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Putins aggressiver Gangster-Staat: Deutschland wird Russland die Hand reichen


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Tagesanbruch
Deutschland wird Russland die Hand reichen

MeinungVon Florian Harms

Aktualisiert am 09.05.2023Lesedauer: 6 Min.
Olaf Scholz und Wladimir Putin neun Tage vor dem russischen Angriff auf die Ukraine im Februar 2022 im Kreml.Vergrößern des Bildes
Olaf Scholz und Wladimir Putin neun Tage vor dem russischen Angriff auf die Ukraine im Februar 2022 im Kreml. (Quelle: imago-images-bilder)

Guten Morgen, liebe Leserin, lieber Leser,

die Russische Föderation ist zum Paria-Staat herabgesunken. Obgleich er mancherorts noch Unterstützung genießt, hat Wladimir Putin das Land mit seinem Angriffskrieg aus der Gemeinschaft friedliebender Staaten herausgeschossen. Auch zu Wochenbeginn leiden die Menschen in der Ukraine wieder unter russischen Luftangriffen: In Kiew wurden mindestens fünf Menschen verletzt, in Odessa brannte ein Lebensmittellager. Als "Orks" verfluchen die Ukrainer die feindlichen Soldaten und Söldner, in Anlehnung an die bösartigen Krüppelkämpfer aus Tolkiens "Herr der Ringe". Tatsächlich nimmt die Geheimdienst-Clique im Kreml kaum mehr Rücksicht auf ihre eigenen Leute als auf die Gegner. Zu Zehntausenden krepieren russische Uniformträger im Schlamm des Donbass, belogen, misshandelt und missbraucht von den eigenen Anführern.

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Trotzdem wird sich der Zar bei der heutigen Militärparade auf dem Roten Platz in Moskau wieder huldigen lassen. Den ebenso schmerzvollen wie ruhmreichen Jahrestag des sowjetischen Sieges über Hitler-Deutschland instrumentalisiert Putin für seine faschistoide Propaganda und beschwört den Kampf gegen angebliche "Nazis" in der Ukraine. Ob ihm die Bevölkerung mehrheitlich noch Glauben schenkt oder nur noch aus Angst schweigt? Man ahnt die Antwort. Einberufungsbefehle verschicken die russischen Behörden mittlerweile per E-Mail. Es heißt, wer aufmucke, sei sofort dran. In Usbekistan, Tadschikistan und anderen asiatischen Nachbarländern sind russische Anwerber unterwegs und rekrutieren Migranten für den Militärdienst. 3.770 Euro Monatssold plus 2.165 Euro Prämie plus Staatsbürgerschaft: Zack, schon ist man Soldat in Putins barbarischem Krieg und wird an die Front geschickt. 400.000 "Freiwillige" wolle der Kreml so für den Einsatz in der Ukraine anwerben, meldet der britische Geheimdienst.

Die Methoden sind brutal, aber neu sind sie nicht. Hierzulande wollte man es lange nicht wahrhaben, aber dass Putin einen aggressiven Gangster-Staat aufbaute, war seit Jahren offensichtlich. Wer es auch jetzt immer noch nicht begreifen will, sollte Giuliano da Empolis meisterhaften Roman "Der Magier im Kreml" lesen, vielleicht das beste Buch des Jahres. Wer es noch genauer wissen will, liest Catherine Beltons ebenso fesselndes Werk "Putins Netz. Wie sich der KGB Russland zurückholte und dann den Westen ins Auge fasste".

Die Rohstoffindustrie kontrollieren und die eigene Clique schamlos bereichern, Andersdenkende ermorden, den Nationalismus schüren und Demokratien attackieren: Die Mechanismen eines mafiösen Unterdrückerregimes scheint Putin zur Perfektion bringen zu wollen. Die Schmach nach dem Untergang der Sowjetunion, die Überheblichkeit westlicher Staatschefs und das Unterlegenheitsgefühl angesichts der wirtschaftlichen, politischen und kulturellen Übermacht Amerikas mögen dazu beigetragen haben. Als Rechtfertigung für die Massenmorde in Tschetschenien, Syrien und der Ukraine taugen sie keine Sekunde. Statt dem Land eine stabile, über den Öl-, Gas- und Waffenexport hinausreichende Perspektive zu geben, hat Putin es in eine existenzielle wirtschaftliche Krise getrieben und den Frieden in Europa ebenso zerstört wie das Vertrauen des Westens in die russische Politik.

Ob im Kreml noch lange Putin sitzt oder irgendwann ein anderer: Es wird Jahre, wenn nicht Jahrzehnte brauchen, bis man in Washington, Berlin, Paris und London wieder bereit ist, Russland als gleichwertigen Partner am Tisch zivilisierter Nationen Platz nehmen zu lassen. Bis dahin wird aufgerüstet. Womöglich dämmert das sogar dem skrupellosen Kremlchef allmählich? "Putin ist sichtlich nervös", schreibt mein Kollege Patrick Diekmann.

Dabei ginge es auch anders. Womöglich klingt es naiv, aber wer an das Gute im Menschen glaubt, mag sich diese Hoffnung nicht nehmen lassen: Ein blühendes, demokratisches Russland wäre möglich. Dieses beeindruckende Land mit seiner literarischen Hochkultur, seinen warmherzigen Menschen, guten Universitäten und herrlichen Landschaften könnte ein friedfertiger Mittler zwischen den demokratischen EU-Staaten im Westen und dem aufstrebenden China im Osten sein. Ich bin sicher: Auch die Mehrzahl der Russen zöge so eine Perspektive dem sanktionierten Paria-Staat vor, in dem schon ein kritisches Wort mit Lagerhaft bestraft wird und jede Minute die E-Mail mit dem Einberufungsbefehl für den Vater, Sohn oder Gatten kommen kann.

Ehemalige Imperien neigen zu Überheblichkeit und Aggressivität, wenn die Eliten den Niedergang nicht verkraften: Für diese historische Binsenweisheit liefert die europäische Geschichte zahlreiche Belege. Diesmal ist es Russland, das sich von seinem Herrscher in die Falle hat treiben lassen. Irgendwann muss es aus dieser Falle herausfinden – und Deutschland wird dabei als mächtigstem europäischem Land eine zentrale Rolle zukommen. Dann wird Berlin den Mächtigen in Moskau wieder die Hand reichen müssen, so viel ist klar.

Ebenso klar ist allerdings die Voraussetzung: Der Kreml muss seine "Orks" aus der Ukraine abziehen, dem überfallenen Land vollständige Souveränität einschließlich der Krim zugestehen und die Bereitschaft zeigen, die eigenen Kriegsverbrechen aufzuarbeiten. Mit Putin wird das sicher nicht gelingen.


Wer zahlt?

Mehr als eine Million ukrainische Flüchtlinge haben Schutz in Deutschland gefunden, weitere 100.000 Menschen aus anderen Ländern haben seit Jahresbeginn Asyl beantragt: Wer soll die Versorgung der Hilfsbedürftigen bezahlen? Vor dem morgigen Flüchtlingsgipfel in Berlin spitzt sich der Streit zwischen Bund und Ländern zu. Im Interview mit unserer Reporterin Annika Leister warnt der Migrationsforscher Hannes Schammann vor wachsendem Frust.


Am Abgrund

Die israelische Regierung manövriert sich immer weiter in die politische Sackgasse. Nun hat eine EU-Delegation einen diplomatischen Empfang in Jerusalem anlässlich des heutigen Europatages abgesagt – weil auch der rechtsextreme Politiker Itamar Ben-Gvir teilnehmen wollte. Der wegen Hassreden verurteilte Sicherheitsminister will das israelische Staatsterritorium auf Kosten der Palästinensergebiete ausweiten. Ministerpräsident Benjamin Netanjahu hat die Lage offenkundig immer weniger im Griff; jede Woche gibt es Massendemonstrationen gegen seine Attacken auf die Gewaltenteilung. Bestürzend zu sehen, wie sich eine Demokratie binnen kurzer Zeit selbst zerlegt.


Gedenken und Debatten

Christian Lindner findet, dass Deutschland unabhängiger von China werden muss. Das gefällt den Diktatoren in Peking nicht: Sie haben ein geplantes Treffen mit dem deutschen Finanzminister kurzfristig abgesagt. Außenministerin Annalena Baerbock, ebenfalls nicht um klare Worte verlegen, empfängt dagegen ihren chinesischen Amtskollegen Qin Gang heute in Berlin. Die Atmosphäre dürfte zwischen kühl und frostig schwanken.

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Ebenfalls in Berlin finden Gedenkveranstaltungen und Demonstrationen zum Jahrestag des Weltkriegsendes statt. Neben vielen wohlgesinnten Menschen wollen auch die Rocker des russischen Motorradklubs "Nachtwölfe" auffahren. Darauf würde man lieber verzichten.

Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier verlegt seinen Amtssitz für drei Tage nach Senftenberg in Brandenburg. Er will sich ausführlich mit Kommunalpolitikern und Bürgern unterhalten. Zu den Themen zählen der Strukturwandel, das Verhältnis zu Russland und die Hilfe für die Ukraine.

Kanzler Olaf Scholz debattiert mit den Abgeordneten des EU-Parlaments in Straßburg. Neben Handelserleichterungen für die Ukraine stehen die EU-Schuldenregeln und der Umgang mit der britischen Provinz Nordirland auf der Agenda.

Bundesinnenministerin Nancy Faeser und Bundeskriminalamtschef Holger Münch stellen die Jahresstatistik zu rechtsextremer Gewalt vor. Außerdem informieren sie über die Welle rassistischer Mobilisierungen in Ostdeutschland.

US-Präsident Joe Biden lädt Anführer beider Kongressparteien zu Verhandlungen um den Staatshaushalt ins Weiße Haus. Die Zeit drängt: Wird die Schuldenobergrenze nicht rasch erhöht, droht am 1. Juni der Zahlungsausfall. Die schlimmste Weltfinanzkrise aller Zeiten könnte die Folge sein.


Ohrenschmaus

Falls Sie sich gar nicht für Fußball interessieren, können Sie heute Abend schöne Musik hören. Nein, nicht im Halbfinale des Eurovision Song Contests (da wird nur schrilles Zeugs gekräht). Eher etwas in dieser Art (habe ich gestern Abend auf dem Nachhauseweg wiederentdeckt). Falls Sie aber auch nur ein klitzekleines bisschen Ballbegeisterung im Blut haben, dürfen Sie den Champions-League-Kracher natürlich nicht verpassen: Die Filigrantechniker von Real Madrid empfangen um 21 Uhr im Halbfinale die Konterfußballer von Manchester City. Mit dabei: Ballermann Erling Haaland, der sich mit einer besonderen Schlaftechnik fit hält.


Lesetipps

Die obskure Anastasia-Bewegung gewinnt in Deutschland an Boden: Die Öko-Sekte aus Russland kauft immer mehr Grundstücke und errichtet darauf "Familienlandsitze". Warum das gefährlich ist, erklärt Ihnen mein Kollege Tobias Eßer.


Wird Recep Tayyip Erdoğan den Präsidentenpalast räumen, falls die Opposition am Sonntag die Wahlen gewinnt? Der Türkei-Experte Maurus Reinkowski erklärt im Interview mit meinem Kollegen Marc von Lüpke, warum er daran zweifelt.




Zum Schluss

Der Winter dauerte viel zu lang. Nun blühen endlich auch im Norden die Magnolien. Gibt es Schöneres?

Ich wünsche Ihnen einen schönen Tag.

Herzliche Grüße

Ihr

Florian Harms
Chefredakteur t-online
E-Mail: t-online-newsletter@stroeer.de

Mit Material von dpa.

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