichkeiten Russlands tatsächlich erfüllen kann, ist laut Mangott jedoch zweifelhaft.
Zur Person
Gerhard Mangott ist Professor für Politikwissenschaft mit den Schwerpunkten Internationale Beziehungen und Sicherheit im postsowjetischen Raum an der Universität Innsbruck.
"Sollte es ihm nicht gelingen, würde er sicher die Schuld beim Westen suchen", glaubt der Russland-Experte. Putin werde dann argumentieren, dass er ja Getreide liefern würde, aber nicht genügend Reedereien ihre Transportschiffe zur Verfügung stellen und nicht genügend Versicherer die Transporte absichern würden. Ob das tatsächlich so eintritt, wird sich zeigen – und ob Russlands Angebot überhaupt notwendig ist. Denn auch die Ukraine will weiterhin Getreide exportieren.
"Die Schwarzmeer-Getreideinitiative kann und sollte weitergehen – wenn ohne Russland, dann ohne Russland", sagte der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj am Montagabend. Er wolle das Abkommen zusammen mit den anderen Vertragspartnern, der UN und der Türkei, weiterführen. Es müsse nur umgesetzt werden. Ob das gelingen kann, ist bislang unklar. "Das hängt davon ab, ob Versicherer und Reedereien dazu bereit sind, sich dem Risiko auszusetzen, dass die Schiffe von der russischen Marine abgeschossen werden", sagt Mangott.
Getreidelieferungen ohne Russland?
Und auch davon, wie sich die westlichen Länder im Umgang mit Putins Erpressungsstrategie entscheiden. Mangott sieht für sie nur zwei Möglichkeiten: "Entweder die Forderungen Russlands zu erfüllen. Wobei klar ist, dass Putin hier eine unzulässige Erpressung betreibt. Oder andere Länder entscheiden sich, die Getreidetransporte militärisch zu schützen."
Das aber sei riskant, da auch Schiffe, deren Länder nicht an dem Krieg in der Ukraine beteiligt sind, dann mit der russischen Kriegsmarine zusammenstoßen könnten. Russland hatte andere Staaten am Dienstag vor einer solchen eigenständigen Fortsetzung des Abkommens gewarnt.
Bettina Rudloff, Agrarökonomin und Expertin für Handels-, Agrar- und Entwicklungspolitik bei der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP), hält es daher für notwendig, dass westliche Länder gemeinsam mit der Ukraine weiter nach Alternativen suchen und die bestehenden Solidaritätskorridore weiter ausbauen, um das Getreide aus der Ukraine zu transportieren. "Es braucht das Signal: Wir kümmern uns, wir sind nicht von Russlands Entscheidung abhängig", sagte Rudloff im Interview mit t-online.
"Putin hat Erdoğan gezielt einen Misserfolg zugespielt"
Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan wählt indes eine vierte Option: Er will mit Wladimir Putin telefonieren – so hat er es schließlich schon einmal geschafft. Im Juli 2022 war der Getreidedeal mit Russland, maßgeblich unter Vermittlung der Türkei, entstanden. "Ich glaube, dass mein Freund Putin das Abkommen trotz der heutigen Erklärung fortsetzen will", sagte Erdoğan am Montag.
Dass der türkische Präsident so um eine Vermittlung bemüht ist, liegt vor allem daran, dass der Stopp des Getreideabkommens auch für ihn eine Niederlage wäre. "Das Getreideabkommen war immer ein außenpolitischer Erfolg für Erdoğan", sagt Mangott.
Doch seine Chancen stehen schlecht: "Putin hat Erdoğan gezielt einen Misserfolg zugespielt", glaubt Mangott. Das hänge damit zusammen, dass Erdoğan in den vergangenen zwei Monaten nach den Wahlen in der Türkei immer wieder Aussagen getätigt habe, die den russischen Interessen entgegenlaufen.
So hatte Erdoğan etwa gegen eine bestehende Vereinbarung ukrainische Offiziere, die beim Fall des Asow-Stahlwerks gefangen genommen und in der Türkei inhaftiert worden waren, nach Hause geschickt. Und auch seine Zustimmung zum Nato-Beitritt Schwedens lief dem Kreml zuwider, will Russland doch um jeden Preis eine Ausweitung der Nato verhindern.
Das wäre "der größte Misserfolg Putins"
Welche Maßnahmen die westlichen Länder als Reaktion auf das Auslaufen des Getreideabkommens letztlich wählen werden, steht noch aus. Die USA und EU-Länder appellierten am Montag zunächst an den Kreml, das Abkommen weiterzuführen. Klar aber ist: Laut SWP-Expertin Rudloff stehen die Länder abseits von Russland nicht schlechter da als zu Kriegsbeginn. Das liege unter anderem daran, dass einige Länder ihre Importländer für Getreide bereits diversifiziert hätten und teils ihre interne Produktion umgestellt hätten.
Und auch die Ukraine steht nach Monaten der Verteidigung besser da als noch vor einem Jahr: "Putin hat an Verhandlungsmacht eingebüßt. Seine Position ist schwächer, als sie es damals war, denn die Chance, dass die Ukraine unter Absicherung des Westens trotz des Stopps des Abkommens weiter Getreide verschifft, ist höher, als sie es damals war", sagt Russland-Experte Mangott. Umso drängender sei die Frage, ob Russland Getreidefrachter tatsächlich angreife, wenn die Forderungen des Kremls nicht erfüllt würden.
Ein Szenario, das durchaus realistisch ist, bedenkt man, was es für Kremlchef Putin bedeuten würde, wenn die Ukraine tatsächlich weiter Getreide ausführte. "Der größte Misserfolg Putins wäre, dass das Abkommen nicht verlängert wird und die Getreideexporte trotzdem weitergehen", sagt Mangott. "Dann hätte Putin alle Hebel aus der Hand gegeben. Und für Russland wäre das eine große außenpolitische Niederlage."
- Gespräch mit Gerhard Mangott, Politikwissenschaftler an der Universität Innsbruck am 18.07.2023
- Gespräch mit Bettina Rudloff Agrarökonomin und Expertin für Handels-, Agrar- und Entwicklungspolitik bei der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) am 17.07.2023
- Mit Material der Nachrichtenagentur dpa und Reuters