Historiker Jörg Baberowski "Dass Putin diese Dummheit begehen würde"
Der Gesprächspartner muss auf jede unserer Fragen antworten. Anschließend bekommt er seine Antworten vorgelegt und kann sie autorisieren.
Zum journalistischen Leitbild von t-online.Der Westen hofft auf eine russische Niederlage – und fürchtet sie zugleich. Es ist allerdings unwahrscheinlich, dass Russland den Krieg verliert, sagt Jörg Baberowski. Im Interview erklärt der Historiker, warum.
Die Staaten des Westens befinden sich in der Zwickmühle: Eigentlich soll das aggressive Russland den Krieg gegen die Ukraine verlieren, andererseits fürchten westliche Regierungen einen möglichen Kollaps des Kremlregimes. Denn die Folgen wären nicht absehbar. Jörg Baberowski, Historiker und jahrzehntelanger Kenner der russischen Geschichte, weist seit längerer Zeit auf solche Widersprüche hin – und warnt davor, Wladimir Putin und Russland zu unterschätzen.
Im Gespräch mit t-online geht Baberowski auf die Kritik an seinen Aussagen ein, führt aus, warum das russische Regime seiner Ansicht nach stabil ist, wo sich bedenkliche neue Allianzen andeuten – und wie ein Weg zum Frieden aussehen könnte.
t-online: Professor Baberowski, das ist das fünfte Interview, das wir seit dem russischen Überfall auf die Ukraine mit Ihnen führen. Schon kurz nach dem Februar 2022 äußerten Sie die Einschätzung, dass Russland den Krieg nicht verlieren werde. Das hat teils heftige Kritik hervorgerufen. Bleiben Sie bei Ihrer Einschätzung?
Jörg Baberowski: Ja, so wird es wahrscheinlich sein, und die Entwicklung des Kriegsgeschehens scheint zu bestätigen, was ich damals gesagt habe. Ich gebe mir Mühe, meine Umgebung aufmerksam zu beobachten und zu begreifen, was geschieht. Als Historiker möchte ich verstehen, was in einem Krieg vorgeht und was er unter den Menschen anrichtet, die mit ihm leben müssen. Für die politischen Berufsempörer, die zwischen Sein und Sollen, zwischen Wunsch und Wirklichkeit nicht unterscheiden können, aber alles zu wissen glauben, interessiere ich mich nicht. Ich habe keine Zeit, mich damit zu befassen.
Das klingt verbittert.
Ich bin in der heiteren und gelassenen Stimmung, die zu meinem Alter passt. Ich möchte die Welt nicht verändern. Es kommt vielmehr darauf an, sie zu verschonen. Als Historiker versuche ich, mich nicht von meinen Wünschen leiten zu lassen, sondern mir vorzustellen, welche Handlungsmöglichkeiten sich Menschen in bestimmten Situationen ergeben. Meine Vorstellungen darüber, wie eine Welt eingerichtet sein müsste, die mir gefiele, sind dafür vollkommen irrelevant. Historiker sind weder Staatsanwälte noch Richter. In ihrer Welt werden Argumente vorgebracht, ausgetauscht und plausibilisiert. Niemand braucht einen Historiker, der einem vorrechnet, was richtig und was falsch ist.
Zur Person
Jörg Baberowski, Jahrgang 1961, lehrt Geschichte Osteuropas an der Humboldt-Universität zu Berlin. Seine Forschungsfelder sind unter anderem der Stalinismus und die Geschichte der Gewalt. 2012 erhielt der Historiker den Preis der Leipziger Buchmesse für sein Standardwerk "Verbrannte Erde. Stalins Herrschaft der Gewalt". Am 19. September 2024 wird Baberowskis neues Buch "Der sterbliche Gott. Macht und Herrschaft im Zarenreich" (C.H. Beck Verlag) erscheinen.
Was braucht man dann?
Ich gebe mir Mühe, zu beschreiben, was ist, und nicht das, was sein soll, und ich versuche, den beschriebenen Situationen so weit wie möglich gerecht zu werden, im Wissen darum, dass der Beobachter sich als Person nicht auslöschen kann. Man erwartet von Historikern, Politologen und Soziologen, dass sie sich ein Bild von einem Geschehen machen, es aus unterschiedlichen Blickwinkeln betrachten und mitteilen, was Menschen tun. Die öffentliche Diskussion in Deutschland beschränkt sich leider darauf, Handlungen moralisch zu bewerten, anstatt sie zu verstehen. So aber wird der Blick auf das Leben verstellt.
Was Putins Russland der Ukraine antut, ist zweifellos böse. Das kann und muss doch auch so benannt werden.
Selbstverständlich ist es das. Aber welchen Schluss ziehen wir daraus? Dass wir uns im Angesicht der Verbrechen eine nüchterne Einschätzung des Geschehens versagen müssen? Die Moralisierung der Politik verhindert die Suche nach Auswegen, weil sie die Welt in Gut und Böse einteilt, der eigentlichen Frage aber aus dem Weg geht: was getan werden muss, damit der Krieg ein Ende findet und sich nicht wiederholen kann.
Viele Menschen empfinden nun mal große Empathie für die Opfer des Kremlregimes. Was soll daran falsch sein?
Daran ist überhaupt nichts falsch – im Gegenteil. Aber es ist doch Aufgabe der Politik, mit Augenmaß und Verantwortungsgefühl einen Weg aus der Krise zu suchen. Um zu verstehen, was geschieht, muss man sich der Mühe unterziehen, den kulturellen und sozialen Ort eines Konflikts und die an ihm beteiligten Parteien genau zu beschreiben. Dafür braucht man nicht nur ein Wissen über Land und Leute, sondern auch ein Verständnis vom Krieg und der Gewalt, die er verursacht. Vor allem aber braucht man Distanz, einen klinischen Blick auf das Geschehen, wenn Sie so wollen.
Was qualifiziert Sie dazu?
Ich beschäftige mich seit Jahrzehnten mit der Geschichte der Herrschaft im zarischen und sowjetischen Imperium, mit Krieg und Gewalt. Ich glaube, dass ich mich zu diesen Fragen einigermaßen kompetent äußern kann.
Im Jahr 2018 haben Sie in einem Interview mit t-online gesagt: "Wir sollten froh sein, dass Putin an der Macht ist". Wie stehen Sie heute dazu?
Ich habe mich in Putin getäuscht. Dass er diese Dummheit begehen und die Ukraine angreifen würde, habe ich damals nicht für möglich gehalten. Aber der zitierte Satz steht in einem anderen Zusammenhang. Er verweist auf ein Dilemma: dass es nämlich noch schlimmer kommen könnte, als es schon ist. Denn die autoritäre Ordnung wird ja auch von Stimmungen getragen, sie ist nicht allein Putins Werk. Oder glaubt irgendjemand, Putins Ende werde auch der Anfang der liberalen Demokratie in Russland sein? Man sollte sich schon gut überlegen, ob man gut beraten ist, eine autoritäre Ordnung ins Wanken zu bringen, wenn man keine Alternativen anzubieten hat.
Wie sehen Sie Putin heute?
Ich wünsche mir, dass Putins Herrschaft ein Ende finden möge. Aber dieser Wunsch geht nicht in Erfüllung. Niemand weiß, was in Zukunft geschehen könnte, aber im Augenblick erscheint es mir nicht so, als sei Putins Macht in Gefahr. Er scheint sie vielmehr gefestigt zu haben. Mit dieser Wirklichkeit müssen wir wohl zurechtkommen.
Wie bewerten Sie also die gegenwärtige Lage in Russland nach dem Tod von Alexej Nawalny im Straflager und den anschließenden Scheinwahlen?
In Russland ist das eingetreten, was zu befürchten war. Das Regime hat den Krieg genutzt, um sich im Inneren zu konsolidieren und die Opposition zu eliminieren. Kritiker sind zum Schweigen gebracht worden, die Anhänger des Regimes – und es sind viele – rücken zusammen, seit Putin seinen Krieg mit großem Erfolg als Überlebenskampf Russlands gegen die Nato verkauft.
Woher beziehen Sie Ihre Informationen?
Seit 2019 war ich nicht mehr in Russland, Dienstreisen sind zurzeit nicht möglich. Aber ich stehe in engem Kontakt mit Menschen, die in Russland geblieben sind und die wissen, was geschieht. Ich spreche mit Flüchtlingen, verfolge die Nachrichten von Kriegsbloggern und versuche, all diese Informationen mit meinem Kontextwissen anzureichern.
Wie steht es um die verbliebene Opposition gegen Putin?
Die Opposition ist zum Schweigen gebracht worden. Vor den Präsidentschaftswahlen befürchteten viele eine Schließung der Grenzen und eine Verhaftungswelle. Das ist nicht geschehen, weil es andere, subtile Möglichkeiten gibt, Gehorsam zu erzwingen: Die Polizei hat Nawalnys Anhänger zu seiner Beerdigung gehen lassen, aber genau beobachtet, wer sich an dieser Demonstration des Ungehorsams beteiligte. Wer etwas wagt, verliert seine Anstellung, die Familie bekommt Besuch vom Geheimdienst. Hin und wieder wird jemand verhaftet und verurteilt. Diese Vorgehensweise ist weitaus effizienter als die Anwendung roher Gewalt. Kurzum, die Situation hat sich für den liberalen, aufgeklärten Teil der Gesellschaft verschlechtert. Und es könnte noch schlimmer kommen, fürchte ich.
Wie schlimm?
Putin wird dafür sorgen, dass sich die Opposition nicht wieder gegen ihn formieren kann.
Wie beurteilen Sie Russlands wirtschaftliche Lage?
Der ökonomische Kollaps, der im Westen erwartet wurde, ist nicht eingetreten. Russland ist nicht am Ende. Das war zwar das Kalkül hinter den westlichen Sanktionen. Aber der Handel mit anderen, ökonomisch potenten Staaten hat die Ausfälle teilweise kompensiert. Russland ist auch keineswegs isoliert. Putin trifft sich mit Erdoğan, der immerhin der Präsident eines Nato-Staates ist, er unterhält gute Beziehungen zu Indien, China und dem Iran, Ländern, die militärisch und ökonomisch eine bedeutende Rolle spielen. Es gibt neue Bündniskonstellation, in denen die Europäer keine Rolle mehr spielen. Eigentlich müsste diese Umkehrung der Machtverhältnisse den Europäern zu denken geben.
Wie erklären Sie Erdogans Nähe zu Russland?
Die Türkei ist im Kaukasus und in Syrien militärisch gebunden, nimmt, wie der Iran und Russland, Einfluss in der Region. Erdoğan und Putin müssen im Kaukasus miteinander kooperieren, wenn sie ihren Einfluss in der Region nicht verlieren wollen. Alte Bündnisse zerbrechen, neue treten an ihre Stelle, und Putin nutzt die Möglichkeiten, die sich ihm durch die Kooperation mit der Türkei und dem Iran, Indien und China, aber auch Südafrika und Brasilien eröffnen.
Putin hat auch die Beziehungen zu Nordkoreas Diktator Kim Jong Un intensiviert, einem Regime, das als gänzlich unberechenbar gilt. Ist das ein Zeichen der Schwäche?
Warum sollte diese Hinwendung zu Nordkorea eine Schwäche sein? Putin versorgt sich mit Waffen und Ersatzteilen, wo er sie bekommen kann, und Nordkorea überwindet seine Isolation. Beide Regierungen profitieren davon. Auch sollte nicht aus dem Blick geraten, dass die Waffensysteme Chinas, Nordkoreas und Indiens aus den sowjetischen Ressourcen der Vergangenheit schöpfen. Die Lieferung von Nachschub und Ersatzteilen sowjetischer Bauart hat Vorteile: die Waffen lassen sich leicht in die vorhandenen Systeme integrieren, kein Soldat muss monatelang an Waffen ausgebildet werden, die er nicht kennt.
Also dient Nordkorea Russland nur als Waffenlieferant – oder entsteht da eine neue "Achse des Bösen"?
In Nordkorea verfolgt Russland ein strategisches Ziel: China wird in Putins Augen zu mächtig, deshalb baut er Beziehungen zu Nordkorea und Indien aus, die traditionell Gegenspieler Pekings sind. Der nordkoreanische Diktator ist keineswegs verrückt, er hat ein großes Interesse daran, dass seine Umgebung stabil bleibt, weil davon sein eigenes Überleben abhängt. Er sucht nach Verbündeten, nicht nach Feinden, denen er gar nicht gewachsen wäre.
Kommen wir zur Lage an der Front in der Ukraine: Trotz den westlichen Waffenlieferungen an die Ukraine gelingen der russischen Armee Vorstöße an einzelnen Frontabschnitten – wenn auch unter großen Verlusten. Denken Sie, dass sich dieser Abnutzungskrieg fortsetzt, oder erwarten Sie noch größere militärische Operationen?
Es zeigt sich, dass Russlands Armeen aus dem Versagen in den ersten zwei Kriegsjahren gelernt haben. Sie rücken zwar langsam vor, aber sie erzielen Erfolge, die man ihnen vor einem Jahr noch nicht zugetraut hätte. Russland produziert Waffen in großen Mengen, opfert Soldaten ohne Rücksicht. Aber auch in der Ukraine wächst der Blutzoll, den die Streitkräfte zu entrichten haben. Die Unzufriedenheit und die Verzweiflung darüber, dass man nicht gewinnen kann, wächst. Bis zu den Präsidentschaftswahlen in den USA wird keine Seite nachgeben. Danach werden die Karten neu gemischt. Der Schlüssel zur Beendigung des Krieges liegt in Washington. Die Europäer spielen keine Rolle, sie aber werden die Folgen dieses europäischen Krieges auf die eine oder andere Weise zu bewältigen haben.
Das stimmt doch nicht. Putin könnte den Krieg sofort beenden, indem er seine Truppen zurückzieht.
Das wird er aber nicht tun. Er braucht einen Sieg, wenigstens ein gesichtswahrendes Ende des Krieges, das er als Triumph verkaufen kann. Vor zwei Jahren, als Russland in der Defensive war, gab es vielleicht noch eine Gelegenheit, den Krieg zu beenden. Einen halbwegs ehrenvollen Frieden hätte Putin damals vermutlich in Erwägung gezogen. Diese Möglichkeit ist verspielt. Russland wird nicht nachgeben und darauf bestehen, zu behalten, was in diesem Krieg erobert worden ist.
Russland hat die Ukraine aber völkerrechtswidrig überfallen und zahlreiche Kriegsverbrechen verübt. Da wäre ein Kompromissangebot des Westens doch einem Kotau vor dem Aggressor gleichgekommen.
All das ist unbestritten. Aber wenn man nicht gewinnen kann, dann hilft es nichts, Siege zu beschwören, die nicht kommen werden. Tag für Tag sterben Menschen, werden Ortschaften dem Erdboden gleichgemacht. Wie lange möchte man dem Sterben noch zusehen? Dürfen Menschen für einen Krieg geopfert werden, in dem keines der selbst erklärten Ziele erreicht werden kann? Auch in Deutschland singen Politiker das Lied des Krieges, von dem sie aber gar nichts verstehen. Aber wer spricht eigentlich über den ersten Tag des Friedens, über die Staatenordnung, die den Frieden sichert, über die Behebung der seelischen Schäden, die das Schlachten angerichtet hat? Es ist naiv, sich eine Friedensordnung vorzustellen, in der Russland keine Rolle spielt. Russland wird nicht verschwinden, wir müssen mit dieser Einsicht zurechtkommen und uns auf sie einstellen. Russland wird sich von innen nur verändern, wenn dieser Krieg beendet wird. Je früher Frieden herrscht, desto besser!
Aber die Ukraine wurde angegriffen! Soll sie Ihrer Ansicht nach das von Russland besetzte Land tatsächlich aufgeben? Das würde Putin doch als Einladung auffassen, bei nächster Gelegenheit wieder zuzuschlagen.
Es gehört zum zynischen Spiel des Krieges, dass jede Seite vor dem Beginn von Verhandlungen Maximalforderungen aufstellt. Aber jeder vernünftige Mensch weiß, dass es am Ende einen Kompromiss geben wird, mit dem beide Seiten leben müssen.
Mit einem Waffenstillstand beim jetzigen Stand würde der Westen Russland doch eine Ruhepause verschaffen. Die könnte der Kreml nutzen, um sich für den nächsten Angriff zu rüsten – möglicherweise sogar auf einen Nato-Staat.
Ein Angriff auf einen Nato-Staat wäre vollkommener Wahnsinn, einen solchen Krieg könnte Russland nicht gewinnen. Der Bündnisfall würde unweigerlich eintreten, die USA müssten in den Konflikt eingreifen, selbst Donald Trump müsste das tun. Wer Putin schwächen will, muss darauf vertrauen, dass sich die Verhältnisse in Russland selbst verändern. Das aber wird durch die Steigerung äußeren Drucks wohl nicht gelingen.
Eine russische Kriegsniederlage könnte aber doch zu Veränderungen führen, womöglich sogar einem Kollaps des Regimes.
Möglicherweise, aber wer hat sich über die möglichen Folgen eines solchen Kollapses Gedanken gemacht? Welches Interesse könnten die Europäer an einer Destabilisierung oder dem Zerfall Russlands haben? Es kommt darauf an, nach dem Ende des Krieges eine Friedensordnung zu schaffen, die Russland integriert, bindet, abhängig von Zwängen macht, die einen weiteren Krieg unwahrscheinlich werden lassen. Das ist im Interesse Europas, so wie es im Interesse Europas war, Deutschland nach 1945 in eine Sicherheitsarchitektur einzubinden, von der alle einen Gewinn hatten. Die Entspannungspolitik Willy Brandts war richtig, ganz gleich, was geschichtsvergessene Politiker darüber heute sagen. Hätte es sie nicht gegeben, man müsste sie jetzt neu erfinden.
Putin bereitet sich doch längst auf einen langen Krieg vor. Oder wie interpretieren Sie die Umbesetzungen im Regierungsapparat nach der Scheinwahl im Februar?
Putin hat die Gewichte von der Strategie auf die Ökonomie des Krieges verlagert. Er stützt sich auf Technokraten, die wissen, wie man eine Kriegswirtschaft organisiert. Denn der Blitzkrieg ist gescheitert. Für den Zermürbungskrieg aber ist eine gut funktionierende Kriegswirtschaft unerlässlich. Putin braucht aber auch Sündenböcke für das Versagen in der Vergangenheit, etwa Verteidigungsminister Schoigu und andere Generäle, die nun beschuldigt werden, sich bereichert zu haben. Dieses Rollenspiel ist bekannt: die Verwaltung versagt, und so beschuldigt man einflussreiche Männer aus dem Apparat, bestechlich zu sein. Jeder weiß, dass alle korrupt sind, aber es gefällt den Ohnmächtigen, wenn einer der Mächtigen öffentlich gedemütigt und zu Fall gebracht wird.
Muss Putin nicht fürchten, dass das Versagen auch ihm selbst anhaftet?
Nein. Denn er kann das Versagen anderen zuschreiben und selbst in der Rolle desjenigen bleiben, den man nicht täuschen kann, der souverän auf der Klaviatur der Ämterpatronage spielt. Wenn sich dann noch militärische Erfolge einstellen, kann er sagen: Seht her, was alles gelingt, wenn man es richtig macht.
Von Erfolgen ist nicht viel zu sehen. Wie lange kann Russland den Zermürbungskrieg noch durchstehen?
Es kommt darauf an, wie man Erfolge definiert. Russlands Streitkräfte rücken sehr langsam vor. Ihr Ziel ist es, die Ressourcen des Gegners zu erschöpfen und ihn auf diese Weise zu zermürben. Die Produktion der Rüstungsindustrie läuft auf Hochtouren. Russland stellt Artilleriegranaten in einem Umfang her, den wir uns kaum vorstellen können. Die hohen Verluste an Soldaten und Material spielen in Putins zynischem Kalkül keine Rolle, solange die Ukrainer die gleichen Verluste verzeichnen. Irgendwann wird sich hoffentlich die Einsicht durchsetzen, dass es besser ist, einen Kompromissfrieden zu schließen als einen Krieg fortzusetzen, den man nicht gewinnen kann. Der Krieg ist ein Zerstörer, der die Menschen vereinzelt und seelisch zerstört. Erst der Frieden öffnet den Raum für all jene Veränderungen, die man im Krieg nicht haben kann. Allein das ist Grund genug, um alles zu tun, damit dieser Krieg im Osten Europas endlich ein Ende findet.
Professor Baberowski, vielen Dank für das Gespräch.
- Persönliches Gespräch mit Jörg Baberowski via Videokonferenz