Die subjektive Sicht des Autors auf das Thema. Niemand muss diese Meinung übernehmen, aber sie kann zum Nachdenken anregen.
Was Meinungen von Nachrichten unterscheidet.Tagesanbruch Das ist ihm wohl entgangen
Guten Morgen, liebe Leserin, lieber Leser,
ich wünsche Ihnen noch einen schönen Montag. Herzliche Grüße, Ihr Florian Wichert.
Moment. So weit sind wir ja noch gar nicht. Es ist aber auch nicht einfach, den richtigen Zeitpunkt für einen Abschied zu finden.
Sie ahnen es: Es gibt noch jemanden, der sich damit schwergetan hat. Der ist im Vergleich zu mir allerdings nicht früh dran, sondern reichlich spät: der US-amerikanische Präsident Joe Biden.
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Um 13.46 Uhr in Washington und 19.46 deutscher Zeit am gestrigen Sonntag wandte sich Biden mit einer schriftlichen Erklärung über die sozialen Netzwerke an das US-amerikanische Volk: "Es war die größte Ehre meines Lebens, Ihnen als Präsident zu dienen. Obwohl es meine Absicht war, mich um eine Wiederwahl zu bemühen, glaube ich, dass es im besten Interesse meiner Partei und des Landes ist, wenn ich mich zurückziehe und mich für den Rest meiner Amtszeit ausschließlich auf die Erfüllung meiner Pflichten als Präsident konzentriere."
Biden kündigte an, sich im Laufe der Woche an die Nation wenden zu wollen. Eine knappe halbe Stunde später versicherte er – ebenfalls über die sozialen Medien –, seine bisherige Vizepräsidentin Kamala Harris bei einer Präsidentschaftskandidatur zu unterstützen. Das bedeutet nicht automatisch, dass sie es wird, steigert aber ihre Chancen.
Die Nachricht von Bidens Rückzug kam für viele einer Erlösung gleich.
Es war schlimm, anzusehen, wie er vor den Augen der Weltöffentlichkeit Tag für Tag demontiert wurde – oder sich selbst demontierte. Sein geistiger und gesundheitlicher Zustand hatte sich zuletzt so rapide verschlechtert, dass selbst enge Unterstützer ihm den Rückzug aus dem Rennen um eine erneute Präsidentschaft nahelegten und von ihm abrückten.
Kein Wunder: Fast jeden Tag tauchten neue Kurzvideos oder Beschreibungen auf, die Biden als alten, senilen Mann darstellten, der selbst enge Vertraute nicht mehr erkennt, Namen und Zusammenhänge durcheinanderbringt. Der nicht nur den Eindruck erweckt, eine neue Amtszeit gar nicht mehr zu überstehen – sondern auch deutliche Zweifel daran aufkommen lässt, ob er die aktuelle noch durchsteht.
Keine Frage: Es zeugt von menschlicher Größe, nun eine Entscheidung dieser Tragweite zu treffen und sich drei Monate vor den Wahlen aus diesem Rennen zu verabschieden, wie mein Kollege Bastian Brauns kommentiert. "Mit diesem Schritt lässt der 81-jährige Biden seinen 78-jährigen Gegner Donald Trump jetzt ziemlich alt aussehen. Plötzlich ist Trump der älteste Nominierte in der Geschichte der USA", schreibt Bastian und sieht eine "Jahrhundert-Chance" für die Demokraten.
Aber: Biden blieb letztlich auch keine andere Wahl, weil er politisch nahezu isoliert war.
Wann ist der richtige Zeitpunkt, aufzuhören? Optimalerweise sollte Schluss sein, wenn man seine Ziele erreicht hat. Aber wann hat man das schon? Zumal es immer wieder neue gibt. Es geht also eher darum, einen Skandal zu vermeiden. Um einen geregelten Übergang zu ermöglichen oder die Nachfolge zu gestalten, bevor der Einfluss verloren geht. Letzteres versucht Biden nun noch kurzfristig mit seiner Unterstützung für Harris. Eklats konnte er allerdings nicht ganz vermeiden, etwa als er den ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj als russischen Präsidenten Putin ankündigte – ausgerechnet als den Aggressor und Feind. Wenn auch aus Versehen.
Ein würdiger und selbstbestimmter Abschied ist etwas Außergewöhnliches – in der Politik noch viel mehr als in anderen Branchen. George Washington beendete seine politische Karriere nach seiner zweiten Amtszeit als erster Präsident der Vereinigten Staaten 1797, obwohl er damals noch eine dritte hätte anstreben können und sich großer Beliebtheit erfreute. Er war allerdings gesundheitlich schwer angeschlagen. Nelson Mandela beendete seine Amtszeit als erster schwarzer Präsident Südafrikas 1999 dagegen im Vollbesitz seiner Kräfte und aus freien Stücken. In der Regel aber ist die Macht zu verlockend, um früh- oder zumindest rechtzeitig aus einem Amt zu scheiden.
Dagegen gibt es unzählige Spitzenpolitiker, die diesen Zeitpunkt verpasst oder Fehler gemacht haben: Richard Nixon trat 1974 als erster US-Präsident zurück, um einem drohenden Amtsenthebungsverfahren wegen des Watergate-Skandals zu entgehen. Margaret Thatcher führte das Vereinigte Königreich als erste Premierministerin durch umfassende Wirtschaftsreformen, verlor aber dann den Rückhalt ihrer Partei und musste 1990 zurücktreten.
Helmut Kohl wurde als "Kanzler der Einheit" vom CDU-Spendenskandal eingeholt, Gerhard Schröder verlor erst die Bundestagswahl 2005 und redete sich anschließend im TV um Kopf und Kragen. Ganz zu schweigen von allem, was danach folgte.
In welche Kategorie fällt Biden? Hat er "seinen Fehler, erneut zu kandidieren, spät, aber nicht zu spät korrigiert", wie CDU-Außenpolitiker Norbert Röttgen auf der Plattform X schrieb?
Zweifellos ist es nur schwer möglich, nach 50 Jahren in der Politik den perfekten Zeitpunkt für einen Rückzug zu finden. Gerade, wenn die Fähigkeiten schneller schwinden, als einem lieb ist. Der 81-Jährige allerdings hat nicht nur eine, sondern unzählige Chancen verstreichen lassen, und diesen Abschied vermasselt wie kaum jemand vor ihm. Streng genommen Woche für Woche aufs Neue seit der Bekanntgabe seiner erneuten Kandidatur. Bis gestern.
Biden hätte seine Vizepräsidentin Harris schon viel früher in Stellung bringen können, statt sie in seinem Schatten verkümmern zu lassen. Er hätte seine verbliebene Kraft schon seit Monaten in die Politik stecken können, statt in aussichtslose TV-Debatten oder Wahlkampfveranstaltungen. Er hätte gute Entscheidungen für den Fortbestand der Demokratie treffen können. Um erhobenen Hauptes als der älteste Präsident der US-amerikanischen Geschichte aus dem Weißen Haus gehen zu können, der seine Gesundheit und seinen Lebensabend geopfert hat – für die USA und die Demokratie.
Biden sagt in seiner Erklärung zum Rückzug seiner Kandidatur: "Zusammen haben wir eine Jahrhundert-Pandemie und die schlimmste Wirtschaftskrise seit der Großen Depression überwunden. Wir haben unsere Demokratie geschützt und erhalten. Und wir haben unsere Bündnisse rund um die Welt neu belebt und gestärkt." Tatsächlich hat er das Land zurückgebracht in das Pariser Klimaabkommen und die Weltgesundheitsorganisation.
Hätte Biden früher erkannt, dass es Zeit ist zu gehen, hätte er das Weiße Haus womöglich als Held verlassen können. Aber das ist ihm wohl entgangen.
Die Alternativlosigkeit seiner Entscheidung und der Druck aus der eigenen Partei nehmen der Entscheidung nicht die menschliche Größe, aber doch das Heldenhafte. Immerhin können die Demokraten so noch versuchen, ein besonders tragisches Ende der politischen Karriere Bidens als Wegbereiter eines Autokraten abzuwenden. Harris kann versuchen, als erste Frau das Präsidentenamt in den USA zu übernehmen. Ihre Ambitionen untermauerte sie bereits mit einer Kampfansage. Und unser Kolumnist Gerhard Spörl erklärt, was jetzt auf sie zukommt und wie ihre Chancen stehen.
Und Biden kann versuchen, die Verbitterung ob der schwindenden Unterstützung von Wegbegleitern wie Barack Obama und Nancy Pelosi zu überwinden. Womöglich helfen dabei die versöhnlichen Worte, die beide wählten. Pelosi nannte Biden "einen der wichtigsten Präsidenten der amerikanischen Geschichte", Obama würdigte ihn als "Patrioten ersten Ranges".
Über das Vermächtnis von Biden entscheiden also nun andere als der 81-Jährige: Die Demokraten, nicht nur mit netten Worten, sondern auch mit ihrer Entscheidung, wer gegen Trump antritt. Und das amerikanische Volk bei den Präsidentschaftswahlen im November. Wie es jetzt weitergehen könnte, erklären mein Kollege Bastian Brauns anhand eines Notfall-Memos – und meine Kollegin Camilla Kohrs mit Fragen und Antworten.
So, das war's mit Biden und dem Thema US-Wahlkampf. Ich wünsche Ihnen noch einen angenehmen … Ähm. Nein, wieder falsch. Bevor ich mich verabschiede, lesen Sie doch bitte noch die folgenden Themen.
Nach der EM ist vor den Olympischen Spielen
Heute Abend um 18.30 Uhr beginnt die 142. Generalversammlung des Internationalen Olympischen Komitees (IOC) in Paris. Im Privatmuseum der Stiftung Louis Vuitton kommen die IOC-Mitglieder um Präsident Thomas Bach für die traditionelle Zeremonie vor Olympia-Beginn zusammen. In den nächsten Tagen sollen dann unter anderem die Gastgeber der Winterspiele 2030 und 2034 gewählt werden, bevor am Freitag die Sommerspiele in der französischen Hauptstadt eröffnet werden. Nach der Fußball-EM in Deutschland ist vor den Olympischen Spielen in Frankreich.
Heil bei der Nasa
Die Bundesregierung beobachtet das Geschehen in den USA sehr genau – und setzt sich mit den möglichen Folgen des Rückzugs von Joe Biden für die Wahl und für Deutschland auseinander. Bundesarbeitsminister Hubertus Heil macht das derzeit sogar vor Ort in Washington. Der ARD sagte er am späten Abend: "Ich saß heute Nachmittag mit Wahlkampfstrategen der Demokraten zusammen, als die Nachricht von Joe Bidens Verzicht kam. Alle waren sich einig, jetzt Kamala Harris unterstützen zu wollen. Ich drücke den Demokraten alle Daumen." Im Zuge seiner dreitägigen Reise besucht Heil in den kommenden Stunden die US-Weltraumbehörde Nasa – und setzt sich ansonsten mit den Chancen auseinander, die Künstliche Intelligenz für den Arbeitsmarkt mit sich bringt.
Kampf gegen Aids
Jede Minute stirbt weltweit ein Mensch an den Folgen von Aids. Auch wenn es große Erfolge im Kampf gegen die Immunschwäche-Krankheit gibt, ist sie nicht gebannt. Um potenzielle neue Ansätze geht es von diesem Montag an bei der 25. Welt-Aids-Konferenz in München. "Aids 2024" wolle politische, wissenschaftliche und gesellschaftliche Kräfte mobilisieren, um mit HIV lebenden Menschen weltweit eine Therapie zu ermöglichen, sagt der Kongresspräsident Christoph Spinner aus München. Zur Eröffnung will Bundeskanzler Olaf Scholz sprechen.
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Teenager fallen in Ohnmacht, erwachsene Menschen geben ein halbes Vermögen für ein Ticket aus, Politiker, Sportler, Promis fluten mit ihren Konzertbildern die sozialen Medien. Wie Taylor Swift zum größten Pop-Phänomen der Welt aufsteigen konnte, wie groß ihr Vermögen ist und warum Donald Trump sich vor der Rückkehr ihrer Tour in die USA sorgen muss, erklärt mein Kollege Steven Sowa.
Berlins Regierender Bürgermeister Kai Wegner schlägt Alarm und sagt: "In allen Ländern und Kommunen geht langsam das Licht aus." Was er damit meint und wie sein Verbesserungsvorschlag aussieht, hat er Pascal Biedenweg und Florian Harms erklärt.
Er ist ein echter Spätstarter, aber: Mit 31 Jahren ist Niclas Füllkrug nicht nur der torgefährlichste deutsche Nationalspieler, sondern auch einer der beliebtesten. Warum er jetzt trotzdem die Flucht aus Deutschland antreten könnte und was mein Kollege Robert Hiersemann und ich davon halten, lesen Sie hier.
Ohrenschmaus
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Zum Schluss
Die Hochburgen unter den Urlaubszielen versuchen, sich vor dem Touristenansturm zu schützen – aber die Urlauber sind mit allen Wassern gewaschen.
Jetzt aber: Ich wünsche Ihnen einen schönen Montag und damit einen angenehmen Start in die Woche. Morgen schreibt Steven Sowa den Tagesanbruch für Sie.
Herzliche Grüße
Ihr
Florian Wichert
Stellvertretender Chefredakteur
E-Mail: t-online-newsletter@stroeer.de
Mit Material von dpa.
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