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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Türkei vor den Wahlen "Erdoğan ist dies durchaus zuzutrauen"
Die Herrschaft Recep Tayyip Erdoğans über die Türkei soll enden – das will die Opposition bei den Wahlen erreichen. Doch ist der Langzeitherrscher überhaupt bereit, von der Macht zu lassen? Türkeiexperte Maurus Reinkowski bezweifelt es.
Als vermeintlicher Reformer war Recep Tayyip Erdoğan 2003 angetreten, doch er regiert die Türkei immer autokratischer. Nun entscheiden die Türkinnen und Türken am 14. Mai, ob sie Erdoğan weiter als Präsidenten an der Staatsspitze wollen. Wie sehr hat der Langzeitherrscher das Land aber verändert? Und wird er die Macht aufgeben? Dieses Fragen beantwortet Islamwissenschaftler Maurus Reinkowski im Gespräch.
t-online: Professor Reinkowski, seit 2003 baut Recep Tayyip Erdoğan die Türkei nach seinen Vorstellungen um. Könnte seine Herrschaft bei den nun anstehenden Wahlen enden?
Maurus Reinkowski: Eine Niederlage ist für Erdoğan nicht akzeptabel, ebenso wenig wie der Gang seiner AKP in die Opposition. Dem steht allein die historische Selbstsicht Erdoğans und seiner Anhänger entgegen: Nach der jahrzehntelangen Herrschaft einer westlich orientierten Technokratenelite habe mit der Regierungsübernahme der AKP Anfang des Jahrtausends endlich die eigentliche Mehrheit der Menschen die Macht erhalten.
1923 hat der bis heute verehrte Kemal Atatürk die Türkei nicht nur begründet, sondern ihr mit dem Kemalismus auch eine eigene Ideologie verordnet. Wie viel davon hat Recep Tayyip Erdoğan übrig gelassen?
Der Kemalismus ist eine überaus vage Ideologie – und daher durchaus anpassungsfähig. Ihm ist vor allem ein starker Nationalismus zu eigen, damit hat Erdoğan nun wirklich kein Problem. Außerdem ist es in der Türkei geradezu unmöglich, nicht mit dem Kemalismus in Kontakt zu kommen. In Kindergarten und Schule wurde man jahrzehntelang im Sinne des Kemalismus erzogen.
Maurus Reinkowski, Jahrgang 1962, lehrt Islamwissenschaft an der Universität Basel. Reinkowski ist Experte für die Geschichte des Osmanischen Reichs und der Türkei, 2021 erschien sein Buch "Geschichte der Türkei. Von Atatürk bis zur Gegenwart".
Also formt Erdoğan den Kemalismus einfach nach seinen Vorstellungen um?
So ist es. In seiner Rhetorik grenzt sich Erdoğan ständig vom Kemalismus ab. Das tut er aber nur zur Schau. Ganz im Gegenteil, Erdoğan teilt einige Aspekte von Atatürks Ideologie. Darunter neben dem Nationalismus nicht zuletzt den Glauben, dass eine Gesellschaft geformt werden kann.
Wie steht es mit dem Populismus, den Atatürk als eine auf die Interessen des "Volkes" definierte Politik definierte hatte?
Erdoğan ist ein lupenreiner Populist. Immerzu weist er darauf hin, was in früheren Zeiten schlecht gewesen sei – und was er im Gegenzug an Großartigem geschaffen habe. Das ist ein typisches Argumentationsmuster von Populisten. Er ist aber auch ein Demagoge, weil er mit der Macht des Wortes Sachverhalte verzerrt und Menschen manipuliert. Erdoğan als Autokraten zu bezeichnen, ist sicher ebenfalls richtig.
Ähnlich wie bei Wladimir Putin in Russland stellt sich auch bei Erdoğan die Frage, ob er von Beginn an derartige Pläne verfolgt hat.
Das wäre der eine Erklärungsansatz: Erdoğan hat von Anfang an nur auf die passende Gelegenheit gewartet. Die andere Theorie geht davon aus, dass er sich nach und nach radikalisiert hat.
Welche Erklärung halten Sie für wahrscheinlicher?
Erdoğan hatte schon immer autokratische Tendenzen, dann hat er sich tatsächlich immer weiter radikalisiert. Schauen wir auf die Fakten: Zu Beginn war er durchaus Ratschlägen gegenüber offen, sprach mit verschiedensten politischen Akteuren. Dann, in den späten 2000er-Jahren, kapselte Erdoğan sich ab, man kam nicht mehr an ihn heran.
Als Erdoğan 2003 Regierungschef wurde, musste er sich auch noch vor dem damals mächtigen Militär hüten, das mehrmals in der türkischen Geschichte erfolgreich geputscht hat. Die Generäle betrachteten sich als die Hüter des Kemalismus.
Richtig. Die Macht des Militärs war damals noch ungebrochen, es gab auch noch interne Konkurrenz. 2016 scheiterte dann ein weiterer Putschversuch nach den erfolgreichen Putschen von 1960 und 1980, seitdem kann sich Erdoğan völlig sicher fühlen.
In just diesem Jahr titulierte der Satiriker und Europaparlamentarier Martin Sonneborn Erdoğan als "Irren vom Bosporus".
Verrückt ist Erdoğan mit Sicherheit nicht. Er kalkuliert allerdings skrupellos und erreicht in vielen Fällen seine Ziele. Immer wieder schürt er etwa den historischen Konflikt mit dem Nachbarland Griechenland oder droht der Europäischen Union mit den Flüchtlingen, die die Türkei etwa aus Syrien aufgenommen hat. Bei den eigenen Anhängern trägt ihm dies sogar Beifall ein – so verwerflich diese Handlungen auch sind. Auf der anderen Seite hat die Türkei das Getreideabkommen zwischen den Kriegsparteien Ukraine und Russland vermitteln können.
In Westeuropa wird die Türkei immer wieder gerne als sogenannte "Brücke" zwischen Orient und Okzident bezeichnet. Im Land selbst wird dieses Bild allerdings abgelehnt, wie Sie in Ihrem Buch "Geschichte der Türkei. Von Atatürk bis zur Gegenwart" schreiben. Warum?
Gegen das metaphorische Bild einer Brücke ist an sich nichts einzuwenden. Was in der Türkei daran allerdings als störend empfunden wird, ist der "dienende" Aspekt eines solchen Bauwerks. Es ist ein Objekt, über das man hinwegschreitet. Genau davon will sich die Türkei lösen, nicht erst seit Erdoğan an der Macht ist. Derartige Bestrebungen kamen schon vor dem Zusammenbruch der Sowjetunion 1991 auf.
Der frühere AKP-Ministerpräsident Ahmet Davutoğlu sprach lieber von der Türkei als "Schlüsselstaat" denn als "Brücke".
Davutoğlu definierte die Türkei tatsächlich als so einen Schlüsselstaat an der Schnittstelle mehrerer Großregionen, er vertrat eine Politik der "null Probleme", die sein Land mit den Nachbarstaaten haben sollte.
Der von Erdoğan immer wieder angefachte Streit mit Griechenland und die türkische Politik gegenüber dem Bürgerkriegsland Syrien strafen diesen Ansatz aber Lügen.
Griechenland und Bulgarien, Syrien, Irak, Iran oder auch Armenien – wohin man damals auch schaute, mit kaum einem Nachbarstaat pflegte die Türkei in der Vergangenheit gute Beziehungen. Davutoğlu wollte dieses Schema aufbrechen, in dem die Türkei eine Rolle als Moderator einnehmen sollte. Als dann aber ab 2010 eine Arabischer Frühling genannte Welle von Revolutionen begann, die mit Tunesien beginnend auch bald den Nahen Osten erreichte, schienen sich neue Möglichkeiten für die Türkei aufzutun.
Moderat lässt sich die türkische Außenpolitik seit damals sicher nicht beschreiben.
Keinesfalls. Die Türkei definiert sich nun als Mittelmacht, Erdoğan will türkische Interessen durchsetzen. So wie er sie definiert. Das ist ihm auch ziemlich gut gelungen. Interessant ist, dass sich parallel die türkische Innenpolitik radikalisiert hat.
Bereits seit 1999 gilt die Türkei als Beitrittskandidatin der Europäischen Union. Hätte eine Mitgliedschaft im Staatenverbund Schlimmeres verhindern können? Günter Verheugen als früherer EU-Kommissar für Erweiterungspolitik äußerte sich einmal in diese Richtung.
Die Türkei wäre ein überaus schwieriges EU-Land. Vom sogenannten Kurdenkonflikt, der immer noch akut ist, ganz abgesehen. Auch das Beispiel Ungarn zeigt, dass der Abbau von Rechtsstaat und Demokratie auch innerhalb der EU durchaus möglich ist.
Aber ist die Türkei nicht auch ein schwieriger Nato-Partner? Der Aufnahme Finnlands in das Verteidigungsbündnis hat Erdoğan mittlerweile zugestimmt, Schweden muss weiter warten.
Erdoğan ließ die Muskeln spielen, er wollte demonstrieren, dass die Türkei ihre eigene Politik macht. Am Ende lief es auf Erpressung hinaus – in Hinsicht auf Erdoğan unliebsame Personen, die in den beiden Ländern Zuflucht gefunden hatten.
Unliebsam und besorgniserregend dürfte Erdoğans Rhetorik in den Staaten empfunden werden, die einst Teile des Osmanischen Reichs gewesen sind. "Als Folge von Lügen und diplomatischer Ränke", so behauptete es Erdoğan 2018, sei "unser Vaterland von fünf Millionen Quadratkilometern" auf die gegenwärtige Größe der Türkei "geschrumpft" worden.
Von den zahlreichen Staaten, die einst zum Osmanischen Reich gehört haben, ist die Türkei der einzige, der sich als Nachfolger eben dieses Imperiums versteht. Das liegt daran, dass vor allem ab dem 19. Jahrhundert Türken als die tragende ethnische Gruppe des Osmanischen Reiches hervorgetreten sind. Insofern gibt es eine Kontinuität aus der späten Osmanischen Zeit hinein in die Republik Türkei. Genau damit spielt Erdoğan, wenn er solche Sätze sagt.
Während der türkische Präsident aber immer wieder an einstige "Größe" erinnert, will er die Erinnerung an den seit 1915 verübten Genozid an den Armeniern während des Ersten Weltkriegs lieber vergessen machen.
Leider ist das so. Die Gewaltgeschichte zwischen 1910 und 1930 wurde insgesamt über Jahrzehnte in der Türkei ausgeblendet. Auch wenn es eine für die Türkei unangenehme Wahrheit ist: Die Ermordung der Armenier war ohne jeden Zweifel ein Völkermord.
Warum fällt dieses Eingeständnis aber derart schwer?
Es kommen viele Gründe zusammen: Entschädigungszahlungen werden befürchtet, vor allem aber auch, dass die große Erzählung von der Entstehung des türkischen Nationalstaats Schaden nehmen könnte. Im erwähnten Zeitraum kam es zu einer ungeheuren Entladung von Gewalt, parallel zum Genozid an den Armeniern fand ein zweiter etwa an den Assyrern statt. Die Leugnung dieser Ereignisse haben Kemal Atatürk und Erdoğan gemein.
Atatürk hatte in der jungen Türkei einst den Laizismus verordnet, also die Trennung zwischen Staat und Religion. Unter Erdoğan kam es hingegen zu einer "Re-Islamisierung", Symbol dafür ist das Weltkulturerbe Hagia Sophia in Istanbul, das seit 2020 wieder als Moschee genutzt wird.
Die Türkei hat niemals einen derart strikten Laizismus wie etwa Frankreich eingeführt. Atatürk wollte etwas anderes erreichen – und zwar den islamischen Rechtsgelehrten die Definitionsgewalt über die Religion entwinden. Diese übergab er mit der Diyanet İşleri Başkanlığı, der obersten Religionsbehörde, einer staatlichen Einrichtung, die er selbstverständlich kontrolliert hat. Gegen Kontrolle hat auch Erdoğan nichts.
Die Wirtschaft kann Erdoğan allerdings nicht nach Gutdünken lenken. Nach überaus erfolgreichen Jahren besorgt etwa eine extreme Inflation die Wählerinnen und Wähler. Von den allgemein anderen schlechten Nachrichten aus der Wirtschaft noch ganz abgesehen.
Für den wirtschaftlichen Erfolg der Vergangenheit wird Erdoğan von vielen Menschen bewundert. Ein solcher Erfolg war ja auch durchaus sichtbar: Als ich in den Achtzigerjahren zum ersten Mal nach Istanbul gereist bin, war der Flughafen winzig. Heute hat die Metropole einen der größten Airports der Welt, ebenso wie das Streckennetz von Turkish Airlines gewaltig ist. Seit mindestens zwei Jahren steckt nun aber die türkische Wirtschaft in einer schweren Krise. Die gegenwärtige desolate Lage ist daher ein Problem für Erdoğan.
Wie auch bei der Erdbebenkatastrophe vom vergangenen Februar, bei der Erdoğan, seine Regierung und die Behörden weitgehend versagt haben?
Sein Ansehen hat zweifellos gelitten. Abschreiben würde ich ihn aber noch nicht. Er bedient sehr geschickt einen Opfermythos, was bei Teilen der Bevölkerung gut ankommt. So die Behauptung, dass die ländliche Bevölkerung Anatoliens lange unterdrückt worden wäre von den Eliten, Erdoğan dies aber geändert habe. Wir wissen auch nicht, was noch passieren wird.
Wären Wahlfälschungen denkbar?
Erdoğan ist dies durchaus zuzutrauen. Es kann auch sein, dass seine AKP im Falle einer Niederlage sich damit behelfen wird, dass sie alle Schaltstellen der Macht fest besetzt hat – und im Notfall um eine neue, rechtmäßig gewählte Regierung gewissermaßen herum regieren wird. Voraussetzung dabei ist natürlich, dass das Präsidentenamt in den Händen von Erdoğan bleibt.
Professor Reinkowski, vielen Dank für das Gespräch.
- Persönliches Gespräch mit Maurus Reinkowski via Videokonferenz