Stopp des Getreideabkommens Das bedeutet Putins Entscheidung für die Welt
Wladimir Putin gibt nicht nach: Schon vor Ende des Getreideabkommens hat er dessen Stopp verkündet. Die Auswirkungen betreffen Millionen Menschen.
Inhaltsverzeichnis
- Was regelte das Abkommen?
- Warum ist das Abkommen für die Ukraine so wichtig?
- Was bedeutet das Ende der Getreideinitiative für ärmere Länder?
- Profitierten denn die ärmsten Länder wirklich?
- Was sind die Folgen für Europa und Deutschland?
- Warum sperrt sich Russland gegen eine Verlängerung des Abkommens?
- Woran scheitert eine Lösung?
Mit dem russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine drohten in vielen Teilen der Welt Hungersnöte und Preissteigerungen von Getreide. Dass das langfristig abgewendet werden konnte, ist einem Abkommen zwischen Moskau und Kiew zu verdanken, das unter Vermittlung der Vereinten Nationen und der Türkei erreicht werden konnte: der sogenannten "Schwarzmeer-Getreide-Initiative".
Die Ukraine konnte seit August 2022 so trotz des russischen Angriffskriegs 33 Millionen Tonnen Getreide exportieren. Doch das könnte sich nun ändern: Russland hat angekündigt, das Abkommen noch vor seinem Ablaufen Montagmitternacht zu stoppen und nicht zu verlängern (hier lesen Sie mehr zum Ende des Getreidedeals). Das hat weitreichende Folgen.
Die wichtigsten Fragen und Antworten im Überblick:
Was regelte das Abkommen?
Die Vereinbarung vom 22. Juli 2022 sollte den mit Getreide beladenen Schiffen aus drei Schwarzmeer-Häfen der Ukraine trotz des russischen Angriffskrieges eine sichere Passage durch den Bosporus gewährleisten. Die Schiffe fuhren entlang eines 310 Seemeilen langen und drei Seemeilen breiten Korridors. Ein Koordinierungszentrum in Istanbul war mit den Partnern des Abkommens besetzt, um die Fahrten zu kontrollieren: mit Vertretern der Kriegsgegner sowie der Türkei und der UN. Inspektionen sollten sicherstellen, dass Schiffe keine Waffen geladen haben.
Das erste Schiff fuhr Anfang August 2022. Bereits zuvor waren die Agrarexporte wegen des Krieges monatelang blockiert gewesen. Am Sonntag machte sich nun im Hafen von Odessa möglicherweise eines der letzten Schiffe auf den Weg, der Frachter "TQ Samsun". Er ist nach UN-Angaben mit mehr als 15.000 Tonnen Raps beladen.
Warum ist das Abkommen für die Ukraine so wichtig?
Russland und die Ukraine sind beide große Getreideexporteure, die mit den Ausfuhren Milliarden verdienen. Für die durch den Krieg weiter verarmte Ukraine gehen ohne den Export wichtige Einnahmen für den Staatshaushalt verloren. Aber auch für die Bauern in dem Land geht es um ihre Existenz.
Nach Angaben des ukrainischen Wirtschaftsministeriums erwirtschaftet die Agrarwirtschaft 10 Prozent des Bruttoinlandsprodukts, beschäftigt 20 Prozent der Arbeitnehmer und erzielt 40 Prozent der Deviseneinnahmen. "Für die Ukraine selbst ist die Agrarwirtschaft lebenswichtig", sagt Martin Courbier, Chef von "Der Agrarhandel", des Bundesverbands Agrarhandel und Vereins der Getreidehändler der Hamburger Börse, t-online.
Das Land will zudem auch seine Rolle als Garant für die globale Ernährungssicherheit weiter wahrnehmen. Die Ukraine gilt als "Kornkammer der Welt". Das Getreide liefert sie teils auch über den Bahnverkehr. Damit aber können bei weitem nicht so viele Mengen transportiert werden wie per Schiff. Angesichts des Krieges werden die Bahngleise auch für das Militär benötigt.
"Der logistische Fokus muss jetzt auf dem Hafenumschlag im Donaudelta liegen", erklärt Courbier. "Der Ausbau für Bahnfracht an den Seehäfen von Adria, Nord- und Ostsee muss vorangebracht werden – auch um sich perspektivisch von dem Getreideabkommen unabhängiger zu machen."
Was bedeutet das Ende der Getreideinitiative für ärmere Länder?
Laut der Welthungerhilfe sind die Entwicklungsländer, die auf Nahrungshilfen angewiesen sind, nun am stärksten von der Entscheidung Putins betroffen. So ging 64 Prozent des über das Abkommen ausgeführte Weizen aus der Ukraine an Entwicklungsländer, erklärt Mathias Mogge, Generalsekretär und Vorstandsvorsitzender der Welthungerhilfe im Gespräch mit t-online.
Durch bewaffnete Konflikte oder aber Dürren und andere Folgen des Klimawandels seien viele Länder in Afrika schon jetzt hart getroffen und auf humanitäre Hilfe angewiesen. Dazu gehörten Jemen, der Sudan, Somalia und Kenia. Seit Beginn des Getreideabkommens im August 2022 seien dorthin und auch in Länder wie Afghanistan und dem Jemen insgesamt 625.000 Tonnen Getreide geliefert worden. "Erneute Preissteigerungen werden in diesen Ländern die Ernährungslage für Millionen Menschen verschärfen", so Mogge.
Auch die deutsche Botschafterin im UN-Menschenrechtsrat, Katharina Stasch, nennt den Export des Getreides "eine Frage von Leben und Tod". In sieben Ländern am Horn von Afrika wüssten nach mancherorts jahrelanger Dürre 60 Millionen Menschen nicht immer, wo die nächste Mahlzeit herkommen soll, berichten die Vereinten Nationen.
Doch bereits jetzt und auch vor dem Getreideabkommen leiden Menschen, etwa in Somalia oder im Südsudan Hunger, sagt Hanna Saarinen, Expertin für Ernährung bei der Hilfsorganisation Oxfam. Das Getreideabkommen, so Saarinen, "ist nicht das Allheilmittel gegen den Hunger in der Welt". Spätestens jetzt, da das Abkommen vom Tisch sei, sei es "noch dringender, die Art und Weise der Welternährung zu überdenken".
"Der Hunger in der Welt wird nicht dadurch gelöst, dass nur in einer der wenigen Kornkammern der Welt angebaut wird", sagte die Ernährungsexpertin. Stattdessen müsse man die "ungesunde Abhängigkeit" der betroffenen Länder beenden, die Produktion von Getreide diversifizieren und in die Betriebe von Kleinbauern in ärmeren Ländern investieren.
Profitierten denn die ärmsten Länder wirklich?
Zwar war China das Hauptempfängerland der durch die Initiative ermöglichten Exporte, aber auch die ärmsten Länder haben profitiert, berechnete die UN-Konferenz für Handel und Entwicklung (Unctad). Der Anteil der ärmsten Länder an den ukrainischen Weizenlieferungen sei höher gewesen als vor dem Krieg, sagte Unctad-Ökonom Carlos Razo der Deutschen Presse-Agentur. In diesem Jahr seien es 24 Prozent des gesamten ukrainischen Weizenexports gewesen, während es im gleichen Zeitraum 2021 rund 22 und im Jahr davor 17 Prozent gewesen seien.
Insgesamt sind nach seinen Angaben seit Beginn der Getreideinitiative 1,9 Millionen Tonnen Weizen und 26.000 Tonnen Sonnenblumenöl an die ärmsten Länder geliefert worden. Beliefert wurden aber statt 15 Länder wie vor dem Krieg nur neun Länder. Zum Beispiel seien keine Exporte mehr an Mauretanien, Mosambik und Myanmar gegangen. "Kein Weizen, der nötig ist, um Hunger in den ärmsten Ländern zu bekämpfen, ist nach China gegangen", sagte Razo.
Was sind die Folgen für Europa und Deutschland?
Mit dem Stopp der Initiative könnten die Getreidepreise nun auch im Rest der Welt wieder steigen, fürchtet der Chefökonom der UN-Agrarorganisation FAO, Máximo Torero Cullen. Der Export von Millionen Tonnen Getreide führte zu einem Rückgang der weltweiten Lebensmittelpreise – die nach UN-Angaben von Anfang Juli nun um 23 Prozent unter den Rekordwerten von März 2022 liegen.
Auch Carsten Fritsch, Rohstoffanalyst der Commerzbank, sieht Auswirkungen für ärmere Teile der Welt, nicht aber Europa oder Deutschland: "Die Weizenpreise stiegen nach der Ankündigung Russlands deutlich, das Getreideabkommen vorerst nicht zu verlängern", so Fritsch auf Anfrage von t-online. Für Europa habe dies aber nur geringe Auswirkungen, da Europa "nicht auf Weizen aus der Ukraine angewiesen" ist, denn man sei "selber Weizenexporteur". Jedoch sei es gut vorstellbar, dass die Anfrage nach europäischem Weizen aus Regionen steigen könne, die bislang Weizen aus der Ukraine bezogen haben.
Dass daraus eine Knappheit in Deutschland entstehen könnte, sei laut Fritsch "nicht zu befürchten". Demnach soll der Preiseffekt im Supermarkt ebenfalls überschaubar bleiben. "Denn die für die Herstellung von Weizenerzeugnissen und deren Transport mindestens ebenso wichtigen Energiepreise sind deutlich niedriger als vor einem Jahr."
Ähnlich sieht es Logistik-Experte Courbier. "Knappheiten an Sonnenblumenöl, Getreide oder Mehl sind in Deutschland und Europa nicht zu erwarten", sagte er t-online. "Leere Regale sind in der Vergangenheit durch Hamsterkäufe entstanden, die der Handel in seinen Lieferketten nicht per se einpreist und dementsprechend erst mit Verzögerung ausgleichen kann."
Auch der Bauernverband sieht aktuell für Deutschland und Europa keine Gefahr vor Engpässen: Der stellvertretende Generalsekretär Udo Hemmerling sagte am Montag: "Sollte es eine längere Unterbrechung der Schwarzmeerroute für Getreide, Ölsaaten und Düngemittel geben, könnte es erneut zu Versorgungsengpässen und Preissteigerungen im globalen Agrarhandel kommen." Das ginge vor allem zu Lasten von Importeuren von Brotgetreide in Arabien, Afrika und Asien. "In Mitteleuropa ist hingegen nicht mit Versorgungsengpässen zu rechnen, da hier die eigene Ernte zur Verfügung steht."
Hemmerling sprach mit Blick auf die aktuelle Lage von einem "politischen Poker Russlands" zu Lasten der Menschen in Entwicklungs- und Schwellenländern. "Tatsächlich hat Russland erhebliche Eigeninteressen, den globalen Marktzugang für seine Getreideexporte nicht zu verlieren." Für den Bauernverband sei klar, dass der Handel mit Lebensmitteln auch im Krieg nicht blockiert werden dürfe.
Warum sperrt sich Russland gegen eine Verlängerung des Abkommens?
Russland bestand von Anfang an darauf, dass für seine Mitarbeit im Gegenzug westliche Sanktionen gelockert werden, durch die Moskau seine eigenen Getreide- und Düngemittelexporte behindert sieht. Dabei geht es vor allem um die mit Sanktionen belegte staatliche russische Landwirtschaftsbank, die keine Geschäfte mehr abwickeln kann. Moskau sieht hier die UN in der Pflicht, Druck auf den Westen auszuüben – und drohte immer wieder mit einem Ausstieg aus dem Abkommen.
Woran scheitert eine Lösung?
Die EU schlug zuletzt die Gründung einer Tochter der Agrarbank zur Abwicklung von Finanzgeschäften vor. Eine Sprecherin des russischen Außenministeriums aber warf der EU daraufhin vor, dass es sich dabei um einen "bewusst nicht umsetzbaren Plan" handele. Die Gründung einer solchen Bank und ihr Anschluss an das internationale Bankenkommunikationsnetzwerk Swift dauere Monate. Für die von Russland geforderte Aufhebung der Sanktionen gegen die Landwirtschaftsbank wäre allerdings die Zustimmung der EU-Staaten nötig, was ebenfalls als undurchsetzbar gilt.
Russische Banken können wegen der Trennung vom Swift-Kommunikationsnetzwerk der Banken nur noch schwer Finanzgeschäfte abwickeln. Auch die Versicherung von Schiffen und Frachten gilt als schwierig. "Unter diesen Bedingungen ist es offensichtlich, dass es keine Grundlage gibt für eine Fortsetzung der Schwarzmeer-Initiative, die am 17. Juli ausläuft", sagte Sacharowa.
Präsident Wladimir Putin sagte am Donnerstag im Staatsfernsehen, man denke noch über das weitere Vorgehen nach. Es gebe etwa die Möglichkeit, die Beteiligung Russlands an dem Abkommen so lange auszusetzen, bis die Versprechungen, die Moskau im Rahmen der Vereinbarung gegeben worden seien, auch tatsächlich erfüllt würden – eine Überlegung, die der Kremlchef nun umgesetzt hat.
Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan hat daher nun angekündigt, mit Putin telefonieren zu wollen, berichtet die staatliche türkische Nachrichtenagentur Anadolu. Er wolle nicht bis zu einem Treffen mit dem Kremlchef im August warten.
- Nachrichtenagenturen dpa und Reuters
- Anfrage an Carsten Fritsch, Rohstoffanalyst der Commerzbank
- Anfrage an Martin Courbier, Chef von "Der Agrarhandel"