Der Fall Uwe Barschel Ermittler zweifeln bis heute an der Selbstmordthese
War der Tod von Uwe Barschel kein Suizid, sondern ein Mord? Am 13. Mai wäre der
Er hat sich erschossen. Er ist ertrunken. Er kannte keinen Ausweg mehr. An diesem Herbstwochenende vor 32 Jahren wabern Gerüchte, Falschmeldungen und Irrtümer durch deutsche Medien. Unbestritten ist, was die "Bild"-Zeitung in einer Schlagzeile am folgenden Montag so zusammenfassen wird: "Uwe Barschel tot im Hotel".
Tod in Hotelbadewanne
Uwe Barschel. Er war der jüngste Ministerpräsident Deutschlands. Vielleicht auch der ehrgeizigste. Ein konservativer Knochen aus kleinsten Verhältnissen. Schnell aufgestiegen in der CDU Schleswig-Holsteins und ein Hoffnungsträger der Partei. Hart im Handeln wie als Innenminister gegen Kernkraftgegner. Verbandelt mit einflussreichen Kreisen hatte er Freya zur Frau, eine gebürtige von Bismarck. Im Frühjahr 1987 überlebte er als einziger einen Flugzeugabsturz. Doch er war verletzlich. Über Jahre nahm er Tavor ein, das Beruhigungsmittel. In immer größeren Dosen. Bis zu seinem frühen Ableben.
Es ist Sonntag, der 11. Oktober 1987, 12.43 Uhr. Vorsichtig tastet sich "Stern"-Reporter Sebastian Knauer ins Badezimmer von Zimmer 317 vor. Im Genfer Hotel "Beau Rivage" will er den zwei Wochen zuvor zurückgetretenen schleswig-holsteinischen Regierungschef interviewen. Er hat, wie ist unklar, von dem Flug Barschels von dessen Urlaubsinsel Gran Canaria nach Genf Wind bekommen und auch vom Namen des Hotels in der Schweiz. Die Zimmertür dort, so wird er später aussagen, war unverschlossen. Im Bad sieht Knauer eine leblose, bekleidete Gestalt in der Wanne. Barschels Leiche ragt mit Kopf, Zehen und einer mit einem Handtuch umwickelten Hand aus dem Wasser. Die Haut ist aufgedunsen. Knauer macht ein Foto des Toten.
Nachdem um 14 Uhr der Tatortdienst der Genfer Kripo vor Ort erschienen ist, verbreiten Schweizer Polizei und die Genfer Untersuchungsrichterin Nicole Nardin schnell, sehr schnell ihre eigene Wahrheit: Der Politiker, der seinen Gegenkandidaten bespitzelt haben soll und einen Monat lang die Nachbarrepublik in Aufruhr versetzte, habe Suizid begangen. "Es gibt keine Spuren eines gewaltsamen Todes", sagt Nardin auf einer Pressekonferenz am Dienstag nach der Entdeckung. Ein Medikamentenmix in tödlicher Dosis habe dem Leben ein Ende gesetzt.
Wichtige Beweise nicht korrekt aufgenommen
Dabei haben die Schweizer höchst "oberflächlich" gearbeitet, wie es später deutsche Behörden kritisieren. Knauer musste keine Fingerabdrücke abgeben. Die Temperaturen weder des Toten noch des Badewassers wurden gemessen – Daten, die zur Bestimmung einer Todeszeit essenziell sind. Medikamentenpackungen aus dem Hotelzimmer landeten auf dem Müll. Auch die Kamera der Ermittler hat unscharfe Bilder geliefert. Die Polizei muss auf "Stern"-Aufnahmen zurückgreifen.
Die deutsche Öffentlichkeit nimmt Nardins Erklärung geschockt, aber ohne Widerspruch hin. Für sie ist ein Selbstmord logisch. Das liegt an der verbreiteten Meinung im Land seit dem 14. September, dem Tag, an dem der "Spiegel" seine Waterkantgate-Story veröffentlichte. Hatte CDU-Regierungschef Barschel vor den Landtagswahlen in Kiel seinen sozialdemokratischen Herausforderer Björn Engholm nicht gemobbt, ihn beobachten und verleumden lassen?
Hatte er nicht sein "Ehrenwort" gegeben, von solchen schmutzigen Tricks seines Mitarbeiters Reiner Pfeiffer rein gar nichts zu wissen? Wurde Barschel dann nicht der Lüge überführt? Musste er, von seiner eigenen Partei fallen gelassen, nicht deshalb auch gehen? Und: Ist das nicht ein Motiv für den "Bilanz-Selbstmord" eines ehrgeizigen, aber gescheiterten Spitzenpolitikers? "Sterben nach Plan" titelt der "Spiegel" Tage später.
Wenn Mord: Durch wessen Hand?
Die Barschel/Pfeiffer/Engholm-Affäre und ihr finales Drama in dem Genfer Hotel, vor dem 1898 schon Österreichs Kaiserin Sissi ermordet wurde, ist ein Einschnitt in der Geschichte der alten Bundesrepublik. Doch der Leichenfund sollte sich zum rätselbeladenen Thriller entwickeln. Ein Unbekannter namens "Roloff" wird darin eine Rolle spielen. Barschel wollte ihn in Genf treffen, um mehr über die Hintergründe der Pfeiffer'schen Spitzelbehauptungen zu erfahren. Geheimdienste wie CIA, BND, Mossad und Stasi sind die Zutaten. Die nächsten 32 Jahre streiten Barschel-Familie, Politik, Medien und zwei heute pensionierte Staatsanwälte miteinander: War es Suizid oder Mord? Wenn Mord: Durch wessen Hand? Warum?
Interne Zweifel an der eigenen Selbstmordthese gab es unter den Schweizer Ermittlern früh. Das belegt ein siebenseitiges Protokoll des Bundeskriminalamtes, dessen Freigabe der Internetblog "Frag den Staat" im August 2018 erreicht hat. Es gibt den Verlauf einer Sitzung am 16. Oktober 1987 bei der Kantonspolizei Genf wieder. Neben der Untersuchungsrichterin Nardin waren unter den neun Teilnehmern zwei deutsche Polizeibeamte vom BKA und vom Landeskriminalamt Kiel.
Nicht nur, dass der mitschreibende BKA-Beamte ein vorsichtiges Abrücken Nardins von ihrer Position feststellt: "Die Aussage zu einem möglichen Selbstmord wurde in einer Vorbesprechung stärker dargestellt." Er zitiert auch einen Gerichtsmediziner: Letztlich sei Fremdeinwirkung nicht auszuschließen.
Verdächtiges Chaos am Tatort
Die Genfer Runde wird an diesem Tag über erste Ergebnisse informiert. Über Asservate und Auffälligkeiten an Tatort und Leiche. Über ausgeprägte Flecken in Barschels Gesicht und Druckstellen am Mund. Über Schuhspuren, ein zerbrochenes Weinglas und eine verschwundene Rotweinflasche. Ein abgerissener Hemdknopf wurde gefunden, ein Whisky-Fläschchen mit farblosen Flüssigkeitsresten.
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Zur mutmaßlichen Todesursache, dem Arznei-Mix: Cyclobarbital war die tödlichste der acht Substanzen, die man am Ende im Körper Barschels sichergestellt hat. Doch das verdächtige Chaos am Tatort erschüttert die Schweizer Fahnder nicht in ihrer Haltung nach außen: Der 43-Jährige hat die lähmenden und tödlichen Substanzen selbst geschluckt, sich in die Wanne gelegt und ist verstorben.
Am 24. Oktober öffnen in Hamburg deutsche Gerichtsmediziner den Körper ein zweites Mal. Es fehlt das Herz, dafür liegt im Brustkorb ein Gummihandschuh. Sie diagnostizieren eine schwere Schädelverletzung, ein 10 mal 5 Zentimeter großes Hämatom unter der Haut. Ursache kann ein heftiger Schlag mit einem sandgefüllten Schlauch sein, der in Verbrecherkreisen genutzten "Katze". Aber eben auch nur ein Stoß, den sich ein schwankender Barschel am Türrahmen selbst zufügte.
Presse spekuliert über Anweisungen an Ermittler
In jedem anderen ungeklärten Todesfall hätten zu diesem Zeitpunkt tiefer gehende Ermittlungen eingesetzt. Doch wie in der Schweiz ist auch in Deutschland das Interesse an der Aufklärung begrenzt. Die Todessache Barschel kommt sieben Jahre zu den Akten. Nur die Suizidannahme bleibt im Raum. Die "Basler Zeitung" hatte schon am 15. Oktober 1987 über einen vertraulichen Hinweis berichtet, nach dem das wohl gewollt war: Die "politischen und die Justizbehörden haben von gewichtiger deutscher Seite ... den Wunsch übermittelt bekommen, dass es in aller Interesse wäre, wenn man diesen Fall als Selbstmord einstufen könnte".
Wie ist Uwe Barschel wirklich gestorben? Die Behörden sind untätig, jetzt treiben Familie und Journalisten die Klärung voran. Der renommierte Zürcher Forensiker Hans Brandenberger gibt im ZDF seine Einschätzung: Er berichtet, die acht Gifte seien "in zeitlicher gestaffelter Zufuhr" in den Körper gelangt. Zuerst die ungefährlicheren mit einschläfernder Wirkung. Stunden später das tödliche Cyclobarbital. Was im Fall eines Suizids bedeutet: Uwe Barschel hätte sich das entscheidende Gift in bewusstlosem Zustand einflößen müssen.
Die Familie Barschel drängt über den Bundesgerichtshof zur Wiederaufnahme. 1994 übernimmt der Lübecker Oberstaatsanwalt Heinrich Wille die Ermittlungen. Willes Team glaubt: Viel mehr passt nicht zum Suizidverdacht. Die Schuhabdrücke enthalten chemische Substanzen. Da ist der gewaltsam abgerissene Hemdenknopf, was Barschel kaum selbst erledigt haben kann. Im Whisky-Fläschchen finden die Lübecker Fahnder Reste von Diphenhydramin, einem der Gifte im Körper des Toten. Die Flasche wurde entweder von Barschel oder Unbekannten ausgespült.
War eine zweite Person im Raum?
Wille schlussfolgert: "Für einen Selbstmörder macht das keinen Sinn." Eine zweite Person muss im Raum gewesen sein. Ein Sterbehelfer. Oder ein Mörder. 2012 stellt das Kieler LKA nach einer DNA-Untersuchung fest, dass an der Kleidung Barschels und an einem Hotelhandtuch tatsächlich genetische Mischspuren einer fremden Person hafteten. Zugeordnet werden können sie nach so langer Zeit nicht mehr.
Dennoch: Willes Engagement hat Gegner. Der heftigste ist der Kieler Generalstaatsanwalt Erhard Rex. Dem ist die Verdachtslage der Lübecker viel zu dünn, um als Nachweis für ein Tötungsdelikt zu dienen. "Hemdenknöpfe pflegen abzureißen", meint er, und das Verhalten von Selbstmördern sei unberechenbar. In einer 61-seitigen, persönlichen Stellungnahme 2007 stellt Rex zudem fest: Bei der Suche nach möglichen Tatmotiven dürfe man als Jurist nicht auf Gerüchte bauen.
Die Gerüchte: DDR, BND, CIA, Mossad
Wahr ist aber auch, dass Leben und Sterben des Uwe Barschel die Gerüchtejagd nahezu herausfordern. 19 Mal soll er sich heimlich in der DDR aufgehalten, in Prag mit Waffenhändlern geredet haben. Er hatte laut Wille gesichert CIA-Kontakte und muss von illegalen U-Boot-Exporten der Kieler HDW-Werke nach Südafrika gewusst haben. Zur Zeit des Todes hielt sich BND-Agent Werner Mauss im Genfer Nachbarhotel "Richmonde" auf.
Nur Zufälle? Oder sind mögliche Mordmotive gerade in solchen Verbindungen zu suchen? Schließlich: Wer war dieser angebliche Informant namens "Roloff", den Barschel in der Schweiz unbedingt treffen wollte? Vielleicht ein Lockvogel, angeheuert von Mördern mit ganz anderen Interessen? Oder Barschels ureigene Erfindung, um seinen beabsichtigten Suizid als kaltblütigen Geheimdienstmord zu tarnen?
Hinter den letzten Fragezeichen enden die gesicherten Fakten der Barschel-Geschichte. Es bleiben Spekulationen, anonyme Bekennerbriefe vermeintlich todkranker Auftragsmörder ("Mrs. Barschel, ich habe Ihren Mann getötet") und Behauptungen von Autoren wie Victor Ostrowsky, einem Ex-Mossad-Agenten: Sein Arbeitgeber habe den Mord an Barschel befohlen, weil dieser über die Operation "Hannibal" auspacken wollte. Das soll 1987, während des Iran/Irak-Konflikts, ein Plan zur Ausbildung iranischer Militärpiloten durch Israelis auf norddeutschen Flugplätzen gewesen sein. Bonn und die CIA hätten davon gewusst. Der südafrikanische Waffenhändler Stoffberg hingegen hielt den späteren CIA-Chef und US-Verteidigungsminister Robert Gates für den Täter.
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Wille und Rex, die Spitzenjuristen, sind längst pensioniert. Wille ist mehr denn je vom Mord überzeugt. Generalstaatsanwalt Rex warnt vor Verschwörungstheorien und Abenteurern, die sich "aus Gründen des Geldverdienens" äußern. Er hat kapituliert. Sein Fazit: "Kein klassischer Mord, kein klassischer Selbstmord."
Hinweis: Falls Sie viel über den eigenen Tod nachdenken oder sich um einen Mitmenschen sorgen, finden Sie hier sofort und anonym Hilfe.
- Heinrich Wille: "Ein Mord, der keiner sein durfte", Rotpunktverlag, Zürich 2011
- Wolfram Baentsch: "Der Doppelmord an Uwe Barschel", Herbig-Verlagsbuchhandlung, München 2006
- Erhard Rex: Stellungnahme 2007
- Frag den Staat: Anfrage an das BKA 2018