Die subjektive Sicht des Autors auf das Thema. Niemand muss diese Meinung übernehmen, aber sie kann zum Nachdenken anregen.
Was Meinungen von Nachrichten unterscheidet.Tagesanbruch Dem ist nichts hinzuzufügen
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Und dann folgen Sie mir bitte für einen Augenblick in den Orient. Die arabischen Länder haben in den vergangenen Jahren viel durchlitten, Kriege und Anschläge, Dürren und Diktatoren. Dennoch zeichnen sich die Gesellschaften des Nahen Ostens und Nordafrikas durch einen unerschütterlichen Gemeinschaftssinn aus. Dazu zählen die viel gerühmte Gastfreundschaft und die Toleranz. Natürlich gibt es in der Region Fanatiker und Blindwütige, aber eben auch sehr viele Menschen, die andere Weltanschauungen mit freundlichem Interesse bedenken. In der Hauptstadt Syriens, das in den vergangenen Jahren von so viel Grausamkeit heimgesucht worden ist wie kein anderes arabisches Land, stehen Moscheen und Kirchen in Sichtweite; oft ertönen der Muezzin und die Glocken nacheinander.
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An einem Punkt jedoch endet auch in der arabischen Welt die Toleranz in fast allen Gesprächen: Kommt die Sprache auf Juden, begegnet man quer durch alle Bildungsschichten bei den meisten Menschen harten Urteilen, die oft auch Vorurteile sind. Die Juden, hört man dann, seien hinterlistig und brutal, sie würden mithilfe globaler Lobby-Netzwerke, viel Geld aus Amerika und geduldet von den Europäern das palästinensische Volk zugrunde richten. So würden die Juden den Palästinensern dasselbe antun, was die Nazis einst den Juden antaten: einen Völkermord.
Hat ein Gespräch dieses Stadium erreicht, und das dauert meistens nicht lange, ist die Forderung nach Differenzierung oder gar Objektivität kaum noch fruchtbar. Dann mag man als rationaler Gesprächspartner noch so eindringlich den absurden Vergleich anprangern, man dringt damit nicht durch. So habe nicht nur ich es dutzendfach erlebt, so schildern es auch viele andere Orientreisende, Autoren und Sozialwissenschaftler.
Einen Fehler würde natürlich machen, wer alle Araber für dumm oder fanatisch hält. Mangelnde Bildung ist in vielen muslimischen Ländern ein großes Problem, und die Beschäftigung mit der Nazizeit beschränkt sich vielerorts auf ideologisch gefärbte Schulbücher und propagandistische Fernsehfilme. Die kollektive Verunglimpfung von Juden als Unmenschen hat in der muslimischen Welt aber noch einen weiteren Grund. Es ist derselbe, der seit Wochen Hunderttausende im Jemen auf die Straßen treibt, ebenso wie in Marokko und im Iran, mitnichten nur Claqueure der Regime: Von Casablanca bis Teheran und von Istanbul bis Kairo werden Juden mit den Israelis gleichgesetzt. Und zwar 1:1.
Das drückt sich schon im Sprachgebrauch aus: Israelis heißen auf Arabisch schlicht "Al-Jahuud", die Juden. Und diese Juden unterdrücken im Verständnis der muslimischen Volksmassen seit bald 80 Jahren brutal die Palästinenser: Sie vertreiben diese von ihrem Grund und Boden, zerstören ihre Häuser, verhaften ihre Männer und Söhne, begraben ihre Kinder unter Bomben, entrechten sie nach Strich und Faden. Das jahrzehntelange Leid der Palästinenser – tagtäglich in arabischen, iranischen und türkischen TV- und Social-Media-Kanälen dokumentiert – schürt den Hass von Millionen Muslimen.
Mitleid und Wut sind so groß, dass die Gewalt der Gegenseite oft vollkommen ausgeblendet oder zu legitimem Widerstand verklärt wird. So kommt es, dass Selbstmordanschläge palästinensischer Terroristen oder der Massenmord von Hamas-Kämpfern am 7. Oktober verharmlost oder noch nicht einmal erwähnt werden. So entsteht die Einseitigkeit der Betrachtung, die uns hierzulande zu Recht schockiert.
Denn diese verquere Sicht auf den Nahostkonflikt bleibt ja nicht im Nahen Osten. Es gibt sie überall, wo Muslime leben, also auch in deutschen Städten. Dort wird sie weiter genährt, weil viele arabischstämmige Familien statt ARD und ZDF verständlicherweise lieber Al-Jazeera oder Al-Arabiya schauen. Dort sieht man Bilder, die man im deutschen Fernsehen nicht sieht: Leichenteile nach einem israelischen Angriff, Blut und rohe Gewalt. Kameras zeigen minutenlang weinende Mütter, folgen Sanitätern mit einem stöhnenden Schwerverletzten durch die Trümmerlandschaft. Selbst als halbwegs objektiver Beobachter fällt es schwer, beim Anblick dieser Bilder die Emotionen zu kontrollieren. Wie geht es jemandem, der solche Bilder seit Wochen, Monaten, Jahren sieht? Und der den Eindruck hat, er kann nichts tun, um dem Brudervolk zu helfen?
Womit wir endgültig im Okzident angekommen sind. Der muslimische Antisemitismus ist ein großes Problem in Deutschland, und er ist viel zu lang von der Mehrheitsgesellschaft ignoriert worden. Er ist nicht entschuldbar, aber erklärbar. Eben nicht damit, dass alle Muslime Fanatiker, Ignoranten oder Unwissende wären. Auch nicht allein mit Bezug auf den Koran, der Juden verflucht. Es ist vor allem das unmittelbare Erlebnis des jahrzehntelangen Nahostkonflikts, der das Bild der Juden in muslimischen Gesellschaften zur Fratze verzerrt. Unfassbares Leid hat dieser Dauerkonflikt verursacht – sowohl aufseiten der Israelis als auch aufseiten der Palästinenser. Aber die meisten Opfer waren und sind Palästinenser. Dies festzustellen ist keine Relativierung der Hamas-Attacken, sondern eine Anerkennung der Fakten. Nur wenn Fakten statt Emotionen zugrunde gelegt werden, lassen sich Konflikte vielleicht irgendwann eindämmen.
Zu den Fakten gehört allerdings auch, dass man sich als Bürger in einem aufgeklärten, toleranten Staat wie Deutschland in besonderem Maße um Ausgewogenheit bemühen muss, wenn man sich mit Konflikten befasst. Erst recht, wenn Israels Existenzrecht zur Staatsräson zählt. Womit wir bei einem anderen Milieu wären, das sich durch eine absurd einseitige Sicht auf den Nahostkonflikt auszeichnet: In linken Kreisen, vor allem in Universitäten und Kultureinrichtungen, ist die Kritik an der israelischen Besatzungspolitik ebenfalls in blinden Antisemitismus umgeschlagen – nur dass die dortigen Aktivisten erst recht nicht durch fehlende Bildung oder mangelndes Differenzierungsvermögen entschuldigt werden können.
Im Gegenteil: Wenn Studenten Lehrveranstaltungen sprengen und Vernichtungsparolen gegen Israel skandieren, muss man das Boshaftigkeit nennen. Wenn Filmemacher dem israelischen Staat pauschal einen "Genozid" vorwerfen und dabei auch noch beklatscht werden, wie soeben bei der Berlinale geschehen, läuft etwas grundsätzlich falsch im Land. Dann muss man Josef Schuster, dem Präsidenten des Zentralrats der Juden, zustimmen, der im Interview mit unserer Redaktion sagt: "Mit der Berlinale wurde eine der größten deutschen Kulturveranstaltungen für ideologische Hetze gegen Israel und Juden missbraucht. So darf es nicht weitergehen. Erschreckend ist, dass keiner von der versammelten Politprominenz und den Kulturschaffenden aufgestanden ist und protestiert hat."
Schlimm genug, dass linke Kulturmenschen sich in Geschichtsklitterung gefallen. Aber sie vergiften damit auch den gesellschaftlichen Frieden. Wenn Juden ausgegrenzt, beschimpft, geschlagen werden, wie es hierzulande seit dem 7. Oktober verstärkt vorkommt, liegt der Grund nicht allein in der blinden Wut von Muslimen oder dem Hass von Rechtsextremen, sondern auch im Antisemitismus selbst ernannter linker Weltverbesserer.
Die Mehrheitsgesellschaft darf diese falschen Propheten nicht gewähren lassen. "Toleranz ist eine Frage des gesellschaftlichen Klimas. Dafür kann man nicht allein die Politik haftbar machen", sagt Josef Schuster in unserem Interview, das ich Ihnen heute Morgen ans Herz lege. "Ich vermisse in breiten Teilen der Bevölkerung die Zivilcourage. Wenn im Freundeskreis, am Stammtisch oder am Arbeitsplatz antisemitische Aussagen fallen: Dann muss es Einspruch geben. Ich verlange selbstverständlich von niemandem, sich körperlicher Gewalt auszusetzen, doch mehr Widerspruch gegen Antisemitismus würde im gesamtgesellschaftlichen Klima sicher vieles zum Besseren wenden. Seid mutiger!"
Dem ist nichts hinzuzufügen.
Was macht eigentlich …?
… Claudia Roth? Die Kulturstaatsministerin duldet nach dem Skandal bei der Documenta auf der Berlinale schon den zweiten Antisemitismusvorfall auf einer Kulturveranstaltung unter ihrer Schirmherrschaft.
Packt sie aus?
Mehr als 30 Jahre lang war Daniela Klette auf der Flucht – nun ist sie der Polizei ins Netz gegangen: Die Verhaftung der mutmaßlichen RAF-Terroristin in Berlin-Kreuzberg ist ein später, aber bedeutender Fahndungserfolg. Auch wenn die 65-Jährige in dem alternativen Kiez offenbar einen spießig-harmlosen Alltag lebte: Spaziergänge mit dem Hund, Kekse backen zu Weihnachten. Doch das Kapitel RAF ist noch nicht zu Ende. Klettes Komplizen Ernst-Volker Staub und Burkhard Garweg laufen noch frei herum, vermutlich schwer bewaffnet. Und neun RAF-Morde sind immer noch nicht vollständig aufgeklärt. Meine Kollegin Liesa Wölm hat dem RAF-Experten Butz Peters daher die Frage gestellt: "Packt Klette nun über die Taten der dritten RAF-Generation aus?"
Entscheidung in Michigan
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Ohrenschmaus
Apropos Michigan: Kennen Sie den berühmtesten Rocksong aus Detroit? Danach sind Sie wach.
Lesetipps
Die Antisemitismusfälle bei der Berlinale sorgen für Aufruhr. Ein Instagram-Account sei gehackt worden, beteuern die Verantwortlichen des Filmfestivals. Kann das sein? Unsere Rechercheure Steven Sowa und Lars Wienand gehen den Spuren nach.
Der französische Präsident Macron schließt westliche Bodentruppen in der Ukraine nicht mehr aus. Deutschland ist empört, Russland spricht von einem Krieg mit der Nato – aber was steckt wirklich dahinter? Mein Kollege Patrick Diekmann klärt Sie auf.
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Ohne die Zustimmung der Union kann die Ampelregierung der kriselnden deutschen Wirtschaft nicht helfen. Nun machen die Grünen CDU-Chef Friedrich Merz ein Angebot, berichtet unser Reporter Johannes Bebermeier.
Zum Schluss
Bröckelt die deutsch-französische Freundschaft?
Ich wünsche Ihnen einen friedlichen Tag.
Herzliche Grüße
Ihr
Florian Harms
Chefredakteur t-online
E-Mail: t-online-newsletter@stroeer.de
Mit Material von dpa.
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