Russlands Militärparade am 9. Mai Putin bekommt es mit der Angst zu tun
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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Eigentlich wollte Wladimir Putin am "Tag des Sieges" Erfolge in der Ukraine feiern, aber die gab es in den vergangenen Kriegsmonaten kaum. Stattdessen muss der Kremlchef am 9. Mai um seine Sicherheit fürchten.
Er würde wahrscheinlich am liebsten einfach zu Hause bleiben, aber das geht nicht. Wladimir Putin steht vor dem "Tag des Sieges" über Nazi-Deutschland – der wichtigste nicht-religiöse Feiertag in Russland – immer stärker unter Druck. Eigentlich braucht er eine große Militärshow, um Stärke zu demonstrieren und seine Bevölkerung auf weitere harte Kriegsmonate mit hohen Verlusten einzustellen. Aber die Demonstration der Stärke fällt in diesem Jahr ins Wasser.
Der diesjährige 9. Mai wird im Vergleich mit vergangenen Jahren ein leiser Feiertag in Russland. Mindestens 20 russische Städte haben beschlossen, die Feierlichkeiten abzusagen, und nur wenige internationale Staatsgäste verirren sich nach Moskau. Der russische Präsident hat außerdem am Freitag die Vorbereitungen zur Siegesparade am Dienstag mit seinem nationalen Sicherheitsrat erörtert. Ein ungewöhnlicher Schritt, der vor allem eines zeigt: Putin ist nervös.
Der Kremlchef meidet seit dem Beginn seiner Invasion in der Ukraine große Menschenmengen, aber der Feiertag am 9. Mai ist zu wichtig, um fernzubleiben. Trotzdem wird das Programm möglichst kurz gehalten, um das Risiko für Putin zu minimieren.
Feiertag im Schatten von Drohnen-Vorfällen
Die Sicherheitslage in Moskau ist angespannt. Der Rote Platz ist seit zwei Wochen für die Öffentlichkeit gesperrt, Straßen sind verbarrikadiert. Allein in der vergangenen Woche gab es Angriffe auf russische Güterzüge, am Mittwoch explodierten zwei Drohnen über dem Kreml, und am Samstag wurde der russische Schriftsteller und Nationalist Sachar Prilepin durch eine Autobombe schwer verletzt.
Vor allem die Drohnen-Vorfälle haben der russischen Elite zugesetzt: Der Moskauer Bürgermeister Sergej Sobjanin beschloss umgehend ein Verbot von Drohnen. Dutzende anderer Regionen sind seitdem gefolgt. Die Behörden haben außerdem damit begonnen, GPS-Signale zu stören. Die Polizei sei mit Ferngläsern ausgerüstet worden, um ankommende Drohnen erkennen zu können, berichtet der "Guardian".
Dabei ist noch immer völlig unklar, wer für die explodierenden Drohnen verantwortlich ist. Der Kreml spricht von einem Terrorakt und wirft der Ukraine vor, Kiew habe auf Befehl der USA ein Attentat auf Putin verüben wollen. Die ukrainische Führung streitet dies hingegen ab und bringt eine russische Operation unter falscher Flagge ins Gespräch.
Möglicherweise sind beide Lesarten Kriegspropaganda. Putin hält sich seit Kriegsbeginn nur noch selten im Kreml auf und war auch zur Zeit des angeblichen Angriffs nicht vor Ort. Das wissen auch die Ukrainer. Ein ukrainischer Drohnenangriff auf den Kremlchef, wie die russische Propaganda behauptet, wäre schon alleine deswegen unlogisch.
Andererseits ist auch die Theorie der Operation unter falscher Flagge wenig überzeugend: Damit würden die Russen nur ihre eigene Verletzbarkeit demonstrieren. Aus russischer Perspektive ist Moskau die Hauptstadt einer Großmacht mit einer ausgezeichneten Luftverteidigung. Solche Drohnenangriffe, nur um sie der Ukraine in die Schuhe zu schieben, wären ein Treffer ins Herz des russischen Machtzentrums, auch Putin wäre beschädigt.
Traditioneller Marsch abgesagt
Die Unruhe innerhalb der russischen Führung ist entsprechend groß. Der frühere russische Präsident und derzeitige Vorsitzende des Sicherheitsrates, Dmitri Medwedew, forderte die "physische Beseitigung" des ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj.
Und auch Putin lässt es anscheinend nicht kalt. Eine der bekanntesten Veranstaltungen am 9. Mai, der "Marsch des unsterblichen Regiments" wurde gestrichen. Die Prozession ist ein Gedenkmarsch für die russischen Opfer des Zweiten Weltkriegs und findet gewöhnlich nach der Militärparade statt. Dabei marschiert Putin mit den Angehörigen der Kriegsopfer zusammen, die Bilder ihrer Ahnen hochhalten. Im vergangenen Jahr waren auch Familien anwesend, die Opfer des Ukraine-Kriegs beklagten.
Eine Erklärung für den Ausfall des Gedenkmarsches liefert der Kreml nicht. Einerseits gilt Putin als äußerst misstrauisch, Kreml-Experten beschreiben ihn als fast schon paranoid. Deswegen könnte er das Bad in der Menge meiden wollen. Andere Experten wiederum sehen in der Absage einen kalkulierten Schritt, um das Risiko zu vermeiden, dass irgendetwas vom Drehbuch des Kremls abweicht. Schließlich könnte durch die Prozession deutlich werden, wie viele Soldaten Russland wirklich im Ukraine-Krieg verliert.
"Es gibt eine Nervosität"
Putin wird am 9. Mai sicherlich nichts dem Zufall überlassen. Bereits am vergangenen Wochenende probte die russische Armee die Militärparade. Es werden wahrscheinlich junge Rekruten und Wehrpflichtige und ihre Ausbilder marschieren, weil zu viele Kräfte der russischen Armee in der Ukraine kämpfen müssen. Es ist wahrscheinlich, dass Moskau die Waffensysteme präsentieren wird, die man in der Ukraine noch nicht benötigt: etwa mobile Abschussvorrichtungen für russische Interkontinentalraketen oder den neuesten Panzer T-14 Armata, der vermutlich fahren, aber noch nicht kämpfen kann.
Der Mangel an verfügbaren Kräften war wahrscheinlich der Grund dafür, warum mindestens 20 russische Städte ihre Paraden absagen mussten. "Die Absage der Paraden kann als ein weiteres Zeichen dafür gewertet werden, dass die Dinge sehr schlecht laufen", sagte Abbas Gallyamov, ein ehemaliger Redenschreiber des Kremls, dem Politikmagazin "Politico".
Tatsächlich bleiben die militärischen Erfolge für die russische Armee in der Ukraine aus. Die Neujahrsoffensive brachte kaum erkennbare Gewinne, und in über einem halben Jahr mit erbitterten Kämpfen und hohen Verlusten ist es Russland immer noch nicht gelungen, Bachmut komplett zu erobern. Im Gegenteil: Wagner-Chef Jewgeni Prigoschin kündigte zunächst in einem wütenden Video seinen Rückzug aus Bachmut an, ruderte dann später zurück. Auch aus militärischer Perspektive hat Putin demnach momentan wenig zu feiern.
In vergangenen Jahren hatte er außerdem am 9. Mai immer prominente Staatsgäste geladen, die mit ihm auf der Tribüne die Parade verfolgten. Es war Ausdruck des Zusammenhalts gegen den Faschismus, auch noch viele Jahrzehnte nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs. Aber auch damit ist Schluss, spätestens seit dem 22. Februar 2022 ist Putin international zum Paria geworden. Deswegen stand am Tag des Sieges im großen "Vaterländischen Krieg" – wie der Zweite Weltkrieg in Russland genannt wird – zunächst nur ein Staatsgast auf der Einladungsliste: der kirgisische Präsident Sadyr Dschaparow. Ein Sinnbild für Putins Isolation.
Erst am Montag wurde bekannt, dass der Kreml für den 9. Mai nun doch den Besuch der Präsidenten aus Kasachstan und Tadschikistan erwartet, auch der armenische Premierminister soll erscheinen. In letzter Sekunde versucht Moskau, die Lücken auf der Tribüne zu füllen, in den Fällen von Kasachstan und Armenien mit Verbündeten, die den russischen Angriffskrieg nicht offiziell unterstützen. Für Putin eine Notlösung. Auch der belarussische Machthaber Alexander Lukaschenko reiste nach Moskau und verzichtete damit auf die Teilnahme bei der Parade in Minsk. Es deutet darauf hin, dass Moskau im Vorfeld Druck auf seine Vasallenstaaten gemacht hat.
Es soll laut Planungen des Kremls trotzdem ein ruhiger Feiertag in Russland werden. Ein Beamter im Büro des Moskauer Bürgermeisters sagte dem "Guardian": "Es gibt eine Nervosität, die ich noch nie zuvor gesehen habe. Aber der Tag des Sieges muss stattfinden, es gibt keine andere Option."
Fatales Signal für Putin, wenn er nicht kommt
Aber warum? Für Putin wurde der "Tag des Sieges" zum ideologischen Pfeiler seiner Macht in Russland. Aus der Perspektive des Kremlchefs markiert der Sieg im Zweiten Weltkrieg die Geburt der Sowjetunion als Supermacht. Dieses Großmachtdenken ließ Putin in den vergangenen Jahren immer wieder von seiner Propaganda befeuern. Es gab neue Kriegsfilme, und Putin besuchte pompöse Theatervorstellungen, in denen Matrosen auf einem Kriegsschiff Schlachten im Weltkrieg nachspielten.
"Für Putin ist es bei Weitem das wichtigste Ereignis des Jahres", sagte Andrej Kolesnikow, Analyst der Carnegie Stiftung für Internationalen Frieden in Moskau, dem "Guardian". "Putin bezieht seine gesamte Legitimität aus der Parade und bezeichnet sich selbst als direkten Nachfolger der Armee, die Nazi-Deutschland besiegt hat."
Es erscheint als klar, dass der russische Präsident auch die diesjährige "Siegesrede" am 9. Mai nutzen wird, um sein Kriegsnarrativ weiterzuspinnen. Im vergangenen Jahr behauptete er, die russische Armee kämpfe in der Ukraine, "damit es auf der Welt keinen Platz für Schlächter, Mörder und Nazis gibt". Putin weiter: "Der Sieg wird unser sein, wie 1945."
Der ganze Feiertag ist letztlich das zentrale Machtinstrument des Kremls, um innenpolitisch Stärke zu demonstrieren. Doch nach mehr als 14 Kriegsmonaten muss die russische Führung kreativ werden. Sie hat eigentlich keine Kapazitäten für Paraden. Hinzu kommt, dass der Präsident wahrscheinlich Angst um eine eigene Sicherheit hat. Aber Putin will Stärke demonstrieren, kann es sich nicht leisten, an dem Feiertag in seinem Bunker zu bleiben – vielleicht schickt er einen Doppelgänger? Für die Kreml-Propaganda ist vor allem eines wichtig: Nichts darf am 9. Mai schiefgehen.
- theguardian.com: A ‘nervousness never seen before’ hits Moscow before Victory Day parades (engl.)
- wsj.com: Russia’s Victory Day Expected to Be Muted This Year (engl.)
- politico.eu: Reality of war rains on Russia’s Victory Day parade (engl.)
- fr.de: Russland feiert 9. Mai fast allein – nur ein ausländischer Staatschef leistet Putin Gesellschaft
- Eigene Recherche