Die subjektive Sicht des Autors auf das Thema. Niemand muss diese Meinung übernehmen, aber sie kann zum Nachdenken anregen.
Was Meinungen von Nachrichten unterscheidet.Altkanzlerin wird 70 Eine Schwäche veränderte das Land
Sie war die Frau aus dem Osten, der niemand viel zutraute. Ein Fehler, der ihr 16 Jahre Kanzlerschaft erlaubte. Merkel konnte zuschauen, aber auch handeln. Nur die Doppelstrategie war ihr fremd.
Als sie noch diese junge Frau aus dem Osten war, da fielen ihre großen Augen auf, mit denen sie wach, neugierig und immer leicht amüsiert die Welt und die Menschen betrachtete. Auch der Mund neigte sich ein bisschen belustigt, als wäre sie über das Getümmel um sie herum bass erstaunt.
Kurz vorher war sie noch Tag für Tag mit der S-Bahn an der Mauer entlang früh gegen 6 Uhr in ihr Institut gefahren. Ein monotones, berechenbares, langweiliges Leben an einem sicheren Ort, abgeschottet von der "Diktatur des Proletariats". Jetzt aber ließ sie die Wissenschaft hinter sich, als hätte sie das immer im Sinn gehabt, und stürzte sich in die Politik.
Ehe diese Dr. Angela Merkel, Pfarrerstochter aus Templin, geboren in Hamburg am 17. Juli 1954, zahlreiche Parteifreunde aus dem Westen beiseite räumte, kaltblütig und machthungrig, hatte sie einige wichtige Förderer. Rainer Eppelmann, der mutige Pfarrer und Mitbegründer des "Demokratischen Aufbruchs", war der erste Mentor. Er empfahl sie Lothar de Maizière, dem letzten DDR-Ministerpräsidenten, der sie wiederum Helmut Kohl ans Herz legte.
Kein Kanzler konnte sein Ich bewahren
Keiner von ihnen hielt es für möglich, dass sie Kanzlerin werden könnte. Frau! Aus dem Osten! Kohls Mädchen! Unterschätzung kann ein brauchbarer Weg zur Macht sein.
Der Rest ist Geschichte. Die mutige, witzige, forsche junge Frau verschwand hinter einer Maske. Die Hände formten sich zur Raute, einer Geste, die ihr Ruhe gab, ihr Inneres ordnete. Der Körper versteckte sich in ihrer Uniform, Jackett plus Hose. Die Worte verriegelte sie in Vorsicht.
Noch jedem Kanzler ist es so ergangen, dass die Macht ihren menschlichen Preis einforderte. Jeder von ihnen liebte es, die Nummer Eins im Staate zu sein, und jeder mochte sich vornehmen, dass er sich auch im hohen Staatsamt sein Ich bewahren würde. Keinem von ihnen ist es gelungen.
Merkels besondere Gabe: Andere Staatsführer imitieren
Immerhin erhielt sich Angela Merkel ihr ursprüngliches Ich im vertrauten Kreis, wie der berühmte Schauspieler Ulrich Matthes in einer fünfteiligen Dokumentation über Angela Merkel erzählt. Dann habe sie zum Beispiel andere Staatenführer imitiert, offenkundig eine besondere Gabe. Nicolas Sarkozy ahmte sie wohl besonders treffend nach. Dieser französische Präsident war ja auch der ultimative Macho, eine Spezies, auf die sie immer und überall traf. Wenn Angela Merkel sich sicher fühlte, durfte sie sein, wie sie war.
70 wird sie heute. Glückwunsch, Altkanzlerin! Seit knapp drei Jahren ist sie im Ruhestand. Sollte Olaf Scholz bis zur nächsten Bundestagswahl durchhalten, wird er genauso alt sein wie sie bei ihrem Rücktritt nach 16 Jahren Kanzlerschaft.
Zur Person
Gerhard Spörl interessiert sich seit jeher für weltpolitische Ereignisse und Veränderungen, die natürlich auch Deutschlands Rolle im internationalen Gefüge berühren. Er arbeitete in leitenden Positionen in der "Zeit" und im "Spiegel", war zwischendurch Korrespondent in den USA und schreibt heute Bücher, am liebsten über historische Themen.
Angela Merkel ist Geschichte. Wir können sie jetzt unter die Lupe nehmen. Sie kann sich nicht wehren. Wir können barmherzig mit ihr umgehen oder unbarmherzig.
Sie wetterten aus allen Richtungen gegen Merkel
Ich habe mich immer gewundert, wie sehr die Kanzlerin moderat temperierte Gemüter in Wallung versetzen konnte. Ansonsten differenzierte Menschen ließen nicht erst 2015 kein gutes Haar an ihr. Sie wetterten gegen sie, erklärten sie zur Versagerin auf ganzer Linie und begruben sie unter wilden Adjektiven. Es war ziemlich egal, ob diese Unbarmherzigen eher liberal waren oder eher links standen. Die Wut, der Zorn auf die Kanzlerin fiel bemerkenswert tiefenscharf aus.
Natürlich kann man ihr im Nachhinein anlasten, dass sie einseitig auf Russland als Energielieferanten setzte. Dabei gerät allerdings in Vergessenheit, dass viele Vorgänger seit dem Kalten Krieg in den 1970er-Jahren das Land mit billigem Öl und Gas versorgten. Unser Wohlstand hing ja auch davon ab, wie denn auch nicht. Was hätten Industrie und Wirtschaft aufgeheult, wenn die Kanzlerin Nord Stream 2 nicht zugestimmt hätte? CDU und CSU hätten sie dafür gesteinigt.
Heute wissen wir auch, dass es keine gute Idee war, die Wehrpflicht so mir nichts, dir nichts auszusetzen. Sogar die rasche Abwicklung der Kernkraft war übereilt, weil die Eindimensionalität der Energievorsorge unbedacht blieb. Und wir kennen Wladimir Putin, dem sie mehr als andere misstraute, nun besser, da er die Ukraine überfallen ließ.
Seltsame Kombination aus zähem Pragmatismus und spontihafter Abruptheit
Geschichte, die gerade vergangen ist, wird kaum gerecht beurteilt. Angela Merkel wird am Wissen von heute gemessen. Wer vom Rathaus kommt, ist klüger als zuvor. Darüber kann sich die Altkanzlerin nicht beschweren. So ist Politik eben, keine rationale Wissenschaft, eher die schnöde Kunst, recht zu behalten, vor allem hinterher.
Seltsam mutet im Rückblick diese Kombination aus zähem Pragmatismus und spontihafter Abruptheit an, die sie auszeichnete. Sie konnte lange zuschauen und Dinge, die zur Entscheidung anstanden, sich entwickeln lassen. Sie konnte aber auch blitzschnell auf umwälzende Ereignisse reagieren und die Dinge auf den Kopf stellen. Beides war ihre Stärke und ihre Schwäche zugleich.
Mir hat ein Konstruktionsfehler ihres politischen Verhaltens missfallen. Als Physikerin betrachtete sie sich entfaltende Ereignisse wie im Lichte einer Versuchsanordnung. Dafür gab es Hypothesen und Vermutungen. Entwickelte sich der Versuch anders als erhofft, änderte sie die Anordnung, oft eben sogar abrupt.
Die Doppelstrategie beherrschte Merkel nicht
Die wirkliche Kunst der Politik aber besteht in der Doppelstrategie. Willy Brandt verband Annäherung mit Osteuropa mit der Hoffnung auf Wandel. Helmut Schmidts Doppelbeschluss beruhte auf einem Angebot, gepaart mit einer Drohung. Helmut Kohl sicherte die Wiedervereinigung durch den Euro ab.
Angela Merkel beherrschte diese Kunst, das eine mit dem anderen zu verbinden, leider nicht. Geflüchtete ins Land zu lassen, war ein Akt der Humanität, der Deutschland Respekt und Anerkennung einbrachte. Dabei blieb sie aber stehen. Sie verknüpfte die Menschlichkeit nicht mit verschärfter staatlicher Aufsicht, wer da kommt und wie das Land vor den Gefahren der Immigration geschützt werden kann. Und deshalb förderte sie unwillentlich den rechten Rand der CDU/CSU. So konnte aus der insularen Professoren-Partei AfD eine rechte Massenpartei mit antidemokratischer Gesinnung entstehen.
Im Übrigen schaue ich eher barmherzig auf Angela Merkel. Die Weltfinanzkrise 2007/2008 mit ihren Auswirkungen auf Europa meisterte sie vorbildlich. In der Pandemie hielt sie beispielhaft einfühlsame Reden und tat das Richtige. Das Ausland beneidete uns um sie. Im Inland allerdings lag sie oft quer zu Ministerpräsidenten wie Armin Laschet oder Markus Söder, die Eigeninteressen verfolgten. Und am Ende war Angela Merkel nicht mehr tatkräftig genug, um sich durchzusetzen.
Heute wird sie 70. Das ist nicht besonders alt, aber doch ein Vorbote der Endlichkeit des Daseins, ein Gedanke, der ihr als Pfarrerstochter vertraut ist. Wir sollten ihr wünschen, dass sie heiter und ausgelassen mit Freunden feiert – mit ihrem alten Ich, das sie nun nicht mehr verbergen muss.
- Eigene Überlegungen