Die subjektive Sicht des Autors auf das Thema. Niemand muss diese Meinung übernehmen, aber sie kann zum Nachdenken anregen.
Was Meinungen von Nachrichten unterscheidet.Tagesanbruch Die 98-Stunden-Woche
Guten Morgen, liebe Leserin, lieber Leser,
ich möchte Sie an diesem Morgen zu einem kleinen Gedankenexperiment einladen. Sie werden gleich eine Liste mit verschiedenen Aufgaben sehen, die alle im Privaten anfallen. Manche sind täglich zu erledigen, andere wöchentlich, und wieder andere kommen nur monatlich oder einmal im Jahr vor. Nicht alles wird auf Sie zutreffen, aber lassen Sie sich einfach mal darauf ein.
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Setzen Sie hinter diejenige Aufgabe, die Sie überwiegend oder zu gleichen Teilen wie Ihr Partner oder Ihre Partnerin übernehmen, gedanklich ein Kreuzchen. Ein zweites Kreuzchen gibt es, wenn Sie selbstständig an diese Aufgabe denken und nicht vom Partner daran erinnert werden müssen.
- Wäsche waschen
- Kochen
- Blumen gießen
- Müll rausbringen
- Wocheneinkauf erledigen
- Arzttermine organisieren
- Geschenke für Freunde besorgen
- Steuererklärung machen
- Tanken
- Urlaub planen
- Abfluss reinigen
- Angehörige anrufen
Die Liste ließe sich noch eine ganze Weile fortführen, aber ich denke, es ist deutlich geworden, worauf ich hinauswill: Wenn Sie viele Kreuzchen gesetzt haben, sind Sie in Ihrer Beziehung sehr wahrscheinlich diejenige, die die größere Last der Kümmer- und Haushaltsarbeit trägt. Die weibliche Form ist hier kein Versehen. Denn in der Regel sind es noch immer Frauen, die den Großteil dieser Aufgaben erledigen.
"Care-Arbeit" nennt das die Wissenschaft. Weitestgehend unsichtbare Aufgaben, die zwar essenziell sind, um das tägliche Leben und die Gesellschaft am Laufen zu halten, die aber weder bezahlt noch besonders wertgeschätzt werden. Dabei ist Sorgearbeit mindestens so anstrengend und zeitraubend wie Erwerbsarbeit, eher sogar noch kräftezehrender. Denn sie kennt weder Urlaub noch Wochenende oder Feierabend.
Die 98-Stunden-Woche
Wer für ein Kind sorgen muss, das weder zur Kita noch in die Schule geht, hat mindestens eine 98-Stunden-Woche, wie die freie Autorin Jo Lücke in ihrem Buch "Für Sorge" vorrechnet. Während der erwerbstätige Elternteil nach einer 40-Stunden-Woche nach Hause komme und mit der Arbeit fertig sei, starte der Job des anderen Elternteils beispielsweise um 6 Uhr und endet (mit Glück) um 20 Uhr. Allerdings werde auch nachts noch Bereitschaftsdienst geleistet.
"Ja, und?", mögen Sie nun vielleicht einwenden. Das sucht sich jedes Paar doch selbst aus, wie es Erwerbs- und Sorgearbeit aufteilt. Doch so einfach ist es nicht.
- Erstens ist es oft gar keine bewusste Entscheidung, sondern die Folge von Rollenerwartungen.
- Zweitens stecken viele Frauen dadurch in einem Abhängigkeitsverhältnis, das in die Altersarmut führen kann und damit auch für die Gesellschaft insgesamt zum Problem wird.
- Und drittens ist es auch deshalb dringend nötig, Frauen im Privaten zu entlasten, weil ihre Arbeitskraft an anderer Stelle benötigt wird.
Bis 2035 braucht es Ersatz für sieben Millionen Arbeits- und Fachkräfte, sagte Arbeitsminister Hubertus Heil am Montag bei einem Fachkräftekongress der Regierung in Berlin. Wolle man den Wohlstand sichern, müsse man alle Möglichkeiten ausschöpfen. Und eine dieser Möglichkeiten laute, so Heil: "eine höhere Erwerbsbeteiligung von Frauen".
Eine gute Nachricht für die Gleichberechtigung
Tatsächlich möchten viele teilzeitbeschäftigte Frauen ihre Stundenzahl im Job erhöhen, scheitern aber an den Schließzeiten der Kitas und Schulen, an unflexiblen Arbeitgebern oder daran, dass es sich finanziell nicht lohnt, mehr oder überhaupt zu arbeiten. Immerhin der Finanzfrage nimmt sich die Ampelkoalition ein Stück weit an, indem sie plant, die Steuerklassen 3 und 5 abzuschaffen.
Finanzminister Christian Lindner will dazu in Kürze ein Gesetzespaket vorlegen (mehr dazu hier). Damit bliebe Ehepaaren, die ihre Steuererklärung zusammen abgeben, nur noch die Wahl zwischen den Steuerklassenkombinationen 4 und 4 sowie 4 und 4 mit Faktor. Für die Gleichberechtigung ist das eine gute Nachricht.
Warum das Aus für die Steuerklassen 3 und 5 richtig ist
Denn aktuell entscheiden sich die meisten Paare für die Kombination 3/5, weil sie damit das monatliche Haushaltsnettoeinkommen steigern können, wenn sich die Gehälter stark unterscheiden. Der Preis dafür ist aber, dass der geringer verdienende Partner – meist die Frau – langfristig benachteiligt wird, weil diese Person in Steuerklasse 5 höhere Abzüge hat. Denn je geringer das persönliche Nettoeinkommen, desto geringer auch mögliche Lohnersatzleistungen wie Arbeitslosengeld, Elterngeld, Krankengeld, Kurzarbeitergeld. Auch die spätere Rente fällt niedriger aus, wenn der Geringverdiener seine Stundenzahl nicht aufstockt, weil es sich kurzfristig nicht rechnet. Zudem hat die Steuerklasse 5 einen psychologischen Effekt: Wer aufgrund der Abzüge weniger zu den Familienfinanzen beisteuert, als es in Wahrheit der Fall ist, agiert noch weniger auf Augenhöhe als ohnehin schon.
Das Faktorverfahren in Lohnsteuerklasse 4 verhindert genau das. Es führt dazu, dass jede Person den Lohnsteueranteil zahlt, den sie zum gemeinsamen Einkommen beiträgt. Dadurch hat man als gesamter Haushalt zwar unter dem Jahr ein geringeres Nettoeinkommen als in der Kombination 3/5, muss dafür mit der Steuererklärung aber auch nichts oder nur unwesentliche Beträge zurückzahlen. Wer die Steuerklassen 3 und 5 kombiniert, zahlt hingegen oft hohe Summen nach (mehr dazu hier). Denn eines kann die Wahl der Steuerklasse nicht, auch wenn viele das denken: Steuern sparen. Unterm Strich zahlen Paare in allen Kombinationen die gleiche Menge an Steuern – nur eben zeitversetzt.
Die Steuerklassen-Reform reicht noch nicht
Einen echten Steuerspareffekt gibt es an anderer Stelle: beim sogenannten Ehegattensplitting. Dabei wird so getan, als würden beide Partner genau die Hälfte zum gemeinsamen Einkommen beitragen. Für diese Hälfte berechnet das Finanzamt die Einkommensteuer und verdoppelt sie. Der besser verdienende Partner muss also weniger versteuern, der andere mehr. Da der Steuersatz mit steigendem Einkommen zunimmt, fällt die Ersparnis beim Besserverdiener größer aus als die Mehrbelastung beim weniger Verdienenden. Das Paar spart also Steuern – und zwar umso mehr, je weiter die Einkommen auseinanderklaffen.
Dieser Splittingvorteil ist – zusammen mit der Existenz von Minijobs – der echte Fehler im Steuersystem, der dazu führt, dass Frauen weniger arbeiten, als sie könnten und möchten. Hier müsste die Bundesregierung grundsätzlich reformieren, nicht bloß kosmetisch bei den Steuerklassen. Doch es fehlt der gemeinsame Wille. Das ließ sich bereits im vergangenen Sommer beobachten, als SPD-Chef Lars Klingbeil vorschlug, das "antiquierte Steuermodell" abzuschaffen, wie er das Ehegattensplitting nannte, und so Milliarden Euro einzunehmen. Da das faktisch jedoch eine Steuererhöhung bedeutet hätte, war die FDP dagegen. Auch Bundeskanzler Olaf Scholz zeigte sich wenig begeistert, etwas umzusetzen, das nicht im Koalitionsvertrag vereinbart worden war.
Paare haben einen wichtigen Hebel
Ist also doch wieder jeder Einzelne gefordert, den ungerechten Strukturen zu trotzen? Die Erwerbs- und Sorgearbeit gerecht aufzuteilen, auch wenn man dadurch finanzielle Vorteile liegen lässt? Ja. Wer es sich leisten kann, sollte das tun. Einen wichtigen Hebel haben Paare, sobald ihr erstes Kind geboren wird. Denn das ist typischerweise der Zeitpunkt, an dem Frauen ihre Sorgearbeit weiter erhöhen und Männer ihren Einsatz zu Hause weiter senken.
Wer nun in der Lage ist, vorübergehend auf Einkommen zu verzichten und auch als Mann trotz höheren Gehalts länger in Elternzeit zu gehen, schiebt gleich mehrere positive Effekte an: Er verliert nicht den Anschluss an seine Partnerin, was die Kompetenzen bei der Sorgearbeit angeht. Er entwickelt Verständnis dafür, wie anstrengend diese Arbeit wirklich ist. Und selbst finanziell wird es sich auf Dauer auszahlen: Denn die Verluste, die ein Paar hat, weil der Besserverdiener sechs oder acht Monate in Elternzeit geht, werden niemals so hoch sein wie die Verluste, die sich ergeben, weil die Partnerin zehn Jahre in Teilzeit arbeitet und nicht befördert wird.
Vielleicht macht das eigene Modell sogar Schule und färbt ab auf den Freundes- und Bekanntenkreis. Bis es Schritt für Schritt zur neuen Norm wird, dass sich Paare die Sorgearbeit gleichberechtigter teilen. Und nicht mehr nur Frauen oben viele Kreuzchen setzen.
Was steht an?
Zwei Jahre Zeitenwende: Es war der 27. Februar 2022, drei Tage nach dem russischen Angriff auf die Ukraine, als Olaf Scholz vors Rednerpult des Bundestags trat und sagte: "Der 24. Februar 2022 markiert eine Zeitenwende in der Geschichte unseres Kontinents." Wie viel hat sich seitdem wirklich gewandelt? Wo steht Deutschland zwei Jahre später? Mein Kollege Daniel Mützel wird am Dienstagmittag für Sie Bilanz ziehen.
Nicht bloß stille Einkehr: Auf ihrer Klausur in Leipzig will die Grünen-Bundestagsfraktion auch Beschlüsse fassen. Wie mein Kollege Johannes Bebermeier als Erster erfuhr, wollen die Abgeordneten den Mindestlohn auf mehr als 14 Euro erhöhen. Auch eine Reform der Schuldenbremse ist im Gespräch. Wir haben die Entwicklungen weiter im Blick.
Urteil erwartet: In den Niederlanden geht einer der längsten und größten Prozesse des Landes zu Ende. Die berüchtigte "Mocro-Mafia" um Boss Taghi wird für mehrere Auftragsmorde verantwortlich gemacht, auch für den Mord am prominenten TV-Reporter Peter R. de Vries, der am 15. Juli 2021 auf offener Straße erschossen worden war.
Augenschmaus
Wie gelingt es, Kinder und Karriere in Einklang zu bringen? Diese Frage stellt sich auch der Film "Eine Million Minuten" mit Karoline Herfurth und Tom Schilling. Sollte er noch bei Ihnen im Kino laufen – nichts wie hin!
Das historische Bild
Am 27. Februar 1933 brannte der Reichstag. Die Nationalsozialisten nutzten die Katastrophe zur Errichtung ihrer Diktatur. Mehr lesen Sie hier.
Lesetipps
Krisen überall, doch das Geschäft der Mafia floriert – auch in Deutschland. Wie wichtig die Bundesrepublik für das Organisierte Verbrechen ist, hat der Schriftsteller und Mafia-Experte Roberto Saviano meinen Kollegen Sara Guglielmino und Marc von Lüpke erklärt.
Joe Bidens Israel-Politik gefährdet seine Wiederwahl im November. Im Bundesstaat Michigan könnte es nun zum politischen Warnschuss kommen. Unser USA-Korrespondent Bastian Brauns hat darüber mit dem amerikanischen Meinungsforscher James Zogby gesprochen.
Seit Beginn des Krieges zwischen Israel und der Hamas ist die Stimmung in der deutschen Gesellschaft aufgeheizt. "Die sozialen Medien wirken dabei wie ein Brandbeschleuniger", warnt der Historiker Meron Mendel im Interview mit meiner Kollegin Marianne Max.
Zum Schluss
Ob die Rechnung aufgeht?
Trotz aller Widrigkeiten wünsche ich Ihnen einen angenehmen Tag! Morgen schreibt wieder Florian Harms für Sie.
Herzliche Grüße
Ihre
Christine Holthoff
Redakteurin Finanzen
X: @c_holthoff
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Mit Material von dpa.
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