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Joe Biden klammert an sein Amt: Eine Person könnte ihn zur Vernunft bringen


Tagesanbruch
Bidens Sturheit hat einen Grund

MeinungVon Florian Harms

Aktualisiert am 10.07.2024Lesedauer: 8 Min.
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Präsident Biden im Gespräch mit seiner Vize Kamala Harris.Vergrößern des Bildes
Präsident Biden im Gespräch mit seiner Vize Kamala Harris. (Quelle: Elizabeth Frantz/REUTERS)

Guten … äh … ja … hallo alle, wie geht's? … Guten … äh …

… also, schön, euch hier zu haben. Olaf, ich sehe, du bist da. Manuel, hallo! Hey Dings, wie geht's? Gut, dass ihr alle hier seid. Ich bin auch hier. Wir alle sind hier, das ist gut. Es geht um die Nato, das wisst ihr. Wir sind Partner, wir sind Alliierte, wir sind stark, und wir werden stärker! Das ist gut. Ich höre, dass Deutschland jetzt auch das Zwei-Prozent-Dings macht, das ist gut! Manuel, machst du das auch? … Wie? … Ah, ja, Emmanuel, richtig. Na, du weißt, dass ich dich meine, haha! Jedenfalls müssen wir gemeinsam noch stärker werden, um Putin in Schach zu halten. Putin ist in Moskau. Ich habe das neulich schon gesagt, als ich in Dings war, das habt ihr sicher gehört. Das war wichtig da. Wir hier in Amerika haben jetzt auch eine wichtige Wahl, das wisst ihr. Ich weiß es auch. Alle wissen es. Ich habe Donald Trump schon einmal geschlagen und ich werde ihn 2020 wieder schlagen, ja! … Wie? … Ja, genau, 2024, habe ich doch gesagt. Nur ich kann ihn besiegen, und ich bin stolz darauf, die erste schwarze Vizepräsidentin unter einem schwarzen Präsidenten gewesen zu sein! Barack war ein guter Präsident, ich war sein Vize, ich war auch gut. Das wisst ihr. Ich weiß es auch. … Wie? … Doch, doch! Alle wissen es. Jedenfalls gut, dass ihr hier seid. Es geht um die Nato, wir haben ein Treffen, das ist wichtig. Ich werde gewinnen. Wo ist der Teleprompter? Ich habe keinen Text hier, das ist nicht gut. Meine Leute haben gesagt, ich soll einfach ablesen, dann läuft alles glatt. Aber wo ist das Ding? Kann jemand dem Dings Bescheid geben, dass das Ding nicht hier ist? Wo ist der denn, vorhin war er doch noch hier? Ihr seid hier. Ich bin auch hier. Warum ist es so kalt?

Ersparen wir uns den weiteren Monolog, liebe Leserin und lieber Leser, und da es oben zu kurz kam, hier noch einmal von Herzen: einen schönen guten Morgen! Falls Sie die Zeitläufte regelmäßig verfolgen, werden Sie wohl erkannt haben, dass die oben stehenden Sätze erstens dem amtierenden amerikanischen Präsidenten in den Mund gelegt waren und sie zweitens natürlich frei erfunden sind. Das ist ein bisschen unverschämt und auch ungewöhnlich für ein journalistisches Format wie den Tagesanbruch, aber ungewöhnliche Zeiten erfordern ungewöhnliche Einfälle.

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Wer als Journalist arbeitet, unterwirft sich Regeln. Eine dieser Regeln besagt, dass man aus vertraulichen Gesprächen mit Politikern nur das aufschreiben darf, was das Gegenüber ausdrücklich freigibt. Deshalb kann man in diesen Tagen nicht rundheraus notieren, was man alles über den aktuellen Zustand von Joe Biden hört. Auf der Basis des Gehörten und Gelesenen seine eigenen Gedanken und auch ein bisschen Prosa formulieren, das darf man aber schon.

Und das ist ziemlich bestürzend. Der verkorkste Auftritt des Präsidenten in der TV-Debatte mit seinem Herausforderer Donald Trump hat einen Stöpsel gelöst. Dieser Stöpsel steckte bisher in dem Damm, den Bidens Berater um ihren Chef aufgetürmt haben: Vier Jahre lang lotsten sie den Präsidenten so geschickt durch die Fährnisse der Innen- und Außenpolitik, dass man ihm seinen fortschreitenden körperlichen Verfall nicht gleich anmerkte.

Die amtliche Hilfestellung geht weit über die üblichen Tricks im Politikbetrieb hinaus: Sprechzettel, Teleprompter und orchestrierte Pressekonferenzen gehören zum bekannten Prozedere – akribische Formulierungs-, Schlaf- und Bewegungspläne eher nicht. Tritt Biden bei einer Veranstaltung auf, fotografiert sein Team vorher den gesamten Weg zum Rednerpult, druckt die Fotos großformatig aus und erklärt dem Senior minutiös, wo er welchen Schritt zu setzen hat. Könnte sonst sein, dass er sich verläuft. Eine dieser Wegbeschreibungen ist an die Presse durchgestochen worden, wie mein Kollege Jakob Hartung berichtet. Auch bei seiner Rede zum Nato-Jubiläum vor wenigen Stunden wirkte Biden stellenweise fast verbissen konzentriert: Als er den scheidenden Generalsekretär Jens Stoltenberg für dessen Verdienste lobte und persönliche Worte sprach, starrte er in den Teleprompter, statt den Geehrten anzuschauen.

Vor vier Jahren eilte Bilden noch energiegeladen durch den Wahlkampf, nun bewegt er sich wie ein Vogel, dem die Flügel gestutzt worden sind: Ängstlich setzt der 81-Jährige einen Trippelschritt vor den anderen, stiert sekundenlang in die Ferne, als höre er dort Stimmen, verhaspelt sich beim Reden, bringt Ereignisse, Personen und Daten durcheinander. Ist es nur die Gebrechlichkeit des Alters oder ist es Parkinson? Seit bekannt geworden ist, dass ein auf die Krankheit spezialisierter Arzt in den vergangenen Monaten mehrfach im Weißen Haus gesichtet worden ist, schießen die Spekulationen ins Kraut.

Doch die genaue Diagnose ist gar nicht entscheidend. Wichtiger ist: Die Mehrzahl der Amerikaner hält diesen Greis für zu alt, um das anspruchsvollste Amt der Welt vier weitere Jahre lang zu bekleiden. "Während Trumps Partei nahezu geschlossen hinter ihrem Kandidaten steht, fordern immer mehr von Bidens Leuten ihren Chef zum Rückzug auf", berichtet unser USA-Korrespondent Bastian Brauns.

Dabei sind Bidens Verdienste unbestritten: Er hat Trumps Chaos-Präsidentschaft beendet, das Corona-Desaster bewältigt, die Wirtschaft angekurbelt, das Verhältnis zu den Europäern repariert und die Ukraine vor der vollständigen russischen Eroberung gerettet. Wenige US-Präsidenten können eine so eindrucksvolle Regierungsbilanz vorweisen.

Aber nun ist er mit seinen Kräften offensichtlich am Ende. Auch unter Anhängern der Demokraten gilt es als ausgemacht, dass Biden selbst im Falle seiner Wiederwahl den Staffelstab bald an seine Vizepräsidentin übergeben würde. Warum also tut er es nicht sofort, wo sein Umfragestern doch immer weiter sinkt, am Horizont die nächste Trump-Präsidentschaft droht, die Rebellion in seiner eigenen Partei nur noch mühsam unterdrückt werden kann und sich sogar ausländische Staatsgäste hinter vorgehaltener Hand fragen, ob es das letzte Mal ist, dass sie Biden als Präsident die Hand schütteln?

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Die Antwort auf diese Frage ist einfach, und Joe Biden hat sie keinesfalls exklusiv: Es ist der Altersstarrsinn. Viele Menschen, vorzugsweise Männer, glauben im fortgeschrittenen Alter steif und fest, sie seien schlauer als der Rest der Welt. Ich weiß es besser! Die steck’ ich in die Tasche, ha! Ganze Bücher sind über die geriatrische Selbstüberschätzung geschrieben worden, vom Alten Testament bis zu den Buddenbrooks.

Und so wie in den alten Büchern könnte der Starrsinn auch heute katastrophal enden: Sollte sich Mister Biden weitere Aussetzer im anstrengenden Wahlkampf leisten, womit selbst gut meinende Gefolgsleute rechnen, und sollte er deshalb die Wahl gegen den zwar nur drei Jahre jüngeren, aber dynamischer wirkenden Donald Trump verlieren, drohen nicht nur den USA, sondern auch uns Europäern nochmals vier Jahre politischer und wirtschaftlicher Dauerkrawall – mindestens. Verlorene Jahre, die wir uns auf dem krisengeschüttelten Planeten nicht leisten können.

So bleibt nur eine Hoffnung: Wie aus informierten Kreisen zu vernehmen ist, gibt es nur eine Person, auf die Joe Biden wirklich hört, die nicht Joe Biden heißt: seine Ehefrau Jill. Bisher zählt sie zu seinen lautesten Wahlkampf-Claqueuren. Aber auch bei ihr klopfen nun Berater und demokratische Politiker an, um ihre Sorgen auszuschütten und darum zu bitten, dass der Präsident schnellstens seiner Vize Kamala Harris die Kandidatur und die Wahlkampfspendenkasse überlässt. Bleibt zu hoffen, dass es am Ende so kommt, wie es in allen guten Büchern kommt: dass die Frau klüger ist als der Mann.


Scholz kommt groß raus

Es ist heiß hier in Washington, 36 Grad im Schatten. Als ich vor wenigen Stunden aus dem Flugzeug stieg, hieß es zur Begrüßung: Willkommen in Saudi-Arabien! Nicht nur uns Journalisten kleben die Hemden am Körper, den Delegierten aus den 32 Nato-Mitgliedsländern geht es ebenso. Polizisten haben das Zentrum der amerikanischen Hauptstadt abgeriegelt, um all die Staats- und Regierungschefs zu schützen: Hier macht bis Donnerstag niemand einen unbeobachteten Schritt. Das 75. Jubiläum der mächtigsten Militärallianz der Welt soll ohne Zwischenfälle über die Bühne gehen.

Auf dieser Bühne und vor allem in den Hinterzimmern des Walter E. Washington-Convention-Center trifft eine bemerkenswerte Politikerschar aufeinander: Viele der Herrschaften sind körperlich oder politisch angeschlagen (Biden, Macron), andere isoliert (Orbán, Erdoğan, ein bisschen auch Meloni), zwei sind neu in der Runde (Orpo aus Finnland, Kristersson aus Schweden), mehrere sind noch unerfahren (Starmer aus Großbritannien, Schoof aus den Niederlanden).

Und Olaf Scholz? Deutschen Beobachtern mag es angesichts des notorischen Ampelhickhacks seltsam erscheinen, aber hier in Washington gilt der Kanzler als Garant der Stabilität: Er ist berechenbar, er unterstützt mit großem Aufwand die angegriffene Ukraine und treibt keine Spielchen wie der Ungar Orbán. Er steckt mehr Geld in die Verteidigung als viele deutsche Regierungen zuvor. Und er redet keinen Quatsch wie die Trumps, Johnsons und Mélenchons dieser Welt, die womöglich irgendwann (wieder) ans Ruder kommen könnten.

Deshalb verwundert es nicht, dass Scholz auch schwierige Aufgaben zugetraut werden: Auf deutschen Druck hin sollen sich endlich weitere Länder bereit erklären, der Ukraine mehr Luftabwehrwaffen zu liefern. Eine vielversprechende Ankündigung gab es gleich zu Beginn des Gipfels. Wie dringend die Unterstützung gebraucht wird, hat der russische Angriff auf das Kinderkrankenhaus in Kiew gezeigt.


Malu macht es besser

Heute hat Malu Dreyer ihren letzten Arbeitstag als rheinland-pfälzische Ministerpräsidentin: Nachdem die langjährige SPD-Regierungschefin vor drei Wochen ihren Amtsverzicht angekündigt hatte, soll am Mittag im Mainzer Landtag mit den Stimmen der Ampelkoalition Sozial- und Arbeitsminister Alexander Schweitzer zu ihrem Nachfolger gewählt werden. Mit der vorzeitigen Stabübergabe folgt die Landeschefin dem Beispiel ihres ehemaligen hessischen Amtskollegen Volker Bouffier, der seinem Nachfolger Boris Rhein den Weg an die Macht ebnete. So hat Dreyer, die seit fast 30 Jahren an Multipler Sklerose leidet, nicht nur ihrer Partei einen letzten großen Dienst erwiesen. Sondern auch für sich selbst etwas erreicht, das dem US-Präsidenten nicht gelingt: das Kunststück eines souveränen, selbstbestimmten Rücktritts. Frauen sind eben klüger.


Oranje fordert die Löwen heraus

Erstmals seit 20 Jahren stehen die Niederlande wieder in einem EM-Halbfinale – und träumen schon von einer Wiederholung ihres Titeltriumphs von 1988. Legt man die bisherigen Leistungen zugrunde, hat die "Elftal" heute um 21 Uhr in Dortmund (live in der ARD und im t-online-Liveticker) tatsächlich gute Chancen: Gegner England und speziell Kapitän Harry Kane werden zu Recht wegen ihres einfallslosen Minimalisten-Fußballs kritisiert. Aber natürlich hoffen auch die "Three Lions" auf den ersten Gewinn eines großen Turniers seit der WM 1966.


Lesetipps

Ganz Europa rückt nach rechts. Nur die Briten kehren in die politische Mitte zurück. Unser Kolumnist Uwe Vorkötter weiß, warum.


Putins Regime schlägt auch im Inland zu: Nun sind zwei Theaterschaffende zu langen Haftstrafen verurteilt worden. Viele Künstler sehen in dem Urteil ein Signal, berichtet "Tagesschau.de".


Ohrenschmaus

Hier aus Washington kommt eine meiner Lieblingsbands: Ist das nicht ein toller Sound?


Zum Schluss

Sogar der mächtigste Mann der Welt steckt früher oder später in der Klemme.

Ich wünsche Ihnen einen erfrischenden Sommertag. Auf t-online erfahren Sie heute mehr über den Nato-Gipfel. Morgen kommt der Tagesanbruch von David Schafbuch.

Herzliche Grüße

Ihr

Florian Harms
Chefredakteur t-online
E-Mail: t-online-newsletter@stroeer.de

Mit Material von dpa.

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