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China an der Macht: Diese Entwicklung stellt die Welt auf den Kopf


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Tagesanbruch
Diese Entwicklung stellt die Welt auf den Kopf


Aktualisiert am 06.08.2024Lesedauer: 7 Min.
Xi Jinping: China hatte eigentlich Abkommen mit mehreren Palästinenser-Gruppen geschlossen.Vergrößern des Bildes
Xi Jinping: China hat Abkommen mit mehreren Palästinensergruppen geschlossen. (Quelle: IMAGO/Gavriil Grigorov)

Guten Morgen, liebe Leserin, lieber Leser,

manchmal macht man schon so Sachen, oder? Sachen, bei denen man sich selbst fragen könnte: Aber sonst so weit noch alles in Ordnung?

Ausgelöst hatte meinen Spleen "25 km/h", ein herzallerliebstes Roadmovie mit Bjarne Mädel und Lars Eidinger in den Hauptrollen. Seit über zwei Jahren habe ich seither, mal mehr, mal weniger intensiv, aber mindestens einmal am Tag bei Kleinanzeigen nach einer Optima 3 geschaut. Die Optima 3, das war ein Moped des Nürnberger Herstellers Hercules, ein Klassiker der Achtzigerjahre. Ich hatte die Mofaversion, eine Prima 5 in Blau, die natürlich standesgemäß frisiert war, dicker Krümmer, kleine Düse, Luftfilterkasten aufgebohrt.

Zwei Jahre nach den ersten Exkursionen im Netz steht die Optima aus Bad Salzuflen jetzt auf dem Hof in Berlin. Perfekt restauriert, alle Verschleißteile neu, neu lackiert in diesem originalen und einzigartigen Hercules-Irischgrün, das mir immer besser gefallen hat als das Blau meiner Prima 5. Sie macht mich glücklich, wenn ich sie bloß anschaue.

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Der Kerl hat Nerven, höre ich als Widerhall dieser Zeilen. Die Welt brennt und steht vor einem weiteren Krieg in Nahost, und der erzählt uns was von seinen Spinnereien als sentimentalischer Boomer, der sich etwas vom Gefühl seiner Jugend im Unteren Illertal mit einem sinnfreien Lustkauf zurückholen möchte.

Aber es gibt eine direkte Linie von der Hercules in Irischgrün zur Weltpolitik und auch zum Nahen Osten. Denn es stellte sich heraus, dass ich alsbald wie früher meine Hände in Zweitaktgemisch baden musste. Mein Schätzchen, genauer: der über 40 Jahre alte Vergaser der Firma Bing, wie Hercules ein deutsches Traditionsunternehmen und längst untergegangen, muckte und suppte. Das Schätzchen nahm untenraus das Gas nicht richtig an.

Also musste ein neuer 12er-Bing her. Bing, Sachs, Hercules, das war die zweitakterische Dreifaltigkeit aus dem Fränkischen. Lange her, lange vorbei. Aber zu meinem Erstaunen gab es die Vergaser alle noch, jede einzelne Bauart, für die Hercules, die Kreidler, die Zündapp. Aber nicht mehr aus Fürth, wo Bing saß. Sondern aus China. Ein hundertprozentiger Nachbau für gerade mal 30 Euro. So wie alle anderen Teile für den Oldtimer-Zweitakter mit seinen 50 Kubik auch. Alle, wirklich alle. Kette, Ritzel, Bowdenzüge. Alles.

Über Jahrzehnte hat sich China in aller Ruhe und Zielstrebigkeit zur Wirtschaftsweltmacht Nummer zwei emporgearbeitet. Und vor allem im Unterschied zu den immer noch knapp führenden USA die gesamte Welt in Abhängigkeit gebracht. Sodass heute nicht nur eine Düse in einem China-Vergaser den Sprit für meinen Oldtimer verdampft. Sondern alles, alles, alles von China und seinen Produkten abhängt. Selbst die Big Five in den USA können sich ihrer Monopole nicht mehr sicher sein. Keine Seite kann man im Netz mehr öffnen, ohne von Temu, einem chinesischen Amazon, mit seltsamen Angeboten irgendwo zwischen Porno und kuriosem Plunder zum Klick und Kauf animiert zu werden.

Im Sport haben die Chinesen selbst in Disziplinen fern ihrer Kultur inzwischen das Sagen. Die 22-jährige Zheng Qinwen hat mit einem maschinenhaft perfekten Tennis nicht nur die Karriere von Angelique Kerber beendet, sondern sich das Gold gegen eine komplett chancenlose Donna Vekić im Finale geholt. Die meisten Medaillen gingen im Tennis an China. Im Tennis! Das war bislang so weit weg von Peking wie die einsamen Tennisplätze in dem Teil Deutschlands, in denen sich die Freunde dieses Sportes des Klassenfeindes vor '89 die Schläger ins Land schmuggeln lassen mussten.

Helmut Schmidt hat diese Entwicklung früher als alle anderen hierzulande schon vor 30 Jahren kommen sehen. Dabei hat er bis in seine letzten Jahre hinein eine imperialistische Intention Chinas negiert. China sei ein "Eroberer ohne Gewalt" und ohne geopolitisch hegemonialen Anspruch. Dabei hatte er womöglich den chinesischen Gelehrten Sunzi im Kopf, der vor mehr als 2.500 Jahren in seiner "Kunst des Krieges" schrieb: "Der kluge Anführer unterwirft die Truppen des Feindes ohne Kampf. (...) Er wendet sich mit seinen Truppen gegen den Machthaber im feindlichen Königreich, und sein Triumph wird vollkommen sein, ohne dass er einen Mann verliert."

Auch ein Helmut Schmidt konnte sich irren, wie die jüngsten Ereignisse jenseits von Tennis und Mofavergasern zeigen. China rüstet auch militärisch auf – und macht gleichzeitig seinen politischen Machtanspruch geltend. Damit in den Nahen Osten. Wie tragfähig (und wie streitbar einzigartig) es war, dass China die verfeindeten Spitzen von Hamas und Fatah sowie 14 weitere palästinensische Splitterorganisationen zu einem Burgfrieden in Peking einbestellte: Es ist jedenfalls dort passiert, und nicht in der Schweiz oder sonst wo auf neutralem oder westlichem Boden. Wenn Camp David, dann ist das jetzt in Peking, das war die Botschaft. Auch den ukrainischen Außenminister Dmytro Kuleba hatte die chinesische Führung unter ihrem Herrscher Xi Jinping einbestellt, um Einfluss zu nehmen auf den Angriffskrieg, den das Land vonseiten Russlands zu ertragen hat.

Ebenso unspektakulär wie unwiderstehlich begibt sich Peking in das machtpolitische Vakuum, das die beiden taumelnden Riesen Russland und die USA eröffnen. Russland war schon länger aus dieser Liga abgestiegen, was Wladimir Putin nicht wahrhaben und weswegen er sich mit Gewalt sein Reich zurückbomben möchte.

Aber auch die USA, verbliebener Hegemon und Systemgewinner spätestens seit 1990, haben ihren Zenit überschritten. Der Spruch des vormaligen Präsidenten, der es noch einmal werden möchte, kündet von dieser Einsicht, ohne es zu wollen. Denn "Make America great again" heißt erstens, dass es nicht mehr so "great" ist wie früher. Und ist geboren aus dem so unguten wie berechtigten Gefühl, dass es das in dem Maße wie früher auch nie mehr werden wird.

Wladimir Putin musste bei seinem jüngsten Besuch seines "teuren Freundes" Xi in Peking auch etwas erleben, was er gar nicht leiden mag: Eine Behandlung durch den Gastgeber, die mit jeder Geste klarmachte, wer in diesem bilateralen Gefüge Koch und wer Kellner ist. Meine Kollegen Marc von Lüpke und Florian Harms haben dazu dieser Tage mit dem Historiker Jörg Baberowski gesprochen.

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Weltreiche haben ihre Blüte und ihre Herrschaft immer aus einem Wettbewerbsvorteil der jeweiligen Zeit heraus erreicht. Als die Schiffe über Wohl und Wehe entschieden, konnten das territorial kleine Länder wie Portugal, die Niederlande und Großbritannien sein, weil sie am Meer lagen und die besten Schiffe der Welt bauten. Napoleon musste das schmerzlich erfahren. Dann war es das Kombisystem aus Kapitalismus und Demokratie, das über den Kommunismus und die Staatswirtschaft siegte.

China hat daraus eine derzeit konkurrenzlose Fusion von kommunistischem Einparteiensystem und westlichem Kapitalismus gemacht. Dass China dabei der sanfte Riese bleibt, den Schmidt immer in ihm sah (er konnte sogar die brutale und menschenverachtende Niederschlagung der Demonstrationen auf dem Tian’anmen-Platz irgendwie ausblenden und noch rechtfertigen), das ist beileibe nicht gesagt.

Kein Land der Welt hat in den vergangenen Jahren aufgerüstet wie China. Und damit Anlass gegeben zur Annahme, dass das Land die Taiwanfrage wie den Tian’anmen-Platz beantworten wird. Mein Kollege Daniel Mützel hat gerade den deutschen Verteidigungsminister Boris Pistorius in den Indopazifik und das südchinesische Meer begleitet. Aus genau diesen Befürchtungen heraus und um auch für Deutschland dort Flagge zu zeigen, ist der deutsche Minister dort für mehr als eine Woche hingereist.

Aufhorchen lässt auch die jüngste Äußerung des ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj zu Chinas Rolle im Ukrainekrieg. Selenskyj wünscht sich von Peking durchaus eine Rolle beim zweiten Friedensgipfel (nach dem ersten in der Schweiz), aber eben nicht als Vermittler, sprich: als Vorsitz. China solle stattdessen Druck auf Russland ausüben. Der erste Mann in Kiew wird mit seinem Emissär Kuleba nach dessen Rückkehr aus China gesprochen und die Erkenntnis erlangt haben: Wenn China der Croupier an diesem Tisch sein wird, dann rollen die Kugeln eher nicht zugunsten der legitimen territorialen Rechte des angegriffenen Landes, was nach dem, was wir landläufig die regelbasierte Ordnung nennen, der Fall sein müsste.

Darin manifestiert sich der eigentliche Wachwechsel der Welt: Die Demokratie westlicher Prägung und ihr Wertesystem sind in einer chinesischen Welt nicht mehr die Richtschnur. Nicht mehr das Licht, das Ideal, zu dem alles streben soll und will.

Eine Aussicht, die sich ein Stück weit noch unserer Vorstellungskraft entzieht. Die aber schon dabei ist, Wirklichkeit zu werden.


Ohrenschmaus

Bob Dylan kommt wieder nach Deutschland. Nach meiner letzten Naherfahrung ist das Verheißung und Drohung zugleich. Aber ob er nun seine Konzertbesucher vorsätzlich quält oder begeistert: Er ist einer der Größten. Hier passend zur Weltlage ein grooviger Titel des alten Grantlers.


Lesetipps

Mein Kolumnistenkollege, der "Elder Statesman" Uwe Vorkötter, begeistert sich für Politik und für Sport. Und noch mehr für Phänomene, in denen beides zusammenfließt. Warum er sich die Olympia-Euphorie von Paris in Deutschland als Austragungsort wünschte, aber auch die Hürden bis Barrieren auf dem Weg dorthin sieht, lesen Sie in seiner Kolumne von heute.


Kursrutsch an den Börsen: Erst traf es den Nikkei, dann den Dax und nun auch die amerikanischen Indizes S&P 500 und Nasdaq. Mein Kollege Leon Bensch hat mit einem Experten darüber gesprochen, wie sich Anleger jetzt am besten verhalten sollten.


Paris ist ohnehin ein teures Pflaster. Olympia aber treibt das Niveau noch einmal nach oben. Sportreporter Alexander Kohne über grotesk hohe Preise.


Zum Schluss

Der Kanzler im Sommerurlaub ...

Ich wünsche Ihnen einen schönen Dienstag. Am Mittwoch schreibt Camilla Kohrs für Sie.

Ihr Christoph Schwennicke
Mitglied der Chefredaktion
X: @CSchwennicke

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Mit Material von dpa.

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