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Mafia in Europa und Russland: "In Deutschland sieht man kaum Leichen"


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Mafia-Gegner Roberto Saviano
"In Deutschland sieht man kaum Leichen"


Aktualisiert am 29.02.2024Lesedauer: 9 Min.
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Ein SEK bei einer Übung: Ein Mafiaexperte sieht in Deutschland Nachholbedarf beim Kampf gegen die organisierte Kriminalität. (Quelle: IMAGO/Dwi Anoraganingrum)
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Das Geschäft der Mafia läuft trotz Krisen immer – in Italien, Russland und Deutschland. Roberto Saviano hat den Kriminellen den Kampf angesagt. Im Gespräch erklärt der Autor, was gerade Deutschland gegen die Organisierte Kriminalität tun sollte.

Ruhe ist der Mafia am liebsten, so laufen ihre "Geschäfte" ungestört. Doch Roberto Saviano will ihr die Ungestörtheit nicht gönnen. Immer wieder klagt der Bestsellerautor die Organisierte Kriminalität an, deckt ihre Aktivitäten in seinen Büchern auf. Dafür zahlt Saviano einen hohen Preis: Die Mafia bedroht sein Leben, seit fast zwei Jahrzehnten lebt der Italiener unter Polizeischutz.

Gerade hat Saviano in seinem neuen Buch "Falcone" einem der erfolgreichsten Mafia-Jäger ein literarisches Denkmal gesetzt: Giovanni Falcone starb 1992, getötet durch einen Sprengstoffanschlag. Woher nimmt Saviano den Mut zum Durchhalten? Warum ist Deutschland immer noch so attraktiv für die Mafia, die auch in Russland so mächtig ist? Und wird sich die Mafia jemals besiegen lassen? Diese Fragen beantwortet Roberto Saviano im Gespräch.

t-online: Herr Saviano, ist Deutschland noch immer ein "Eldorado" für die Mafia?

Roberto Saviano: In Deutschland sieht man kaum Leichen, von den Mafiamorden 2007 vor einer Duisburger Pizzeria abgesehen. Das bedeutet aber nicht, dass die Mafia dort nicht aktiv wäre. Geldwäsche ist in Deutschland immer noch sehr, sehr einfach. Die verschiedenen italienischen Mafiaorganisationen machen jährlich einen Umsatz von 100 Milliarden, diese gewaltigen Summen wollen investiert werden. Also, ja, Deutschland ist immer noch ein Eldorado für die Mafia.

Die Mafia wird gerne als "italienisches Problem" abgetan. Was halten Sie davon?

Das ist kompletter Unsinn. Die Mafia ist kein italienisches Problem, sondern ein europäisches und internationales. Schauen wir doch auf das Geld: Das meiste davon liegt in London, in Deutschland, in Osteuropa. In Italien selbst investiert die Mafia immer weniger.

Wie definieren Sie den Begriff "Mafia"?

Mafia beschreibt strukturierte kriminelle Organisationen mit einem Regelwerk, die in der Lage sind, die Politik, die Wirtschaft und das gesellschaftliche Leben eines ganzen Staates zu beeinflussen. Das Phänomen Mafia reicht deswegen auch weit über Italien hinaus. Nehmen wir Russland als Beispiel: Wladimir Putins Reich ist durch und durch mafiös, die russische Mafia weit über die Grenzen des Landes hinaus aktiv. Deutschland trägt hier eine enorme Verantwortung, dem Einhalt zu gebieten. Bislang versagt Deutschland aber in dieser Hinsicht. Es ist den dortigen Behörden bislang nie gelungen, wichtige Ermittlungen zur Bekämpfung der russischen Organisierten Kriminalität durchzuführen.

Zur Person

Roberto Saviano, 1979 in Neapel geboren, ist italienischer Schriftsteller und Journalist. 2006 machte der Tatsachenroman "Gomorrha. Reise in das Reich der Camorra" Saviano weltweit bekannt. Seitdem lebt der Mafia-Gegner wegen der Bedrohung durch die Organisierte Kriminalität unter Polizeischutz. Saviano ist Träger verschiedener Auszeichnungen, wie dem Geschwister-Scholl Preis. Seine Bücher, darunter "ZeroZeroZero. Wie Kokain die Welt beherrscht", über die Mafia und den Drogenhandel sind internationale Bestseller. Gerade ist Savianos neuester Roman "Falcone" über den 1992 ermordeten Mafia-Jäger Giovanni Falcone im Hanser-Verlag erschienen.

In Italien stellten sich mutige Männer wie Giovanni Falcone den Kriminellen entgegen, 1992 ermordete die Mafia den Juristen mittels einer Autobombe. Nun haben Sie Ihr neues Buch "Falcone" dem Mafia-Jäger gewidmet. Was bedeutet er für Sie persönlich?

Falcone war ein Mann, der sich für die Wahrheit entschieden hatte, ein Mann, der bereit war, für sie zu kämpfen. Und immer wieder versucht hat, mutig zu sein. Denn man muss sich tatsächlich dazu entscheiden, mutig zu sein. Niemand wird entweder mit oder ohne die Fähigkeit geboren. Falcone hatte diesen Mut, seinen eigenen Lebensweg zu gehen und zu kämpfen – ohne Rücksicht auf die Konsequenzen. Wir verdanken ihm aber noch viel mehr.

Was genau?

Wo wird Geld zum Verbrechen, wo werden Geschäfte zu Verbrechen? Falcone vermochte es, ein grundlegendes Verständnis des kriminellen Kapitalismus zu lehren und zu vermitteln. Das hat es mir wiederum ermöglicht, die Welt besser zu verstehen: Man darf das Böse nicht mit den Augen derjenigen betrachten, die ohnehin auf der richtigen Seite stehen. Sondern vielmehr, warum das Böse, die Mafia, so handelt, wie sie handelt. Das ist ein großer Unterschied.

Haben Sie ein praktisches Beispiel?

Folgen Sie dem Geld. Geld ist immer der Dreh- und Angelpunkt.

Wie Giovanni Falcone haben Sie sich dem Kampf gegen die Mafia verschrieben. Spüren Sie auch deswegen eine Verbundenheit zu ihm?

Ich habe versucht, von Falcone zu lernen, indem ich sein Leben studiert habe. Immer wieder stelle ich mir die Frage: Wie hat er es geschafft, trotz des Drucks ein Leben zu leben? Diese Art kleiner Tod, den er durch die ständige Bedrohung permanent überstehen musste? Unsere beiden Geschichten sind grundverschieden, aber wir haben diese Gemeinsamkeit.

Giovanni Falcone starb am 23. Mai 1992 auf Sizilien, Sie waren damals 13 Jahre alt. Erinnern Sie sich an diesen Tag?

An die Reaktion meiner Familie bei Bekanntwerden der Nachricht erinnere ich mich gut. Es herrschte Stille und Angst, denn wir lebten damals in der Provinz Caserta in Kampanien, einer der kompliziertesten Gegenden Italiens.

Wie kamen Sie zu dem Entschluss, einen Roman über den ermordeten Mafia-Jäger zu schreiben?

Falcone sollte für Italien mehr sein als ausschließlich diese moralische Referenz, zu der er gemacht worden ist. Schließlich war er ein Mensch aus Fleisch und Blut. Falcones Geschichte wird meiner Meinung nach nicht so erzählt, wie sie gewesen ist. Deshalb habe ich die Form eines Romans gewählt – aber mit allen realen Fakten. Ich wollte mich in Falcones Kopf, in sein Leben hineinversetzen, all die Schrecken aufreihen, die er ertrug, all die Probleme, die er sah, all das Leid, mit dem er umgehen musste.

Wie lange haben Sie an "Falcone" gearbeitet?

Fünf Jahre. Ich habe dafür unter anderem die Überlebenden des Kampfes gegen die Organisierte Kriminalität getroffen, die Falcone persönlich gekannt haben. Die Namen Giuseppe Di Lello und Leonardo Guarnotta sind hier zu nennen. Ihr Verdienst zur Bekämpfung der Mafia ist groß.

Bis zu den maßgeblich von Falcone vorangetriebenen Maxi-Prozessen in den Achtzigerjahren galt die Existenz der Mafia nicht einmal als belegt.

Das war Falcones größter Erfolg – bis dahin glaubte niemand, dass die Existenz der Mafia bewiesen werden könnte. Es war eine juristische Leistung, aber auch eine menschliche. Immerhin hat er mit der Regierung zusammengearbeitet, in der damals der Politiker Giulio Andreotti tätig war, der der Cosa Nostra nahestand, wie Falcone durch abtrünnige Mafia-Mitglieder wusste.

Falcone lebte unter ständigem Polizeischutz, genauso wie Sie. Was ist das für ein Leben?

Seit fast 20 Jahren lebe ich umgeben von Carabinieri. Momentan wohnen die Polizisten zum Glück nicht direkt in meinem Haus, sondern außerhalb. Wenn ich mein Zuhause verlasse, begleitet mich eine Eskorte. Manchmal sind es fünf Carabinieri, manchmal sieben bisweilen auch mehr. Ich fahre in gepanzerten Autos, alles, was ich in meinem Leben tue, bedarf einer Genehmigung. Wenn ich ins Restaurant gehe, sitze ich manchmal unter anderen Leuten, manchmal stecken sie mich allein in einen Raum. Je nachdem, wie sie die Gefahr einschätzen. Es ist ein Leben unter ständiger Beobachtung.

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Ihr Leben ist in Gefahr, seit 2006 Ihr Tatsachenroman "Gomorrha" über die Machenschaften von Mafia und Politik erschienen ist. Würden Sie das Buch noch einmal schreiben?

Ich würde es nie wieder tun, es lohnt sich nicht, sein Leben dafür zu zerstören. Ich liebe mein Buch nicht, ich liebe nicht einmal das, was ich tue. Weil ich dafür einen Preis bezahle, den ich lieber nicht bezahlen möchte. Nun können Sie mich fragen, warum ich meinen Kampf gegen die Mafia fortsetze? Das ist meine Rache.

Haben Sie Hoffnung, dass die Bedrohung irgendwann endet?

Francesco Bidognetti lautet der Name des Camorra-Bosses, der mich zu dieser Existenz verurteilt hat. Der Prozess, der wegen seiner Drohungen gegen mein Leben läuft, zieht sich nun seit 17 Jahren hin. In diesem Zeitraum ist er gerade einmal in erster Instanz verurteilt worden. In Deutschland wäre das undenkbar, aber in Italien ist das eben so. Es ist ein Land, in dem Prozesse unendlich lange dauern, ein Land, in dem es sehr schwierig ist, sich in einer Demokratie zu fühlen.

Was hassen Sie an Italien?

Ich hasse die Bürokratie. Ich hasse die Desorganisation. Ich hasse auch den Familismus, diese völlig übersteigerte Bedeutung der eigenen Familie zum Nachteil der Gesellschaft.

Und was lieben Sie an Italien?

Ich liebe die Sprache, die Kreativität, die Sinnlichkeit. Italien ist eine ständige Verführung und Verlockung. Damit liebe ich etwas, das ich gleichzeitig hasse. Wir Menschen hassen uns alle gegenseitig, vor allem die, die uns nahestehen. Diese Dynamik widerfährt allen Menschen, aber in Italien mit größerer Arroganz. Aber wieso liebe ich so etwas Schreckliches? Weil aus genau diesem Wettbewerb zwischen Liebe und Hass etwas entsteht, das es Italien ermöglicht hat, seine Schönheit aufzubauen.

Bitte erklären Sie das.

Wenn ein italienisches Dorf das Nachbardorf hasst, baut es sich eben einen zweiten, noch schöneren Kirchturm, um die anderen auszustechen. Oder es verschönert seine Straßen, macht sein Essen noch köstlicher. Alle Errungenschaften sind das Ergebnis des Versuchs, den anderen zu übertrumpfen. Und so hat dieser Wettbewerb, der oft geradezu lächerlich ist, auch eine exponentielle Schönheit hervorgebracht.

Möchten Sie Italien eines Tages verlassen?

Ich war lange weg und bin es auch heute noch oft. Ich versuche, mich von Italien fernzuhalten, weil es ein beängstigendes Land ist. Besonders jetzt.

In Italien regiert ein extrem rechtslastiges Bündnis mit der Postfaschistin Giorgia Meloni an der Spitze und Matteo Salvini von der rechtspopulistischen Lega als Minister. Sie haben beide öffentlich als "Bastarde" tituliert. Was war der Grund?

2020 wurde ich in eine Talkshow eingeladen. Dort zeigte mir ein Journalist ein Video einer Frau, die ihr Baby bei der Flucht übers Meer im Wasser verloren hat. Ich fragte den Journalisten: "Wie kann man solche Reisen als Kreuzfahrten definieren? Wie kann man diese Rettungen als See-Taxis bezeichnen? Wie kann man sagen, dass Rettungsschiffe versenkt werden sollten?" Denn Meloni hatte genau das getan, sie hat ihren gesamten Wahlkampf darauf aufgebaut. Wer so etwas sagt, ist für mich ein "Bastard".

Befürchten Sie, dass die Politik als Retourkutsche zukünftig ihren Polizeischutz aufheben könnte? Salvini hat es bereits in der Vergangenheit prophezeit.

Ich bin bereit dafür, genau wie diese Regierung zu allem bereit ist, um ihren Gegnern zu schaden. Bislang habe ich noch keine Hinweise erhalten, dass es wirklich so weit kommen könnte. Salvini wollte es bereits, ja, aber er hat es nie getan. Zumal er zu einem solchen Schritt gar nicht befähigt ist. Ich gebe es zu, ich habe Angst vor dieser Politik, die alles bestimmt, von den Gerichten bis zum Fernsehen, von den Zeitungen bis zu den Unternehmen. Ich bin eine Zielscheibe dieser Politik geworden. Ich bin zwar noch immer da, aber die Botschaften, die die Premierministerin in schändlicher Weise über mich verbreitet, machen mein Leben hier schwer. Noch schwerer.

Wie meinen Sie das?

Intellektuelle werden von dieser Politik als Verräter angesehen. Sie seien Betrüger, die von Gerechtigkeit reden, von Freiheit reden, aber sich am Ende nur bedienen wollen. Deshalb habe ich Furcht, in diesem Land mit dieser Regierung zu leben. Es ist klar, dass ich nicht nachts von der Gestapo abgeholt werde, aber auch Worte – wie die von Meloni – können viel Schaden anrichten.

Welche Bedeutung haben Regierungswechsel in Italien für die Mafia?

Der Mafia ist das zunächst ziemlich egal. Am Ende macht sie immer gute Geschäfte, unabhängig von der Regierung, die gerade in Italien herrscht. Die Mafia bevorzugt keine politische Farbe, auch wenn ihr bestimmte Kräfte durchaus lieber sein mögen. Es gibt sie schon sehr lange, sie hat ihre Fähigkeit zur Anpassung bewiesen.

Die Mafia existierte bereits vor dem Einheitsstaat Italien, der 1861 entstand. Bis heute herrscht die Legende, dass sie zu Beginn die Sache der Armen vertreten hätte. Was sagen Sie dazu?

Mafiabanden waren schon immer das, was sie heute sind. Nämlich kriminelle Organisationen, die das Elend und den Mangel an Recht ausnutzen. Die Mafia umgibt sich aber mit Legenden und Täuschungen. Sie tötet oft zweifach: nicht nur mit Waffen, sondern auch mit Worten und Lügen. So wie sie es bei Giuseppe Diana gemacht hat.

Der katholische Priester wurde 1991 in Ihrer Heimatregion von der Camorra umgebracht.

Sie haben ihm direkt ins Gesicht geschossen, weil er ein Feind der Camorra gewesen ist. Nach zwei Tagen behaupteten lokale Zeitungen, dass er umgebracht worden sei, weil er es mit zu vielen Frauen zu tun gehabt habe. Weil er selbst bei der Camorra gewesen sein soll. Das macht die Erinnerung an ihn kaputt, weil dadurch die Zweifel gesät sind. So haben sie es mit vielen gemacht. Dabei ist das alles Blödsinn.

Ist die Teil-Legalisierung von Cannabis, die in Deutschland geplant ist, ein Weg zur Bekämpfung der Mafia?

Die 'Ndrangheta überschwemmt Deutschland mit Kokain, die Camorra hat das Gleiche mit Haschisch und Marihuana getan. Dieser Markt wird durch die Legalisierungsgesetze endgültig zerschlagen, die Kartelle, die mit Haschisch und Marihuana handeln, ziehen bereits ab. Sie gehen etwa nach Belgien oder Polen.

Es gibt in Deutschland allerdings unterschiedliche Ansichten, ob die Legalisierung von Drogen eine gute Idee ist. Was denken Sie?

Deutschland ist wirklich mutig! Denn der deutsche illegale Markt für Cannabis wird bald nicht mehr existieren. Stattdessen wird der Staat Kontrolle gewinnen und die Regeln setzen, nicht mehr die Kartelle. Und wenn der Staat Kontrolle gewinnt, kann er weitere negative Auswirkungen des Drogenhandels nach und nach in den Griff bekommen, etwa die Prostitution.

Gibt es eine vergleichbare Debatte in Italien?

Nein, die extreme Rechte will so etwas nicht. Genau wie die Mafia.

Eine letzte Frage: Glauben Sie, dass die Mafia irgendwann endgültig besiegt werden kann?

Nein.

Herr Saviano, vielen Dank für das Gespräch.

Verwendete Quellen
  • Persönliches Gespräch mit Roberto Saviano via Videokonferenz
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