Die subjektive Sicht des Autors auf das Thema. Niemand muss diese Meinung übernehmen, aber sie kann zum Nachdenken anregen.
Was Meinungen von Nachrichten unterscheidet.Tagesanbruch Das war ein großer Fehler
Guten Morgen, liebe Leserin, lieber Leser,
selbst schöne Anlässe können sich als Herausforderung entpuppen. Ein runder Geburtstag zum Beispiel. Wie gratuliert man einem Menschen, der jahrelang schwierige Entscheidungen getroffen hat, der dabei mal eine glückliche Hand besaß und mal kräftig danebenlag? Wie würdigt man so eine Person, wenn sie noch dazu weltberühmt ist und man ihr zwar mehrfach zum Gespräch gegenübersaß, aber nicht von sich behaupten kann, sie wirklich zu kennen, also abseits der öffentlichen Person?
Angela Merkel wird an diesem sonnigen Mittwoch 70 Jahre alt, und die Aufmerksamkeit in Politik und Medien ist groß. Kein Online-Portal, kein Radio- und kein Fernsehsender, die heute ohne Würdigung auskommen; kein Spitzenpolitiker, der sich nicht zum Gratulieren bemüßigt fühlt. So auch Olaf Scholz, der mir gestern folgende Sätze für seine Vorgängerin mit auf den Weg gab: "Ich wünsche Angela Merkel einen schönen Geburtstag. Sie kann auf eine beeindruckende politische Laufbahn zurückblicken. Sie begann furios mit dem Gewinn der Demokratie in Ostdeutschland und der deutschen Einheit, was mich bis heute sehr bewegt."
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Scholz erzählte, dass er sich regelmäßig mit Merkel austauscht. Wenn man ihm zuhört, kann man den Eindruck gewinnen, dass er sie heute mehr schätzt als früher, die Frau, die vor ihm in dem riesigen Büro im siebten Stock des Kanzleramts saß. Vielleicht, weil er jetzt auch die enorme Bürde des Amtes kennt und nachempfinden kann, was es bedeutet, Tag und Nacht für die Geschicke Deutschlands verantwortlich zu sein.
Leicht gemacht hat es sich Angela Merkel in ihrer 16-jährigen Kanzlerschaft jedenfalls nie. Es waren ja nicht nur Berge von Akten, viele durchwachte Verhandlungsnächte, Marotten anderer Politiker im In- und Ausland, ungezählte Termine und Reisen und vor allem zahlreiche Krisen, mit denen sie konfrontiert war. Sie hat sich in all den Jahren auch stets zusammengerissen. Haltung bewahrt. Integrität bewiesen. Kompromisse mit Betonköpfen geschmiedet, ihre Ideen verfolgt, ohne sich selbst zu wichtig zu nehmen – und dabei sogar noch Humor gezeigt. Von ihren Imitationen anderer Regierungschefs erzählt man sich im Berliner Regierungsviertel noch heute; vor allem den eitlen Nicolas Sarkozy vermochte sie treffend zu parodieren. Aber diese Seite zeigte sie nur Vertrauten, vielen anderen galt sie als scheu und bis zur Selbstverleugnung kontrolliert.
Nicht bei allen Bürgern kam sie an, ihre Mischung aus Pragmatismus und Ambition. Und wenn Merkel am 26. November ihre Autobiografie veröffentlicht, wird sie sich nicht nur dem Urteil der Medien und der Historiker stellen müssen, sondern auch der Meinung von Millionen Bürgern, die sich ihr eigenes Bild von der Dauerkanzlerin gemacht haben.
Auf der einen Seite der Waagschale liegen ihre unbestreitbaren Leistungen: Sie hat entscheidend dazu beigetragen, die Weltfinanzkrise zu bewältigen, den Euro zu retten und die EU zusammenzuhalten. Wäre das schiefgegangen, wäre der deutsche Wohlstand den Bach runtergegangen. Sie hat Trumps erste wilde Präsidentschaft ausgesessen und verhindert, dass der Wüterich Deutschland noch schlimmer schadete. Vielleicht hat sie durch ihre Autorität auch Putin davon abgehalten, in der Ukraine noch früher zuzuschlagen. Schlussendlich hat sie die Corona-Pandemie trotz einiger Fehler ziemlich gut gemanagt.
Auf der anderen Seite liegen die Fehlentscheidungen und Versäumnisse: Die Abschaffung der Kernkraft und die Verlotterung der Bundeswehr, das sorglose Vertrauen in Putin und die Abhängigkeit von russischem Gas und Öl. Der verbummelte Klimaschutz und die vertrödelte Digitalisierung. Die Vernachlässigung von Straßen, Bahnstrecken und Energienetzen, was das Land nun teuer zu stehen kommt. Und, vielleicht am wichtigsten, die von vielen Bürgern als fahrlässig empfundene Entscheidung, nach der Aufnahme der syrischen Kriegsflüchtlinge 2015 die deutschen Grenzen auch weiterhin geöffnet zu lassen. So gelangten Hunderttausende Zuwanderer aus Afghanistan, dem Irak und Nordafrika auf der Suche nach einem besseren Leben ins Land. Die ungeregelte Migration und einzelne Gewalttaten von Eingewanderten begünstigten nicht nur den Aufstieg der Hasspartei AfD, sondern entfremdeten auch viele Bürger von der Politik. "Merkel konnte blitzschnell auf umwälzende Ereignisse reagieren und die Dinge auf den Kopf stellen. Beides war ihre Stärke und ihre Schwäche zugleich", schreibt unser Kolumnist Gerhard Spörl in seiner Würdigung.
Was wiegt schwerer, die Errungenschaften oder die Fehler? Das Urteil möchte ich Ihnen selbst überlassen, liebe Leserin und lieber Leser. Nur so viel gebe ich noch zu bedenken: In einer Demokratie ist eine Regierungschefin stets angewiesen auf gesellschaftliche Mehrheiten, sie wird getragen von kollektiven Stimmungen, Meinungen und Wünschen, ihre Handlungen sind auch das Produkt ihrer Zeit. Wer Frau Merkel heute ihre Fehler vorhält, sollte sich daran erinnern, wie das Land damals tickte. Und darf sich außerdem leise fragen, ob er selbst damals besser Bescheid gewusst, anders entschieden hätte. Falls die Antwort kein klares Ja ist, darf man mit einer 70-jährigen Jubilarin heute Nachsicht walten lassen.
In diesem Sinne: Herzlichen Glückwunsch, Angela Merkel!
Riskanter Kassenplan
23 Treffen und 80 Stunden Verhandlungen im Kanzleramt waren nötig, bis sich Olaf Scholz, Robert Habeck und Christian Lindner endlich auf den Haushalt für 2025 einigen konnten. Heute soll der Etat in Höhe von 481 Milliarden Euro mit einer Neuverschuldung von 44 Milliarden Euro vom Kabinett beschlossen werden – ebenso wie ein Nachtragshaushalt für dieses Jahr und eine Konjunkturinitiative. Ab Mitte September befasst sich dann der Bundestag mit dem Entwurf, bis Dezember soll er unter Dach und Fach sein.
Dass das nun alles reibungslos abläuft, ist so wahrscheinlich wie eine Woche ohne Ampelstreit. Denn das Zahlenwerk verlangt nicht nur empfindliche Einsparungen von einigen Ressorts, es steht auch auf wackligen Beinen: Da ist etwa die "globale Minderausgabe", mit der die Regierung darauf wettet, dass die Ministerien unterm Strich schon nicht ihr gesamtes eingeplantes Geld ausgeben werden. Dieses Mal ist die eingepreiste Lücke mit 17 Milliarden Euro besonders hoch und soll deshalb noch um 8 Milliarden verkleinert werden. Wie das gelingen soll, erklärt Finanzminister Christian Lindner im Interview mit meinem Kollegen Florian Schmidt.
Majestätische Demokraten
Zu den liebenswerten Schrullen der Briten gehört die pompöse Parlamentseröffnung. Heute ist es wieder so weit: König Charles III. wird sich in einer vergoldeten Kutsche und in Begleitung von berittenen Gardisten vom Buckingham Palace zum House of Lords begeben, um im Hermelinmantel und mit der Imperial State Crown auf dem Haupt die King's Speech zu verlesen, in diesem Fall die Regierungserklärung des neuen Premierministers Keir Starmer. Erwartet wird, dass die Labour-Regierung, die nach 14 Jahren in der Opposition wieder am Ruder ist, ein ganzes Feuerwerk an Gesetzesinitiativen verkünden lässt. Mehr als 35 Entwürfe sind in Vorbereitung, wobei im Zentrum die Bemühungen stehen, das Wirtschaftswachstum in Schwung zu bringen. So sollen schnellere Planfeststellungsverfahren den Wohnungsbau ankurbeln. Außerdem stehen die Abgabe von Kompetenzen an die englischen Regionen und eine Reform der Strafjustiz auf der Prioritätenliste. Klingt ähnlich dynamisch wie hierzulande.
Ohrenschmaus
Seit Jahren frage ich mich, was eigentlich aus Manu Chao geworden ist. Schließlich schreibt kaum jemand so mitreißende Melodien wie er.
Lesetipps
Donald Trump will zurück an die Macht – und ist auf Rache aus: Die amerikanische Demokratie ist in höchster Gefahr, warnt der Historiker Timothy Snyder im Gespräch mit meinem Kollegen Marc von Lüpke.
Ursula von der Leyen legt den Querschläger Viktor Orbán an die Kette. Gut so – aber das Problem ist damit nicht gelöst, schreibt unser Politikchef Christoph Schwennicke.
Innenministerin Nancy Faeser hat das rechtsextreme "Compact"-Magazin verboten. Mein Kollege Julius Zielezinski zeigt Ihnen, wer hinter dem Kampfblatt steckt.
Zum Schluss
Verbote können Folgen haben.
Ich wünsche Ihnen einen fröhlichen Tag.
Herzliche Grüße
Ihr
Florian Harms
Chefredakteur t-online
E-Mail: t-online-newsletter@stroeer.de
Mit Material von dpa.
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