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Labour-Sieg: Ende der Brexit-Ära in UK?


Meinung
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Briten wenden sich ab
Sie haben eine Epoche beendet

  • Uwe Vorkötter
MeinungEine Kolumne von Uwe Vorkötter

Aktualisiert am 09.07.2024Lesedauer: 5 Min.
Keir StarmerVergrößern des Bildes
Labour-Chef Keir Starmer (l.) ist der neue Premier auf der Insel und übernimmt von Rishi Sunak. (Quelle: Phil Noble/PA Wire/dpa/dpa-bilder)

Ganz Europa rückt nach rechts. Ganz Europa? Nein! Eine von unberechenbaren Monarchisten bevölkerte Insel kehrt scheinbar reumütig in die politische Mitte zurück.

Es ging alles ganz schnell. Kaum waren am späten Donnerstagabend die Wahllokale in Großbritannien geschlossen, stand das Ergebnis fest. Am Freitag sagte Rishi Sunak: "I’m sorry." Und war weg. Schon zeigte das Fernsehen seinen Nachfolger Keir Starmer im Buckingham Palace bei King Charles. Und vor 10 Downing Street versammelten sich Dutzende Kamerateams, die Angestellten der Regierung standen Spalier, um ihren neuen Chef in seinem neuen Zuhause in Empfang zu nehmen. Man kann nur hoffen, dass wenigstens Zeit genug war, die Bettwäsche für die Starmers zu wechseln.

Bei uns dauern Koalitionsverhandlungen wochen- oder monatelang, in Amerika ermunterte Donald Trump seine Leute zum Sturm auf das Kapitol, bevor er widerwillig das Weiße Haus räumte. Und in London: Hopplahopp, innerhalb von Stunden fällt die 14-jährige Tory-Herrschaft in sich zusammen, Labour übernimmt die Geschäfte. Bemerkenswert, dieser demokratische Pragmatismus. Aber der unspektakuläre Ablauf der Ereignisse täuscht: Die Briten haben nicht einfach eine andere Regierung gewählt. Sie haben eine Epoche beendet.

Die Epoche des Brexits hat das Land gespalten und Europa an den Rand der Verzweiflung gebracht. Ein Jahrzehnt lang ging es um "Leave or Stay", ums Rausgehen oder vielleicht doch Drinbleiben, um die Frage, wie man überhaupt rauskommt aus diesem dichten Geflecht aus Verträgen und Vorschriften, Prinzipien und Details. Und um die Folgen des Brexits für den Alltag der Menschen auf der Insel.

Uwe Vorkötter
(Quelle: Reinaldo Coddou H.)

Zur Person

Uwe Vorkötter gehört zu den erfahrensten Journalisten der Republik. Seit vier Jahrzehnten analysiert er Politik, Wirtschaft und Gesellschaft, er hat schon die Bundeskanzler Schmidt und Kohl aus der Nähe beobachtet. Als Chefredakteur leitete er die Stuttgarter Zeitung, die Berliner Zeitung und die Frankfurter Rundschau. Er ist Herausgeber von Horizont, einem Fachmedium für die Kommunikationsbranche. Nach Stationen in Brüssel, Berlin und Frankfurt lebt Vorkötter wieder in Stuttgart. Aufgewachsen ist er im Ruhrgebiet, wo man das offene Wort schätzt und die Politik nicht einfach den Politikern überlässt.

David Cameron, 2010 als Premier ins Amt gekommen, hatte die Briten zum Referendum über ihre EU-Mitgliedschaft gebeten – nicht weil er raus aus der EU strebte, sondern weil er die Diskussion darüber ein für alle Male beenden wollte. Aber der Europäer Cameron hatte die Rechnung ohne Boris Johnson gemacht – den Anti-Europäer, den begnadeten Populisten, den politischen Egomanen. Cameron sprach über den europäischen Binnenmarkt und vorteilhafte Handelsbeziehungen, zeigte Folien und Grafiken. Johnson sprach über britischen Stolz, Unabhängigkeit und nationale Größe. Und machte sich über genormte Bananen lustig. Im Juni 2016 votierten 52 Prozent der Briten für den Austritt aus der EU.

Seitdem frisst der Brexit seine Kinder, die Tories. Cameron tritt nach dem Votum zurück. Theresa May übernimmt das Amt, sie handelt einen 585 Seiten starken Exit-Vertrag mit der EU aus, um die wirtschaftlichen Folgen beherrschbar zu halten. Johnson und seine Truppen wittern Verrat und ein Brüsseler Diktat, sie propagieren nun den "harten" Brexit. Abgang May, Boris Johnson zieht selbst in Downing Street ein. 2020 tritt das Vereinigte Königreich formell aus der EU aus. Johnson scheitert im Amt, weil er ein charakterloser Lügner und ein politischer Rüpel ist. Liz Truss, die Nächste auf der Liste, tanzt nicht einmal einen Herbst. Rishi Sunak kommt, aber die Briten sind die Tories und ihr Illusionstheater inzwischen gründlich leid.

Sie haben ein Debakel angerichtet

Vier zentrale Versprechen hatten die EU-Gegner mit dem Brexit verbunden. Die Bilanz zeigt, welches Debakel sie angerichtet haben. Erstens: Der Brexit sollte den Briten ihre Souveränität zurückgeben. In ihrer kurzen Amtszeit wollte Liz Truss dieses Versprechen in die Tat umsetzen. Sie knüpfte an Margaret Thatcher an, die legendäre Eiserne Lady. Truss wollte die britische Wirtschaft von allen Fesseln befreien, das Wachstum ankurbeln. Dumpingsteuern für die Unternehmen, günstige Bedingungen für Investoren – könnte Großbritannien nicht eine Art Singapur in Europa werden? Erfolgreich, ordentlich, dereguliert?

Nein, konnte es nicht. Ausgerechnet die Finanzmärkte meuterten gegen dieses Programm. Das englische Pfund ging auf Talfahrt, die Zinsen schossen in die Höhe, die Bank of England musste die Krise managen. Truss war am Ende, bevor sie richtig angefangen hatte. Und die Briten lernten eine Lektion: Souveränität ist in Zeiten der global vernetzten Wirtschaft ein tückischer Begriff, Vertrauen ist ein flüchtiges Kapital.

Zweitens: Großbritannien braucht die EU nicht, um auf den Weltmärkten erfolgreich zu sein. Weniger Handel mit der EU, so das Versprechen, wird ausgeglichen durch mehr Handel mit dem Rest der Welt, der nur darauf wartet, mit dem einstigen Empire weitreichende Handelsabkommen zu schließen. Das Ergebnis: ein Fehlschlag.

Alle großen Pläne sind perdu

Die Briten haben zwei Abkommen – mit Mexiko und Südkorea – geschlossen. In beiden Fällen haben sie praktisch wortgleich die EU-Verträge übernommen, dazu brauchte es keinen Brexit. Zwei andere Abkommen sind neu: mit Neuseeland und Australien. Der Handel mit diesen Ländern wird in der Statistik hinter dem Komma registriert. Alle großen Pläne sind ad acta gelegt – Indien, Indonesien, China, die USA. Die Verhandlungen mit Kanada sind gescheitert. "Splendid Isolation", der Rückzug auf die eigene Insel, war ein außenpolitischer Grundsatz im ausgehenden 19. Jahrhundert. Im 21. Jahrhundert schadet die ökonomische Isolation dem Land.

Drittens: Europa kostet uns jede Woche 350 Millionen Pfund Sterling; Geld, das wir nach dem Brexit in das Gesundheitssystem investieren können. Diese Behauptung, plakativ auf Bussen durchs Land gefahren, war der genialste Schachzug und zugleich die infamste Lüge von Johnsons Kampagne. Nach dem Brexit war von den 350 Millionen Pfund keine Rede mehr, es gab sie schlicht nicht. Der Zustand des NHS, des National Health Service, ist heute desolater als 2016.

Viertens: Die ungesteuerte Einwanderung, angeblich Europas Schuld, war ein zentrales Argument der Leave-Kampagne. Die Briten haben ihre Gesetze auf diesem Feld tatsächlich neu geschrieben, die Freizügigkeit ist für Beschäftigte aus den EU-Ländern Geschichte. Und die Zahlen? 2019, vor dem Brexit, registrierte das Nationale Statistik-Büro 332.000 Zuwanderer. 2023 waren es 722.000.

Ein Zurück gibt es nicht

Zwei Drittel der Briten sagen heute, sie seien vom Brexit enttäuscht. Aber ein Zurück gibt es nicht. Das Wahlergebnis spricht dafür, dass die Briten ihren "Common Sense", den gesunden Menschenverstand, nicht verloren haben. Sie haben sich von den Populisten abgewandt und Labour gewählt – aber erst, nachdem dort der Hardcore-Sozialist Jeremy Corbyn durch den seriösen, drögen, beinahe scholzigen Starmer ersetzt wurde.

"Make Brexit work" – so definiert Starmer selbst seine Aufgabe. Hat er eine Chance? Die britische Wirtschaft rangiert beim Wachstum international am Ende der Tabelle, zusammen mit Deutschland. Ihre Lage ist aber viel schlechter als die der deutschen Wirtschaft: Die Staatsverschuldung ist so hoch wie das gesamte Bruttoinlandsprodukt eines Jahres, diese Negativ-Kennzahl wird den Prognosen zufolge sogar noch steigen. Zum Vergleich: Deutschland liegt bei 63 Prozent.

Das heißt: Die finanzielle Lage Großbritanniens ist eher mit Italien oder Frankreich zu vergleichen. Nur dass die Briten nicht das Geld mit vollen Händen ausgegeben haben wie die Politiker in Rom und Paris. Sie haben sich im Gegenteil in die Krise gespart. Schon als David Cameron 2010 sein Amt antrat, rief er das Zeitalter der Austerität aus. 14 Jahre Tory-Sparpolitik, nur in Covid-Zeiten kurz unterbrochen, haben eine alte volkswirtschaftliche Erkenntnis bestätigt: Ein schwacher Staat führt nicht automatisch zu einer starken Wirtschaft.

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Woher soll das Wachstum kommen?

Starmers politischer Spielraum ist eng begrenzt. Er braucht erstens Wachstum, zweitens Wachstum, drittens Wachstum. Um das marode Gesundheitssystem zu reformieren, um die zerfallende Infrastruktur im Norden Englands zu reparieren, für viele andere Vorhaben. Aber neue Schulden kann er nicht machen, die alten sind schon zu hoch. Die Steuern will er nicht erhöhen, das hat er im Wahlkampf versprochen. Woher soll das Wachstum kommen? Modernisierung, Entbürokratisierung – nun ja, das sind Begriffe aus dem politischen Marketing. Eine vorsichtige Annäherung an die EU wird er versuchen, viel Effekt hat das nicht.

Egal, ob Labour-Wähler oder Tories, ob "Leave" oder "Stay", ob Briten oder Festland-Europäer: Alle haben Grund, Starmer Erfolg zu wünschen. Denn die Rückkehr der Wähler in die politische Mitte ist ein Experiment, nicht mehr. Wenn es gelingt, können die Briten ein Vorbild für Europa sein.

Wenn nicht, steht Nigel Farage bereit. Ein Extremist, ein Hardliner, der den Brexit für gescheitert hält. Aber nur, weil Johnson und die Tories angeblich zu weich waren. Also, es kann tatsächlich noch schlimmer kommen.

Verwendete Quellen
  • Eigene Überlegungen
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